Clive77
Serial Watcher
„Nur weil ein Mensch nichts Böses tut, muss er noch lange kein guter Mensch sein.“, nuschelte Tana vor sich her, während sie auf ihrem Himmelbett lag und tief in einem Buch über die Gesetze Aristolias versunken war.
„Tolle Begrüßung zu meiner Rückkehr, liebste Schwester. 90 Tage lang haben wir uns nicht gesehen. Ich habe mich so sehr auf diesen Umzug gefreut. Es ist ja ok, dass du mich nicht einmal herzlich begrüßt, aber wenn ich mir anhören muss, wie du dich hier gehen lässt, mach ich mir große…“
„Was soll dies bedeuten? Ich lasse mich gehen? Ist es wegen Gnagg?“, unterbrach Tana ihren Bruder.
„Ganz genau. Treibst du es etwas mit diesem Wilden?“ Gon pausierte kurz, ehe er mit schriller Stimme wildgestikulierend umhersprang. „Gnagg! Gnagg! Gnagg! Gnagg! Das ist doch kein Name! Wie klingt das eigentlich?“, rief Gon lachend. Er entledigte sich seiner verschmutzten alten Jeanshose sowie seines löchrigen Kapuzenpullovers und schlüpfte in eine frische, weiße Toga.
Tana schlug ihr Buch zu.
„Achja, GON? Dein Name klingt ja um einiges ästhetischer!“, erwiderte sie, ehe sie wieder in ihren Gedanken versank.
„Haha. Sehr witzig! Frau Oberzynikerin!“
Gon ging auf seine Schwester zu, legte sich neben ihr ins Bett und umarmte sie von der Seite.
„Hey. Ich mach‘ mir doch nur Sorgen. Alle meinen, dass du beim letzten Mal nur ganz knapp hier bleiben durftest. Dich trennen nur noch wenige Dignapunkte von dem Land der Lücke. Und glaub‘ mir, ich weiß wie hart es da ist. Eigentlich warst du doch immer die würdigste Person, die hier lebt.“ Gon schaute ihr tief in die Augen. Er wirkte besorgt. „Und jetzt? Schau‘ dich doch bitte einmal an! Du rauchst und trinkst Alkohol. Das gibt Abzüge in der ersten Säule, gesunde Ernährung.“
„Du musst mir nicht die sechs großen Säulen und unser Punktesystem erklären. Ich kenne sie zu Genüge! Aber dir ist schon bewusst, dass diese Säule aus den Komponenten gesunde Ernährung UND umweltfreundliche Nachhaltigkeit besteht und ich die Leiterin aller 14 Baumschulen in ganz Aristolia bin? Es könnte also vielleicht wieder reichen.“
Gon küsste ihre Stirn.
„Gewiss und ich bin doch stolz auf meine große Schwester, die als einzige Person in ganz Aristolia seit der Gründung vor acht…“
„Du meinst neun!“
„Ja genau,… die als einzige Person seit der Gründung vor NEUN Jahren immer würdig genug war, um hier die Privilegien unserer Reiches auszukosten. Hey, du bist die einzige, die so perfekt ist, so etwas zu schaffen und die sich dann auch noch so ein doofes Datum merken kann!“
Gon sprang auf und begab sich wieder in seinen Bereich des Zimmers.
„Perfektion? Das Wort ist ein Oxymoron! Nichts ist perfekt solange es einen Menschen in der Nähe gibt. Das ist das Problem an Aristolia!“
„Kann sein… Boah sind die lecker! Hm. Sensationell!“, schmatzte Gon, als er seine geliebten Kaubonbons aß, die er in einer Schublade wiedergefunden hatte. „Tschuldigung, dass ich das Thema wechsele, aber du weißt nicht wie ich diese Dinger vermisst habe! HIMBEER! Die beste Geschmacksrichtung von allen Süßigkeiten. Ein bisschen zäh, aber genial diese Teile.“
„Ich habe seit deinem Umzug natürlich nichts entwendet, was dir gehört. Auch nicht deine geliebten Bonbons. Schließlich wäre das gegen das Gesetz. Dies würde ich bei niemandem machen.“
„Siehst du! Du kennst die Regeln doch noch!“ Gon klatschte provokativ. „Vorbildlich! Ich hätte, ganz ehrlich gesagt, bestimmt eines von dir genascht, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre.“, sagte Gon mit einem Augenzwinkern.
