Tyler Durden schrieb:
Ich weiß ja nicht, was du beim Lesen einer Mordszene empfindest, aber ich finde das nicht so "faszinierend" (was bei dir schon fast nach "geil" klingt) und ich finde es nicht richtig, so etwas den Lesern zu unterstellen
.
Moment, die Implikation unterstellst du mir hier aber gerade. Ich schrieb "faszinierend"; schon bewusst an Spock angelehnt, der ungewöhnliche Lebewesen und Ereignisse erstmal distanziert und neutral als Wissenschaftler interessant zu beobachten findet. Nehmen wir nur mal als Beispiel die Beobachtung einer Löwenjagd.
- du kannst das Jagd- und Laufverhalten der Tiere faszinierend finden
- du kannst abfällig auf das Primitive beider Wesen herabblicken
- du kannst neutral verstehen, dass der Löwe halt nicht die Option hat, aus Mitgefühl nur noch Tundragras zu essen
- du kannst auf die Evolution der Großkatzen zurückblicken und dich drüber wundern, wie Löwen wohl in 500.000 Jahren aussehen
- oder ob es sie überhaupt in 100 Jahren noch geben wird
- du kannst es als spannend empfinden, ob die Beute aus ihrer Gefahrensituation entkommen kann
- du kannst es ebenso als spannend empfinden, ob der hungrige Löwe, der bei jeder Jagd Energie investiert, von der er nicht unendlich hat, Erfolg hat
- du kannst das Großkatzenverhalten mit deinen eigenen Erfahrungen mit Hauskatzen vergleichen
- du kannst dir vorstellen, wie es wohl wäre, in so einer Situation eine Antilope fangen zu müssen um zu überleben
- du kannst dir vorstellen, wie es wohl wäre, in so einer Situation einem Löwen entkommen zu müssen
usw. Da gibts viele Gründe, wieso man sich mit so einer Situation befassen können will, und ich glaube sich am Leid zu ergötzen oder schlimmer noch betrifft nur verschwindend gering wenige (mich schon mal gar nicht!). Da kann man nun wirklich nicht jedem Discovery Channel Zuschauer vorwerfen, sich ausschließlich aus moralisch fragwürdigen Gründen mit sowas auseinandersetzen zu wollen.
Natürlich hat auch das Grenzen. Wer sich ausschließlich Best Animal Kills Compilations auf Youtube reinzieht, ist ebenso nischenseltsam wie Gorehounds, die sich nur Splatterfilme reinziehen oder nur Splatterliteratur lesen.
Tyler Durden schrieb:
Es gibt zwar wirklich welche, die sowas "voll geil" finden und am liebsten Bücher lesen, die möglichst viel Blut und möglichst wenig Story enthalten. Aber so sind bei weitem nicht alle.
Wie unseren einen Studentenkollegen da
Ich verstehs nicht, vor allem nicht, wenn man sich auf sowas versteift. Aber so gehts mir mir vielen Dingen. Ich verstehe zb nicht, wie man sein Leben lang nur eine bestimmte Richtung Musik hören kann (sei es Brüllmetall oder Deutsch Hiphop), aber wer damit glücklich ist, soll das - sofern dadurch keinem geschadet wird - ruhig leben. Und wenns ein Faible für Romane mit Zwergenmisshandlungen ist.
Eine Bekannte hat mir mal im Flirt offenbart, dass sie von mumifizierten Leichen erregt wird. Fand ich kurios und aus uns wurd dann nichts, aber wenn sie danach jemanden gefunden hat, der das ganz ähnlich sieht, cool für beide. Man kann ja ruhig seltsam sein, umso besser sogar zusammen, aber man muss immer damit rechnen, dass andere das eventuell nicht ähnlich sehen.
Tyler Durden schrieb:
Die Sachbücher über reale Mordfälle und Serienkiller (nennt sich True Crime) sind meines Wissens gar nicht so unbeliebt.
Aber nicht so beliebt wie fiktive Literatur.
Tyler Durden schrieb:
Aber jetzt im Ernst: ich glaube, dass solche Bücher die Leser nur kurzfristig "glücklich" machen, auf lange Sicht aber eher das Gegenteil bewirken. Während des Lesens tauchen sie in diese traumhafte Welt ein, wo das größte Problem eine Entscheidung zwischen zwei Verehrern ist und alles so gerecht ist, dass die Fieslinge immer ihre Strafe bekommen und die Guten am Ende belohnt werden. Dann legen sie das Buch weg und werden wieder mit der Realität konfrontiert, die danach nur enttäuschen kann.
