Clive77
Serial Watcher
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen spätnachts an einer verschmutzten Theke in einer ebenso verschmutzten Bar, starren gedankenvoll ihr halbleeres Bier an, da setzt sich neben Sie ein Fremder und fordert Wettschulden einer Wette ein, die Sie nie eingegangen sind. Was würden Sie tun?
Wenn Sie diesem Mann ohne zu zögern mit einer kräftigen Ohrfeige von seinem Hocker fegen würden wären sie erstens ein recht rabiater Typ und zweitens auf dem vollkommen richtigen Weg. Das weiß ich, denn rückblickend hätte ich nichts Besseres tun können. Sie haben vermutlich schon erraten, dass ich vor nicht allzu langer Zeit in exakt dieser Situation steckte. Mit einer hübschen Watsche hätte ich mir viel Ärger ersparen können. Vermutlich wäre dem Arschloch dann sein Kumpan, der in einer dunklen Ecke versteckt saß, zu Hilfe gekommen, aber zumindest wäre dann diese hässliche Überraschung erledigt gewesen.
Statt dem Typen also direkt sein hässliches Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, drehte ich mich nur langsam zu ihm um und gab ein möglichst abweisendes „Was willst du?“ von mir.
Der Typ, Anfang 30 (und damit gut zehn Jahre jünger als ich), Rattengesicht und mich noch immer anlächelnd, als hätten wir ein hübsches kleines Geheimnis gemein, flüsterte, als ob irgendeine der anderen verlorenen Gestalten sich auch nur einen Dreck für uns interessierte.
„Zahltag, alter Mann. Die Schulden sind fällig.“
Ich schaute ihn nur müde an und entschloss dann, dass mein warmes Bier doch interessanter war als dieser Geselle. Als ich mich gerade umdrehte und ihm die Schulter zeigte, packte er diese und zog mich zurück. Mein Blick fiel auf ein Messer, das er hervorgezaubert hatte und in seiner nicht schulterpackenden Hand auf unser beider Bauchnabelhöhe hielt. Die Klinge in Richtung meines Bauchnabels, versteht sich.
„Wir zwei gehen mal besser raus“, zischte Rattengesicht und wies mir mit dem Messer die Richtung. Ich erhob mich. Vielleicht war dies der zweite Moment, der sich für eine Klatsche geeignet hätte, aber ich ließ ihn ebenso verstreichen. Ein wenig frische Luft schien mir nicht verkehrt. Und das Messer zitterte stärker, als es mir lieb sein konnte.
Ich kramte einen Geldschein aus der Tasche (was dem Zittern der Messerhand nicht gerade abträglich war), und legte ihn vor mir auf den Tresen. Unsanft bugsierte Rattengesicht mich in Richtung des Hinterausgangs, als ob er befürchtete, nachts um halb zwei vor dem Haupteingang auf eine unangenehm hilfsbereite und kampfsporterfahrene Touristengruppe zu treffen, die ihm in den Kram fahren könnte.
Wir verließen die Kneipe durch die Hintertür, die dabei ein leises Quietschen von sich gab, und gingen hintereinander die fünf Stufen einer kleinen Treppe, die von der Tür führte, hinab. Direkt am Ende der Treppe machte ich einen schnellen Ausfallschritt nach rechts und drehte mich gleichzeitig in Richtung von Rattengesicht, um ihn an seinem ausgestreckten Messerarm zu packen. Er machte ein verblüfftes Gesicht, als ich den Schwung nutze, um ihm aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er übersprang mit meiner Hilfe die letzte Treppenstufe, segelte ein wenig durch die Luft und landete mit einem feuchten Platscher und dem Rücken auf dem regennassen Boden der Gasse. Er gab einen schmerzerfüllten Laut von sich, der jäh in ein Stöhnen überging, als ich mich mit meinem Gewicht auf ihn stützte. Ich brachte mein Gesicht nah an seins.
„Hör zu, du Pfeife. Ich behaupte nicht, niemandem etwas schuldig zu sein, aber ich kenne die Leute, denen ich etwas schulde, und niemand von ihnen würde so eine Flachpfeife wie dich vorschicken. Also quittieren wir das Ganze hier mal als unglückliches Missverständnis und gehen unserer Wege. Wenn du mich verstanden hast, pfeif jetzt nicht Beethovens Neunte!“
Er hatte mich offensichtlich verstanden. Ich war zufrieden. Jedenfalls bis zu dem Moment, an dem mir zwei Dinge auffielen. Zum einen das leise Quietschen in meinem Rücken, das mein Unterbewusstsein erst jetzt schüchtern an mich weitergab. Zum anderen der Blick von Rattengesicht, der nun nicht mehr angsterfüllt mir galt, sondern knapp an meiner Schulter vorbei glitt. Ich hatte nur noch Zeit für ein leises, müdes Seufzen, ehe mich ein schwerer Schlag von hinten ins Reich der Träume schickte.
