Joel.Barish schrieb:
Wirklich objektiv kann ich bei dieser Diskussion nicht sein, da ich (Film-)Musicals liebe(!!!), aber ich würde mich Shins und Gonzo anschließen und noch hinzufügen, dass ich eine grundsätzliche mangelnde Flexibilität des Zuschauers vermute. Eine mangelnde Flexibilität entweder bzgl. abweichender Filmformen oder diverser Musikstile. Ich befürchte, das hat auch häufig mit Image Fragen zu tun. Insbesondere klassische Hollywood Musicals der 40er, 50er und 60er bieten ja logischerweise musikalisch nichts für Freunde moderner Musikarten wie Rock, Rap oder Metal. Noch dazu sind alte Hollywood Musicals in 8 von 10 Fällen Romanzen in ihrer Musik entsprechend emotional gefärbt. So wie regelmäßig gegen Romantik-Plots in Superheldenfilmen gewettert wird, hat auch diese "altmodische" Musik mit den "rührseligen" und/oder "kitschigen" Liedinhalten einen schweren Stand bei vielen Leuten.
Ich finde das sehr bedauerlich, denn nicht nur lässt man sich so viele tolle Filme entgehen, diese anti-romantische Haltung aus Image-Gründen macht sich auch außerhalb von Filmen oder vom allgemeinen Medienkonsum bemerkbar. Film und Musik sind die ultimativen Emotionstrigger, aber genau das wird recht häufig ausgeblendet oder verweigert. Nicht ohne Grund ist ja u.a. im englischen Sprachraum seit ein paar Jahren der Ausdruck "(right in) the feels" im Umlauf. Indem wir einen Ausdruck benutzen, der unsere emotionale Regung beschreibt, distanzieren wir uns von den tatsächlich gefühlten Emotionen. Das klingt vielleicht wie Off Topic und Abschweifung, aber ich sehe definitiv einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung von Film-Musicals und der forcierten Entemotionalisierung im Sozialen.
So geht das nicht.
Aber der Reihe nach:
"Film und Musik sind die ultimativen Emotionstrigger", schreibst du. Dergleichen wird nun aber, deiner Meinung nach, recht häufig ausgeblendet.
Diese Ansicht ist mir viel zu pauschalisierend und stimmt in dieser Form schlicht nicht. Wir hatten vor nicht allzu langer Zeit über Ähnliches gesprochen - leider weiß ich gerade nicht mehr, in welchem Thread dies war - und dort hast du sinngemäß etwas geschrieben wie: "Filme sind
immer Manipulation. Dergleichen muss man wohl doch kaum betonen."
Ich sehe das entschieden anders.
Plumpes triggern von Emotionen hat niemals etwas mit bedeutender Kunst zu tun. Niemals. Wie kann man sich dieses plumpe triggern nun vorstellen?
Nun ja, z. B. durch rührselige Popsongs, die in zentralen Szenen einer RomCom gespielt werden. Oder aber ein Actionfilm, in welchem die Schurken als das abgrundtief Böse - ohne jegliche Schattierungen - dargestellt werden, so dass man als Zuschauer dahingehend manipuliert wird auszuschreien:
"Bring die Schweine um die Ecke!".
Oder aber, wenn in einem Familiendrama das bald sterbende Kind als unglaublich niedlich, süß, bedauernswert, aufrichtig, kurz: vollkommen dargestellt wird, so dass viele Zuschauer einfach weinen müssen, wenn es am Ende, begleitet von melancholischen Piano-Klängen oder einem rührseligen Popsong, aus dem Leben scheidet.
Zur Verdeutlichung: Ich verwahre mich zwar gegen eine Ansicht, die vertritt, dass jedwedes plumpe triggern, manipulieren, mit einem missratenen Werk einhergeht. Es gibt nicht wenige Filme, die darauf zurückgreifen, die ich durchaus schätze. E.T. oder Disneys DIE SCHÖNE UND DAS BIEST seien an dieser Stelle exemplarisch genannt, wiewohl es noch viele andere gibt. Dennoch wäre ich immer sehr zurückhaltend, wenn es darum ginge, einem Film jener Machart zu attestieren, er sei
bedeutende Kunst.
Denn
bedeutende Kunst, so wie ich sie verstehe, zeichnet sich gerade nicht dadurch aus, dass sie manipuliert (ob nun plump oder weniger plump). Stattdessen zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie oftmals nicht wertend an einen Gegenstand herantritt und dem Leser oder Zuschauer viel Freiraum für eine eigene Bewertung des Sachverhalts zugesteht. Dergleichen wird erreicht durch Schattierungen, durch ein Zurücknehmen des Schöpfers, durch Auslassungen. Kurz: Dadurch, dass man manche Dinge einfach ohne erhobenen Zeigefinger oder Moralkeule zeigt und die Bewertung den Rezipienten überlassen wird. Bedeutendes Erzählen - sei es literarisch oder filmisch - heißt m. E. zuallererst
zeigen. Schon das ist eine schwierige Sache, soviel muss man sich deutlich machen. Denn oftmals hat man es mit einer
Behauptungsprosa - oder dem filmischen Analogon - zu tun.