„Aber eine Sache müsste ich dir der Korrektheit halber noch mitteilen.“, sagte Tana.
„Was denn?“, fragte Gon während er dem Rascheln der Kaubonbonverpackung lauschte. „Das ist wie Musik in meinen Ohren. Das habe ich im Land der Lücke am meisten vermisst!“
„Ich…Ich habe während deiner Abwesenheit den Platz in deinem Bett verschenkt.“, offenbarte Tana beiläufig und beobachtete wie kurz danach das Kaubonbon aus Gons Mund direkt auf den Boden fiel.
„Dein Ernst? An Gnagg? An diesen wilden, stinkenden Typen verschenkst du mein Bett? Weißt du, dass sie alle sagen, dass dieser Barbar aus der Wüste seinen Vater getötet haben soll und in dessen Gedärmen in kalten Nächten übernachtet hat, nur um zu überleben!“
„Du glaubst diesen Unsinn? Dies sind Ammenmärchen. Die Leute haben, auch im ach so perfekten Aristolia, Angst vor dem Fremden. Nur offen zeigen dürfen sie es nicht, weil sie sonst keine Dignapunkte erhaschen.“ Tana wirkte nachdenklich. „Und apropos stinken, ich wüsste nicht, dass er unangenehmer riecht als du!“
„Tana, pass bloß auf! Du weißt, dass Lono von Schnauff zu einem der neuen Wächter gelost wurde und ich weiß, dass er dich besonders gründlich überprüfen wird. Wenn du absteigst, dann wäre er mit dir gleichgezogen! Das ist sein großes Ziel!“
„Aha!“, sagte Tana desinteressiert.
„Außerdem meinen auch viele andere, dass du dem Druck nicht mehr Stand halten kannst und beginnst, Fehler zu machen!“
„Wie meinst du das?“
„Naja, du kannst nicht mehr erreichen, als nie in das Land der Lücke geschickt worden zu sein. Du kannst nicht perfekter werden! Das demotiviert doch, oder?“
„Perfekt. Perfekt. Perfekt. Ich kann dieses Wort nicht mehr hören!“
Tana stand auf und ging auf Gon zu. „Hier lies das!“, mit voller Wucht drückte sie ihm das Buch über die Gründung Aristolias in die Hand.
„Die Gründer schreiben darin, dass das Leben zyklisch ist. ZYKLISCH!? Verstehst du?! Ein Mensch kann gut handeln oder schlecht handeln. Handelt er schlecht, dann kommt er in das Land der Lücke. Handelt er gut, kann er wieder nach Aristolia aufsteigen! Von Perfektion steht dort NICHTS geschrieben! Auf das Gute folgt das Böse! So ist der Kreislauf, nur dass man hier aus Fehlern lernen soll.“
„Verarsch mich nicht! Ich kenne die Regeln! Aber deine Rolle als Großphilosophin nervt nur n…“
„...ergo ist es vollkommen legitim, dass auch ich absteige!“, fuhr Tana mit lauter Stimme fort.
„Ist ja gut! Dann steigst du halt ab! Und egal was passiert. Ich passe auf dich auf, auch im Land der Lücke.“
Tana senkte ihren Blick.