Als ich wieder erwachte, sah ich kleine Engel vor mir. Sie zogen an mir vorbei, aneinandergereiht, mit kleinen Trompeten im Mund. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass ich in aufrechter Position einen schwach erleuchteten Gang entlang geschleppt wurde und mein Blick dabei auf einen enorm hässlichen Cherubteppich fiel. Ich blinzelte und hob langsam meinen Kopf. Zu meiner linken Seite trug mich Rattengesicht, der hörbar schnaufte. Rechterhand konnte ich das Profil eines stämmigen Kerls mit eher bisonartigen Gesichtszügen bewundern, der deutlich weniger Mühe mit mir zu haben schien. Wir erreichten eine solide Holztür. Bison klopfte, woraufhin ein knappes ‚Ja‘ ertönte. Sie öffneten die Tür und schleppten mich weiter in den Raum.
Ich spürte, wie mit Betreten des Raumes die Anspannung meiner beiden Freunde spürbar wuchs. Es bedurfte gar nicht des monströsen Schreibtischs und des übergroßen Selbstporträts in seinem Rücken um mir zu zeigen, dass der Mann, der hinter eben jenem Schreibtisch saß, der Chef zumindest in diesem Raum, wenn nicht in diesem ganzen Anwesen, war. Ratte und Bison ließen mich in einem der Sessel vor dem Schreibtisch fallen und zogen sich ehrfürchtig zurück.
Irgendetwas an dem Kerl, dem ich nun unfreiwillig gegenübersaß, kam mir bekannt vor. Ich überlegte. Im Grunde war er das Abbild eines schmierigen Geschäftsmanns. Er trug einen braunen Anzug und eine Brille mit dicken Goldgestell, seine schwarzen Haare waren mit reichlich Pomade zurückgekämmt. Er betrachtete mich mit einem süffisanten Lächeln und hatte offensichtlich nicht die Absicht, das Wort zu ergreifen. Bei diesem Lächeln machte es schließlich Klick.
„Theo?! Theo Schneider?“, stieß ich hervor und ärgerte mich gleich über meinen dämlichen Tonfall.
Nun grinste er.
„Das hat ja lange gedauert“, sagte er, „Michael! Schön dich zu sehen!“ Er gab mir nicht die Hand, ich hätte sie aber auch nicht ergriffen. Ich war noch immer perplex. Ich saß Theo Schneider gegenüber. Oder Grinse-Theo, wie wir ihn in der Grundschule immer genannt hatten. Denn daher kannte ich ihn. Aus der verfluchten Grundschule. Danach hatten sich unsere Wege getrennt. Ich glaube, er war mit seiner Familie weggezogen, vielleicht gingen wir aber auch noch immer zur gleichen Schule und ignorierten uns einfach. Wie das eben so läuft. Aber in der Grundschule waren wir Teil einer losen zusammenhängenden Clique gewesen. Grinse-Theo, der immer mit diesem leicht überheblichen Lächeln durch die Welt gelaufen war, also könne er nichts ernst nehmen und würde über alles stehen. Hätte ich damals den Verstand von heute gehabt, wäre mir vermutlich aufgegangen, das er damit nur seine extreme Unsicherheit zu überspielen versuchte, aber damals hielten ich und andere ihn einfach nur für eine dämliche Grinsebacke. Nun saß er hier und hatte einigen Aufwand - wenn man zwei minderbemittelte Schlägertypen als Aufwand bezeichnen wollte – betrieben, um mich auf die andere Seite seines Arbeitstisches zu bringen. Ich fragte mich natürlich, warum. Dann fragte ich ihn, warum.
„Wie immer gleich zur Sache, was?“, erwiderte Theo mit seinem Lächeln, das mir nun einen Tick berechnender erschien, „Aber richtig so. Unser aller Zeichensatz ist schließlich begrenzt. Ich habe dich heute hierher eingeladen, um eine alte Wette aus unserer Schulzeit zu begleichen. Du erinnerst dich vielleicht?“
Ich hatte keinen blassen Schimmer. Theo nahm einen goldenen Kugelschreiber in die Hand und begann, damit zu spielen. Während der folgenden Erklärung schweifte sein Blick gedankenverloren dahin ab.