Ich seh das eher so wie Mestizo. Ich glaube, die Leute, die sich zu intensiv in Film- / Buch- / Gamegeschichten begeben und außerhalb Probleme haben, haben so schon ein dringend zu therapierendes Problem. Bücher sollen bereichern und angenehmer Eskapismus sein. Wer aber wortwörtlich hinein flüchtet und den Kontrast zur Realität nicht erträgt, ist schon jenseits aller Autorenintentionen. Glaub nicht, dass irgendein Autor will, dass das passiert. Fasziniert sein, Fan sein, ja.
Klar, kann das Beschäftigen mit sowas gut tun. Mal 2h Zocken und die drohenden Prüfungen vergessen. Ins Kino gehen und mal den Beziehungsstreit vergessen. Mal nen Becher Ben & Jerrys allein verdrücken und sich mal kurz gut fühlen. Das ist aber denke ich ganz normal und in Ordnung. Ich glaube, dass es erst zum Problem wird, und immer nur auf Leserseite, wenn man psychische Probleme entwickelt und man sich dann an den Stoff klammert. Egal ob Lesestoff oder Klebstoff.
Tyler Durden schrieb:
Wenn sie immer nur Bücher darüber lesen, wie schön die Welt sein könnte, werden ihre Ansprüche und Erwartungen an das Leben unrealistisch hoch, was zu Enttäuschungen und Depressionen führt.
Ich würde dir entfernt Recht geben. Wenn 12jährige Mädchen immer nur Frauen wie Kim Kardashian, Heidi Klum und diverse Playmates und Topmodels sehen, sind das tatsächlich unrealistische Vorbilder mit fragwürdigen Einflüssen, die zu Enttäuschungen und Depressionen führen können. Aber auf Romane bezogen? Glaub nicht, dass es viele psychisch normale Leute gibt, die Liebesromane lesen und anschließend unerreichbare Wunschfantasien hegen.
Tyler Durden schrieb:
Wenn ein Buch zum Beispiel auf eine realistische Weise die Kinderprostitution oder blutige Diamanten thematisiert, dann ist die bittere Wahrheit natürlich nicht, dass es der fiktiven Figur X widerfahren ist, sondern dass diese Missstände tatsächlich existieren. In einem Liebesroman wird sowas selten thematisiert, weil es die schöne Illusion nur stören würde.
Und, ist das verwerflich?
Oder sagen wir so: wenn ich als Leser eine schöne Liebesgeschichte lesen will, mit witzigem Verlieben und leidenschaftlicher Beziehung, wie sollte man solche Gefühl in einer aufrüttelnden Story über Kinderprostitution und Blutdiamanten unterbringen?
Tyler Durden schrieb:
Mit "verdrängen oder verarbeiten" meinte ich: will man sich der Illusion einer gerechten, schönen Welt hingeben, oder will man mit den unschönen Dingen konfrontiert werden?
Ich denke, das sollte jedem selbst überlassen sein, wann er was will. Und wenn er eins davon ausschließt, ist das vielleicht schade, aber letztendlich jedem seine Sache.
Außerdem gibt es nicht bloß eine illusorische gerechte Welt und unschöne Wahrheit. Ich kann ja nur für mich sprechen, aber in meinem Leben gibt es Spaß, Liebe, Freude, aufregende, unvergessliche positive Erlebnisse. Nicht nonstop, aber auch wenn gewisse Eckdaten vieler Liebesgeschichten (beide haben die perfekten Jobs, müssen nie aufräumen, haben riesige Wohnungen, sehen beide aus wie Models) stilisierte Extreme sind - wie in vielen Geschichten - sind die grundlegenden Kernelemente: intressante Leute kennenlernen, Spaß mit ihnen zu haben, sie ggfs zu begehren und ihnen näher zu kommen nichts irreal Illusorisches. Das ist also eigentlich weit weniger fake als die meisten Stephen King Romane, weil wir alle eher nie mit Rasenmähermonstern, Cyborgbären oder Spinnenclowns zu tun haben, aber durchaus mal verliebt waren.
Ist nicht gerade The Dark Tower weit größere Illusion als ein Fifty Shades of Grey? Mit S&M hatte ich persönlich nichts am Hut, aber da lieben sich zwei. Das ist mir näher und nachvollziehbarer als eine multi-dimensionale Sci-Fi-Western-Horrorstory. Beides Eskapismus. Keins davon schadet, beides legitim.