„Vielleicht überzeugt dich das Argument, dass deine sogenannten Wilden gar nicht so barbarisch sind, wie du denkst. Erstens haben es viele von ihnen schon geschafft hierzubleiben und zweitens haben sie lediglich die Befürchtung, dass das Land der Lücke bald zu klein für alle Menschen wird. Dann entscheiden nur noch Nuancen wer hier bleibt, aber keine wahren Werte mehr. Das ist doch kein Sport!“ Gon schaute sie schweigend an. „Wer weiß? Vielleicht reicht es ja dennoch, um hier zu bleiben! In den Säulen Sport, Intelligenz und soziales Engagement hatte ich bis jetzt immer die volle Punktzahl. Damit kann man eine Kategorie ausgleichen. Und die Tests in Sport und Intelligenz liefen heute früh ganz gut.“, fuhr Tana fort.
„Aber was ist mit Säule fünf? Höflichkeit und Freundlichkeit? Ich weiß, dass Lono es auf dich abgesehen hat.“
„Die Leute meiden mich mehr und mehr, nur weil ich denke, dass das System nicht mehr geeignet ist, um alle Menschen, die hier leben wollen, glücklich zu machen. Leider ist auch mir noch keine Lösung eingefallen. Das nagt an mir!“
„Vergiss bitte auch nicht die letzte Säule. Ein Verstoß gegen diese Gebote und du landest auch vor Ablauf der 90 Tage im Land der Lücke und zwar im dortigen Kerker. Dann nützen dir deine Dignapunkte auch nichts. Und das ist kein Zuckerschlecken dort.
„Als ob ich irgendjemanden verletzen, töten, belügen, bestehlen, bedrohen oder erpressen würde.“
„Ich meine ja nur! Das ist dort nicht wie hier, mit all deinen Privilegien. Du hast dort keine kleine Villa aus Marmor mit drei Zimmern in der nur mit fünf anderen Menschen wohnst, keinen Garten, kein fließend Wasser, keine drei Mahlzeiten am Tag, keinen Strom, keinen Internetzugang oder Bäume. Die Landschaft dort besteht aus einem Meer von Blechhütten. Ein Pritsche für acht Menschen pro Hütte! Und der Kerker ist noch krasser!
„Verständlich.“, sagte Tana etwas desinteressiert.
„Aber der Hunger ist am schlimmsten. Hier ist das Paradies! Und die Wächter dort sind nämlich viel strenger als hier. Erst recht nach dem ganzen Ansturm aus der Wüste auf unser Reich.“
„Ich weiß. Aber mach dir keine Sorgen. Noch habe ich Zeit, Punkte zu sammeln. Ich benötige lediglich 46 von 90 pro Säule und schon bleibe ich hier!“, sagte Tana.
„Hier schon! Aber wenn du einmal im Land der Lücke bist, brauchst du mehr. Die neuen Wächter stimmen heute darüber ab, weil es im gesamten Reich immer voller wird. Und obwohl sie sogar zuerst hier leben dürfen, steigen die meisten Wilden wieder ab. Nicht jeder soll wieder aufsteigen können. Ab morgen brauchen wir dann vermutlich 80 Dignapunkte. Mir haben vergangene Woche noch 75 gereicht!“
„Siehst du?!“
„Was sehe ich?“
„Dass dieses zyklische Lebenssystem einfach nicht mehr funktioniert. Hier steht geschrieben, dass wir uns selber immer hinterfragen müssen, ob wir noch das Richtige tun! Säule drei: Intelligenz und Aufgeklärtheit.“ Tana entriss Gon das Buch und schlug die Seite auf.
„Hier! Dritter Absatz: Der aufgeklärte Bürger Aristolias hinterfragt Tag für Tag sein Tun und Handeln und ist dazu befähigt in besonderen Situationen als Ultima Ratio alle Gesetze mit Ausnahme die der sechsten Säule zu ändern, sollte ihn das Gefühl beschleichen, dass das Prinzip Aristolias nicht mehr den Anforderungen der aktuellen Zeit entspricht.“
Gon schaute irritiert.