„Du Glücklicher. Manch einem täte ein schlechteres Gedächtnis auch sehr gut. Ich erinnere mich ziemlich gut an diesen einen Tag. Es war in der zweiten großen Pause. Wir hingen wie üblich nahe der Schaukeln ab, prügelten uns ein bisschen, spielten Fangen, der übliche Quatsch eben. Du wirst ja wohl nicht komplett vergessen haben, wie man als Kind so war. Auf jeden Fall hatten wir damals dieses dämliche Ding mit den Wetten am Laufen. Du weißt schon, diese Wetten, dass man in einem gewissen Zeitabstand irgendwas mit dem anderen machte, was der im optimalen Fall schon vergessen hatte. Und dann machte man das zu dem entsprechenden Zeitpunkt und freute sich einen Ast über den verdutzten Gesichtsausdruck des anderen. Sowas wie ‚Wetten, dass ich dir morgen in der zweiten Pause einen Schlag auf den Kopf gebe?‘ oder ‚Wetten, dass ich in zwei Tagen so wie jetzt neben dir sitze und dich voll erschrecke?‘ Das wirst du wohl noch wissen, oder?“
Ich erinnerte mich tatsächlich allmählich. Die Phase war kurz gewesen, aber vom Grunde her erstaunlich wenig infantil. Auch wenn sie irgendwann aus dem Ruder gelaufen war. Irgendein Gedankenfetzen begann bei diesem Gedanken ganz lästig, an mein Unterbewusstsein zu klopfen.
„Naturgemäß“ fuhr Theo fort, „wurde das Spiel immer absurder. Irgendwann war jeder mit den Abläufen vertraut und die Wettvorschläge und Zeitvorgaben wurden immer abgehobener. Ich denke, selbst für uns neunmalkluge Knirpse war abzusehen, dass der Zenit bald überschritten sein würde. Es fehlte nur noch der letzte Schubser, um das Spiel zu beerdigen. Und der kam, da bin ich ganz bescheiden, von mir. In der erwähnten zweiten Pause bei den Schaukeln. Wir waren zu viert oder fünft, da kam ich mit dieser letzten, alles überbietenden, Wette. Sie galt dir.“
Er musterte mich einen Moment.
Wenn Sie diesem Mann ohne zu zögern mit einer kräftigen Ohrfeige von seinem Hocker fegen würden wären sie erstens ein recht rabiater Typ und zweitens auf dem vollkommen richtigen Weg. Das weiß ich, denn rückblickend hätte ich nichts Besseres tun können. Sie haben vermutlich schon erraten, dass ich vor nicht allzu langer Zeit in exakt dieser Situation steckte. Mit einer hübschen Watsche hätte ich mir viel Ärger ersparen können. Vermutlich wäre dem Arschloch dann sein Kumpan, der in einer dunklen Ecke versteckt saß, zu Hilfe gekommen, aber zumindest wäre dann diese hässliche Überraschung erledigt gewesen.
Statt dem Typen also direkt sein hässliches Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, drehte ich mich nur langsam zu ihm um und gab ein möglichst abweisendes „Was willst du?“ von mir.
Der Typ, Anfang 30 (und damit gut zehn Jahre jünger als ich), Rattengesicht und mich noch immer anlächelnd, als hätten wir ein hübsches kleines Geheimnis gemein, flüsterte, als ob irgendeine der anderen verlorenen Gestalten sich auch nur einen Dreck für uns interessierte.
„Zahltag, alter Mann. Die Schulden sind fällig.“
Ich schaute ihn nur müde an und entschloss dann, dass mein warmes Bier doch interessanter war als dieser Geselle. Als ich mich gerade umdrehte und ihm die Schulter zeigte, packte er diese und zog mich zurück. Mein Blick fiel auf ein Messer, das er hervorgezaubert hatte und in seiner nicht schulterpackenden Hand auf unser beider Bauchnabelhöhe hielt. Die Klinge in Richtung meines Bauchnabels, versteht sich.
„Wir zwei gehen mal besser raus“, zischte Rattengesicht und wies mir mit dem Messer die Richtung. Ich erhob mich. Vielleicht war dies der zweite Moment, der sich für eine Klatsche geeignet hätte, aber ich ließ ihn ebenso verstreichen. Ein wenig frische Luft schien mir nicht verkehrt. Und das Messer zitterte stärker, als es mir lieb sein konnte.