"Filme und Musik", schreibst du, "sind die ultimativen Emotionstrigger". Die Literatur lässt du - aus guten Gründen wie mir scheint - aus deiner Liste heraus. Mit guten Gründen sollte man allerdings auch auf
Film in dieser Auflistung verzichten. Zu pauschal, zu wenig differenziert, scheint dies zu sein.
In Kunst - so beispielsweise meine Definition - legt man als Rezipient immer etwas hinein.
Dieses Etwas, welches man hineinlegt ist
Bedeutung. Ich lade ein Kunstwerk mit Bedeutung auf, da dies der Kunst inhärent zu sein scheint. Das Werk selbst sollte m. E. immer einer werkimmanenten Analyse unterzogen werden (damit positioniere ich mich klar gegen sog.
Intentionalisten, denen es wichtig ist, was Autor X oder Regisseur Y über sein eigenes Werk zu sagen hat), da es stets eine Eigendynamik entfaltet.
Und aus diesem Grund sind auch oft gehörte Einwände gegen ungewöhnliche Interpretationsansätze wie etwa
"Du überinterpretierst das Werk doch. Glaubst du wirklich, dass dies der Schöpfer alles bedacht hat?" völlig Fehl am Platze. Gleichwohl, dies will ich nicht verschweigen, scheint es schon zu sein, dass es gelungene und weniger gelungene Interpretationsangebote geben kann. Dergleichen ist aber freilich eine Binse.
Weiterhin schreibst du, dass du eine "anti-romantische Haltung aus Image-Gründen" bei vielen Menschen vermutetst, die beispielsweise Musicalfilme ablehnen, bzw. mit eben diesen schlicht nichts anfangen können.
Es ist niemals ratsam sich von der Sache - von dem Gegenstandsbereich über den man sich unterhält - abzuweichen und auf höchstpersönliche Ferndiagnosen zurückzugreifen, um das eigene - freilich persönliche gefärbte - Unverständnis darüber, dass andere dasjengie, was man selbst so sehr schätzt, ablehnen, für sich selbst besser einornden, besser begreiflich machen zu können.
Der
Western ist für mich, wie für dich der
Musicalfilm, beispielsweise auch kein wirkliches Genre. Dennoch habe ich mehrere Bekannte, die alles was für sie im Verdacht steht,
Western zu sein, ablehnen. Dergleichen ist zu akzeptieren, da natürlich. Man kann nicht immer offen sein für alles, vielleicht sollte man es auch gar nicht. Das Leben ist kurz (auch wenn T. S. Eliot anderer Meinung ist) und man muss bzgl. seiner freien Zeit gewichten, worauf man sich einlassen möchte oder zu was man sich einen Zugang erarbeiten möchte. Man setzt Prioritäten.
Zum Thema Musicals:
An mir wird LA LA LAND vorbeigehen.
Ich werde mir dieses Werk nicht ansehen. Warum? Es interessiert mich schlicht nicht. Musicals in toto - man gestatte mir nun eine Zuspitzung - waren für mich immer der geistig leicht zurückgebliebene Bruder der Oper.
An einem Zugang zur Oper - der mir noch immer nicht gänzlich gelungen ist, obwohl ich seit ein paar Jahren versuche, ihn mir zu erarbeiten - bin ich hingegen sehr interessiert.
Auf Musicals - in all ihren Variationen -, da bin ich sicher, werde ich in meinem Leben verzichten können, ohne das mein eigenes Leben dadurch ärmer werden wird. Bei der Oper bin ich - bezogen auf mein eigenes Leben - anderer Meinung. Deswegen arbeite ich daran.
In meiner Jugend habe ich vier Musicals live gesehen und die filmhistorische Bedeutung eines Werkes wie DU SOLLST MEIN GLÜCKSSTERN sehe ich freilich. Disneys DIE SCHÖNE UND DAS BIEST mag ich sogar, ja. Aber sicher ist dies auch teilweise mit Nostalgie zu erklären.
Aber die Auseinandersetzung mit Musicals - in all ihren Formen - brachte mir doch generell rein gar nichts. Sie inspirierte mich nicht, gab mir keine interessanten Gedanken mit auf den Weg, eröffente mir keine neuen Fühlformen und, was schlimm wiegt, sie amüsierte mich nicht.
LA LA LAND, ich verzichte.
Auf Grund meiner anti-romantischen Haltung aus Image-Gründen werde ich nun die Bahn mit zwei Gedichtbänden - eines von Rilke, das andere von Properz - besteigen und meiner Beschränktheit freien Lauf lassen.