„ Öhm… Von was für einer Ausnahmesituation sprichst du? Noch gab es keine Todesfälle im Land der Lücke. Die Kerker sind spärlich gefüllt. Es ist dort halt ein bisschen voller, weil die Wilden fauler sind. Aber es herrscht dort noch kein Sodom und Gomorra.“
„Das sind dennoch keine Zustände mehr. Gnagg und seine Freunde denken das übrigens auch!“
„Tolle Begrüßung zu meiner Rückkehr, liebste Schwester. 90 Tage lang haben wir uns nicht gesehen. Ich habe mich so sehr auf diesen Umzug gefreut. Es ist ja ok, dass du mich nicht einmal herzlich begrüßt, aber wenn ich mir anhören muss, wie du dich hier gehen lässt, mach ich mir große…“
„Was soll dies bedeuten? Ich lasse mich gehen? Ist es wegen Gnagg?“, unterbrach Tana ihren Bruder.
„Ganz genau. Treibst du es etwas mit diesem Wilden?“ Gon pausierte kurz, ehe er mit schriller Stimme wildgestikulierend umhersprang. „Gnagg! Gnagg! Gnagg! Gnagg! Das ist doch kein Name! Wie klingt das eigentlich?“, rief Gon lachend. Er entledigte sich seiner verschmutzten alten Jeanshose sowie seines löchrigen Kapuzenpullovers und schlüpfte in eine frische, weiße Toga.
Tana schlug ihr Buch zu.
„Achja, GON? Dein Name klingt ja um einiges ästhetischer!“, erwiderte sie, ehe sie wieder in ihren Gedanken versank.
„Haha. Sehr witzig! Frau Oberzynikerin!“
Gon ging auf seine Schwester zu, legte sich neben ihr ins Bett und umarmte sie von der Seite.
„Hey. Ich mach‘ mir doch nur Sorgen. Alle meinen, dass du beim letzten Mal nur ganz knapp hier bleiben durftest. Dich trennen nur noch wenige Dignapunkte von dem Land der Lücke. Und glaub‘ mir, ich weiß wie hart es da ist. Eigentlich warst du doch immer die würdigste Person, die hier lebt.“ Gon schaute ihr tief in die Augen. Er wirkte besorgt. „Und jetzt? Schau‘ dich doch bitte einmal an! Du rauchst und trinkst Alkohol. Das gibt Abzüge in der ersten Säule, gesunde Ernährung.“
„Du musst mir nicht die sechs großen Säulen und unser Punktesystem erklären. Ich kenne sie zu Genüge! Aber dir ist schon bewusst, dass diese Säule aus den Komponenten gesunde Ernährung UND umweltfreundliche Nachhaltigkeit besteht und ich die Leiterin aller 14 Baumschulen in ganz Aristolia bin? Es könnte also vielleicht wieder reichen.“
Gon küsste ihre Stirn.
„Gewiss und ich bin doch stolz auf meine große Schwester, die als einzige Person in ganz Aristolia seit der Gründung vor acht…“
„Du meinst neun!“
„Ja genau,… die als einzige Person seit der Gründung vor NEUN Jahren immer würdig genug war, um hier die Privilegien unserer Reiches auszukosten. Hey, du bist die einzige, die so perfekt ist, so etwas zu schaffen und die sich dann auch noch so ein doofes Datum merken kann!“
Gon sprang auf und begab sich wieder in seinen Bereich des Zimmers.
„Perfektion? Das Wort ist ein Oxymoron! Nichts ist perfekt solange es einen Menschen in der Nähe gibt. Das ist das Problem an Aristolia!“
„Kann sein… Boah sind die lecker! Hm. Sensationell!“, schmatzte Gon, als er seine geliebten Kaubonbons aß, die er in einer Schublade wiedergefunden hatte. „Tschuldigung, dass ich das Thema wechsele, aber du weißt nicht wie ich diese Dinger vermisst habe! HIMBEER! Die beste Geschmacksrichtung von allen Süßigkeiten. Ein bisschen zäh, aber genial diese Teile.“
„Ich habe seit deinem Umzug natürlich nichts entwendet, was dir gehört. Auch nicht deine geliebten Bonbons. Schließlich wäre das gegen das Gesetz. Dies würde ich bei niemandem machen.“
„Siehst du! Du kennst die Regeln doch noch!“ Gon klatschte provokativ. „Vorbildlich! Ich hätte, ganz ehrlich gesagt, bestimmt eines von dir genascht, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre.“, sagte Gon mit einem Augenzwinkern.