Ich kramte einen Geldschein aus der Tasche (was dem Zittern der Messerhand nicht gerade abträglich war), und legte ihn vor mir auf den Tresen. Unsanft bugsierte Rattengesicht mich in Richtung des Hinterausgangs, als ob er befürchtete, nachts um halb zwei vor dem Haupteingang auf eine unangenehm hilfsbereite und kampfsporterfahrene Touristengruppe zu treffen, die ihm in den Kram fahren könnte.
Wir verließen die Kneipe durch die Hintertür, die dabei ein leises Quietschen von sich gab, und gingen hintereinander die fünf Stufen einer kleinen Treppe, die von der Tür führte, hinab. Direkt am Ende der Treppe machte ich einen schnellen Ausfallschritt nach rechts und drehte mich gleichzeitig in Richtung von Rattengesicht, um ihn an seinem ausgestreckten Messerarm zu packen. Er machte ein verblüfftes Gesicht, als ich den Schwung nutze, um ihm aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er übersprang mit meiner Hilfe die letzte Treppenstufe, segelte ein wenig durch die Luft und landete mit einem feuchten Platscher und dem Rücken auf dem regennassen Boden der Gasse. Er gab einen schmerzerfüllten Laut von sich, der jäh in ein Stöhnen überging, als ich mich mit meinem Gewicht auf ihn stützte. Ich brachte mein Gesicht nah an seins.
„Hör zu, du Pfeife. Ich behaupte nicht, niemandem etwas schuldig zu sein, aber ich kenne die Leute, denen ich etwas schulde, und niemand von ihnen würde so eine Flachpfeife wie dich vorschicken. Also quittieren wir das Ganze hier mal als unglückliches Missverständnis und gehen unserer Wege. Wenn du mich verstanden hast, pfeif jetzt nicht Beethovens Neunte!“
Er hatte mich offensichtlich verstanden. Ich war zufrieden. Jedenfalls bis zu dem Moment, an dem mir zwei Dinge auffielen. Zum einen das leise Quietschen in meinem Rücken, das mein Unterbewusstsein erst jetzt schüchtern an mich weitergab. Zum anderen der Blick von Rattengesicht, der nun nicht mehr angsterfüllt mir galt, sondern knapp an meiner Schulter vorbei glitt. Ich hatte nur noch Zeit für ein leises, müdes Seufzen, ehe mich ein schwerer Schlag von hinten ins Reich der Träume schickte.
Als ich wieder erwachte, sah ich kleine Engel vor mir. Sie zogen an mir vorbei, aneinandergereiht, mit kleinen Trompeten im Mund. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass ich in aufrechter Position einen schwach erleuchteten Gang entlang geschleppt wurde und mein Blick dabei auf einen enorm hässlichen Cherubteppich fiel. Ich blinzelte und hob langsam meinen Kopf. Zu meiner linken Seite trug mich Rattengesicht, der hörbar schnaufte. Rechterhand konnte ich das Profil eines stämmigen Kerls mit eher bisonartigen Gesichtszügen bewundern, der deutlich weniger Mühe mit mir zu haben schien. Wir erreichten eine solide Holztür. Bison klopfte, woraufhin ein knappes ‚Ja‘ ertönte. Sie öffneten die Tür und schleppten mich weiter in den Raum.
Ich spürte, wie mit Betreten des Raumes die Anspannung meiner beiden Freunde spürbar wuchs. Es bedurfte gar nicht des monströsen Schreibtischs und des übergroßen Selbstporträts in seinem Rücken um mir zu zeigen, dass der Mann, der hinter eben jenem Schreibtisch saß, der Chef zumindest in diesem Raum, wenn nicht in diesem ganzen Anwesen, war. Ratte und Bison ließen mich in einem der Sessel vor dem Schreibtisch fallen und zogen sich ehrfürchtig zurück.
Irgendetwas an dem Kerl, dem ich nun unfreiwillig gegenübersaß, kam mir bekannt vor. Ich überlegte. Im Grunde war er das Abbild eines schmierigen Geschäftsmanns. Er trug einen braunen Anzug und eine Brille mit dicken Goldgestell, seine schwarzen Haare waren mit reichlich Pomade zurückgekämmt. Er betrachtete mich mit einem süffisanten Lächeln und hatte offensichtlich nicht die Absicht, das Wort zu ergreifen. Bei diesem Lächeln machte es schließlich Klick.
„Theo?! Theo Schneider?“, stieß ich hervor und ärgerte mich gleich über meinen dämlichen Tonfall.
Nun grinste er.
„Das hat ja lange gedauert“, sagte er, „Michael! Schön dich zu sehen!“ Er gab mir nicht die Hand, ich hätte sie aber auch nicht ergriffen. Ich war noch immer perplex. Ich saß Theo Schneider gegenüber. Oder Grinse-Theo, wie wir ihn in der Grundschule immer genannt hatten. Denn daher kannte ich ihn. Aus der verfluchten Grundschule. Danach hatten sich unsere Wege getrennt. Ich glaube, er war mit seiner Familie weggezogen, vielleicht gingen wir aber auch noch immer zur gleichen Schule und ignorierten uns einfach. Wie das eben so läuft. Aber in der Grundschule waren wir Teil einer losen zusammenhängenden Clique gewesen. Grinse-Theo, der immer mit diesem leicht überheblichen Lächeln durch die Welt gelaufen war, also könne er nichts ernst nehmen und würde über alles stehen. Hätte ich damals den Verstand von heute gehabt, wäre mir vermutlich aufgegangen, das er damit nur seine extreme Unsicherheit zu überspielen versuchte, aber damals hielten ich und andere ihn einfach nur für eine dämliche Grinsebacke. Nun saß er hier und hatte einigen Aufwand - wenn man zwei minderbemittelte Schlägertypen als Aufwand bezeichnen wollte – betrieben, um mich auf die andere Seite seines Arbeitstisches zu bringen. Ich fragte mich natürlich, warum. Dann fragte ich ihn, warum.
„Wie immer gleich zur Sache, was?“, erwiderte Theo mit seinem Lächeln, das mir nun einen Tick berechnender erschien, „Aber richtig so. Unser aller Zeichensatz ist schließlich begrenzt. Ich habe dich heute hierher eingeladen, um eine alte Wette aus unserer Schulzeit zu begleichen. Du erinnerst dich vielleicht?“
Ich hatte keinen blassen Schimmer. Theo nahm einen goldenen Kugelschreiber in die Hand und begann, damit zu spielen. Während der folgenden Erklärung schweifte sein Blick gedankenverloren dahin ab.
„Du Glücklicher. Manch einem täte ein schlechteres Gedächtnis auch sehr gut. Ich erinnere mich ziemlich gut an diesen einen Tag. Es war in der zweiten großen Pause. Wir hingen wie üblich nahe der Schaukeln ab, prügelten uns ein bisschen, spielten Fangen, der übliche Quatsch eben. Du wirst ja wohl nicht komplett vergessen haben, wie man als Kind so war. Auf jeden Fall hatten wir damals dieses dämliche Ding mit den Wetten am Laufen. Du weißt schon, diese Wetten, dass man in einem gewissen Zeitabstand irgendwas mit dem anderen machte, was der im optimalen Fall schon vergessen hatte. Und dann machte man das zu dem entsprechenden Zeitpunkt und freute sich einen Ast über den verdutzten Gesichtsausdruck des anderen. Sowas wie ‚Wetten, dass ich dir morgen in der zweiten Pause einen Schlag auf den Kopf gebe?‘ oder ‚Wetten, dass ich in zwei Tagen so wie jetzt neben dir sitze und dich voll erschrecke?‘ Das wirst du wohl noch wissen, oder?“
Ich erinnerte mich tatsächlich allmählich. Die Phase war kurz gewesen, aber vom Grunde her erstaunlich wenig infantil. Auch wenn sie irgendwann aus dem Ruder gelaufen war. Irgendein Gedankenfetzen begann bei diesem Gedanken ganz lästig, an mein Unterbewusstsein zu klopfen.
„Naturgemäß“ fuhr Theo fort, „wurde das Spiel immer absurder. Irgendwann war jeder mit den Abläufen vertraut und die Wettvorschläge und Zeitvorgaben wurden immer abgehobener. Ich denke, selbst für uns neunmalkluge Knirpse war abzusehen, dass der Zenit bald überschritten sein würde. Es fehlte nur noch der letzte Schubser, um das Spiel zu beerdigen. Und der kam, da bin ich ganz bescheiden, von mir. In der erwähnten zweiten Pause bei den Schaukeln. Wir waren zu viert oder fünft, da kam ich mit dieser letzten, alles überbietenden, Wette. Sie galt dir.“
Er musterte mich einen Moment.