„Aber eine Sache müsste ich dir der Korrektheit halber noch mitteilen.“, sagte Tana.
„Was denn?“, fragte Gon während er dem Rascheln der Kaubonbonverpackung lauschte. „Das ist wie Musik in meinen Ohren. Das habe ich im Land der Lücke am meisten vermisst!“
„Ich…Ich habe während deiner Abwesenheit den Platz in deinem Bett verschenkt.“, offenbarte Tana beiläufig und beobachtete wie kurz danach das Kaubonbon aus Gons Mund direkt auf den Boden fiel.
„Dein Ernst? An Gnagg? An diesen wilden, stinkenden Typen verschenkst du mein Bett? Weißt du, dass sie alle sagen, dass dieser Barbar aus der Wüste seinen Vater getötet haben soll und in dessen Gedärmen in kalten Nächten übernachtet hat, nur um zu überleben!“
„Du glaubst diesen Unsinn? Dies sind Ammenmärchen. Die Leute haben, auch im ach so perfekten Aristolia, Angst vor dem Fremden. Nur offen zeigen dürfen sie es nicht, weil sie sonst keine Dignapunkte erhaschen.“ Tana wirkte nachdenklich. „Und apropos stinken, ich wüsste nicht, dass er unangenehmer riecht als du!“
„Tana, pass bloß auf! Du weißt, dass Lono von Schnauff zu einem der neuen Wächter gelost wurde und ich weiß, dass er dich besonders gründlich überprüfen wird. Wenn du absteigst, dann wäre er mit dir gleichgezogen! Das ist sein großes Ziel!“
„Aha!“, sagte Tana desinteressiert.
„Außerdem meinen auch viele andere, dass du dem Druck nicht mehr Stand halten kannst und beginnst, Fehler zu machen!“
„Wie meinst du das?“
„Naja, du kannst nicht mehr erreichen, als nie in das Land der Lücke geschickt worden zu sein. Du kannst nicht perfekter werden! Das demotiviert doch, oder?“
„Perfekt. Perfekt. Perfekt. Ich kann dieses Wort nicht mehr hören!“
Tana stand auf und ging auf Gon zu. „Hier lies das!“, mit voller Wucht drückte sie ihm das Buch über die Gründung Aristolias in die Hand.
„Die Gründer schreiben darin, dass das Leben zyklisch ist. ZYKLISCH!? Verstehst du?! Ein Mensch kann gut handeln oder schlecht handeln. Handelt er schlecht, dann kommt er in das Land der Lücke. Handelt er gut, kann er wieder nach Aristolia aufsteigen! Von Perfektion steht dort NICHTS geschrieben! Auf das Gute folgt das Böse! So ist der Kreislauf, nur dass man hier aus Fehlern lernen soll.“
„Verarsch mich nicht! Ich kenne die Regeln! Aber deine Rolle als Großphilosophin nervt nur n…“
„...ergo ist es vollkommen legitim, dass auch ich absteige!“, fuhr Tana mit lauter Stimme fort.
„Ist ja gut! Dann steigst du halt ab! Und egal was passiert. Ich passe auf dich auf, auch im Land der Lücke.“
Tana senkte ihren Blick.
„Vielleicht überzeugt dich das Argument, dass deine sogenannten Wilden gar nicht so barbarisch sind, wie du denkst. Erstens haben es viele von ihnen schon geschafft hierzubleiben und zweitens haben sie lediglich die Befürchtung, dass das Land der Lücke bald zu klein für alle Menschen wird. Dann entscheiden nur noch Nuancen wer hier bleibt, aber keine wahren Werte mehr. Das ist doch kein Sport!“ Gon schaute sie schweigend an. „Wer weiß? Vielleicht reicht es ja dennoch, um hier zu bleiben! In den Säulen Sport, Intelligenz und soziales Engagement hatte ich bis jetzt immer die volle Punktzahl. Damit kann man eine Kategorie ausgleichen. Und die Tests in Sport und Intelligenz liefen heute früh ganz gut.“, fuhr Tana fort.
„Aber was ist mit Säule fünf? Höflichkeit und Freundlichkeit? Ich weiß, dass Lono es auf dich abgesehen hat.“
„Die Leute meiden mich mehr und mehr, nur weil ich denke, dass das System nicht mehr geeignet ist, um alle Menschen, die hier leben wollen, glücklich zu machen. Leider ist auch mir noch keine Lösung eingefallen. Das nagt an mir!“
„Vergiss bitte auch nicht die letzte Säule. Ein Verstoß gegen diese Gebote und du landest auch vor Ablauf der 90 Tage im Land der Lücke und zwar im dortigen Kerker. Dann nützen dir deine Dignapunkte auch nichts. Und das ist kein Zuckerschlecken dort.
„Als ob ich irgendjemanden verletzen, töten, belügen, bestehlen, bedrohen oder erpressen würde.“
„Ich meine ja nur! Das ist dort nicht wie hier, mit all deinen Privilegien. Du hast dort keine kleine Villa aus Marmor mit drei Zimmern in der nur mit fünf anderen Menschen wohnst, keinen Garten, kein fließend Wasser, keine drei Mahlzeiten am Tag, keinen Strom, keinen Internetzugang oder Bäume. Die Landschaft dort besteht aus einem Meer von Blechhütten. Ein Pritsche für acht Menschen pro Hütte! Und der Kerker ist noch krasser!
„Verständlich.“, sagte Tana etwas desinteressiert.
„Aber der Hunger ist am schlimmsten. Hier ist das Paradies! Und die Wächter dort sind nämlich viel strenger als hier. Erst recht nach dem ganzen Ansturm aus der Wüste auf unser Reich.“
„Ich weiß. Aber mach dir keine Sorgen. Noch habe ich Zeit, Punkte zu sammeln. Ich benötige lediglich 46 von 90 pro Säule und schon bleibe ich hier!“, sagte Tana.
„Hier schon! Aber wenn du einmal im Land der Lücke bist, brauchst du mehr. Die neuen Wächter stimmen heute darüber ab, weil es im gesamten Reich immer voller wird. Und obwohl sie sogar zuerst hier leben dürfen, steigen die meisten Wilden wieder ab. Nicht jeder soll wieder aufsteigen können. Ab morgen brauchen wir dann vermutlich 80 Dignapunkte. Mir haben vergangene Woche noch 75 gereicht!“
„Siehst du?!“
„Was sehe ich?“
„Dass dieses zyklische Lebenssystem einfach nicht mehr funktioniert. Hier steht geschrieben, dass wir uns selber immer hinterfragen müssen, ob wir noch das Richtige tun! Säule drei: Intelligenz und Aufgeklärtheit.“ Tana entriss Gon das Buch und schlug die Seite auf.
„Hier! Dritter Absatz: Der aufgeklärte Bürger Aristolias hinterfragt Tag für Tag sein Tun und Handeln und ist dazu befähigt in besonderen Situationen als Ultima Ratio alle Gesetze mit Ausnahme die der sechsten Säule zu ändern, sollte ihn das Gefühl beschleichen, dass das Prinzip Aristolias nicht mehr den Anforderungen der aktuellen Zeit entspricht.“
Gon schaute irritiert.
„ Öhm… Von was für einer Ausnahmesituation sprichst du? Noch gab es keine Todesfälle im Land der Lücke. Die Kerker sind spärlich gefüllt. Es ist dort halt ein bisschen voller, weil die Wilden fauler sind. Aber es herrscht dort noch kein Sodom und Gomorra.“
„Das sind dennoch keine Zustände mehr. Gnagg und seine Freunde denken das übrigens auch!“