Sicher, UNDER THE SKIN ist unkonventionell. Aber ich möchte visionär nicht nur im Sinne von "ambitioniert", sondern tatsächliche im Sinne von "zukunftsweisend" verstanden wissen.
Stiglegger sagt übrigens selbst in einem anderen Statement, dass "[d]er Film [...] eines der zukunftsweisenden Werke der jüngeren Filmgeschichte [ist]." Ich möchte dergleichen jetzt übrigens nicht als unfruchtbares argumentum ad verecundiam ins Feld führen. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass es vor kurzem bereits zwei wissenschaftliche Konferenzen zu UNDER THE SKIN gab und überdies auch ein Buch erscheinen wird, welches im Zuge der Konferenzen angeregt wurde. Und ich bin mir sehr sicher, ohne jetzt den wichtigtuerischen Insider spielen zu wollen, dass auf die zukunftsweisenden, respektive visionären Qualitäten des Werks in mindestens einem Aufsatz eingegangen wird.
Aber zurück zur Sache: Warum koppelst du "Absicht" an "visonär"? Ein visionäres Werk, muss doch nicht in der Absicht entstanden sein, visionär zu sein. Auch glaube ich nicht, dass ein Werk von Format, wie UNDER THE SKIN, gezielt ungewöhnlich inszeniert wurde. Kann so sein, muss es aber nicht. Dergleichen ist sogar, meine ich, eher die Ausnahme denn die Regel. Aber dsbzgl. muss ich wohl anmerken, dass ich im Bereich der Künste kein Intentionalist bin. Die Worte des Regisseurs, seine etwaigen Intentionen oder Interpretationsangebote sind für mich grundsätzlich nicht von Belang, da das Werk für sich alleine steht, eine Eigendynamik entwickelt und sogar klüger sein kann als sein Schöpfer, wie Georg Seeßlen es einst geistrich formulierte.
UNDER THE SKIN ist m. E. ein Film, der auf der inhaltlichen Ebene - im engeren Sinne des Wortes - nicht allzu gut funktioniert. Stattdessen funktionert er als affektives Kino, also auf der emotionalen Ebene geradezu vorzüglich. Das dem Film inhärente Rauschhafte und seine streng durchkomponierten audiovisuellen Qualitäten entfachen eine Sogwirkung, die ich in ihrer Gesamtkonzeption als visionär bezeichnen würde. Der Film versetzte mich in eine schwer zu beschreibende Stimmung und er kommunzierte auf der audiovisuellen Ebene mit mir, indem er mir Eindrücke schenkte und erleben ließ, für die es wahrscheinlich keine passenden Worte gibt. Gibt es ähnliches oder vergleichbares? Sicher! Aber jenes Vergleichbare wurde von Glazer mit UNDER THE SKIN in die perfectio überführt, was das Gesamterlebnis für mich zu etwas Neuartigem werden lässt.
Es spielt dafür überhaupt keine Rolle, ob ein paar andere Filme einen ähnlichen Effekt auslösen können oder nicht. Visonäres kann auch gleichzeitig an vielen verschiedenen Orten geschaffen werden. Mir geht es eher um die Marschrichtung, die das Werk vorgibt. Etwas ist eben m. E. nicht nur dann visonär, wenn es die Gesamtheit des Kinos (welch unglaublicher Anspruch!) erneuert.
Um eine Metapher zu bemühen, die meinen Punkt deutlich macht:
Es geht heutzutage - in so ziemlich allen Bereichen - nicht mehr darum, das Rad neu zu erfinden. Heutzutage besteht das Zukunftsweisende darin, eine Möglichkeit zu präsentieren, die dafür sorgt, dass sich das Rad schneller dreht.
Glazer hat mit seiner Erzählweise die Kunstform bereichert und durch seine Gesamtkomposition dafür gesorgt, dass sich das Rad ein wenig schneller dreht. Auch eine Nuancenverbesserung oder Nuancenerweiterung kann m. E. visionär sein. Ist heutzutage wahrscheinlich sogar das einzig Machbare (und gleichsam etwas, dass Ehrfurcht auslöst), da das Rad (wohl) nicht neu erfunden wird und wahrscheinlich muss das auch gar nicht geschehen.
UNDER THE SKIN bietet eine neue Perspektive des Erzählens an. Es geht nicht darum, dass dem nun alle anderen Filme folgen müssen. Vielleicht wird UNDER THE SKIN auch gar keine Wirkmächtigkeit entfalten. Dergleichen spielt für meine Auffassung von visionär gar keine Rolle.
Verstörend/verfüherisch:
Von Falschheit kann an dieser stelle tatsächlich nicht gesprochen werden. Dergleichen wäre dann wirklich falsch. Die Auseinandersetzung mit Kunst ist stets auch ein affektives Erlebnis. Kunst kann man nicht völlig durchrationalisieren. Aus diesem Grunde wäre es verfehlt mit sprachphilosophischen oder sprachlogischen Finessen zu argumentieren. Die Rezeption eines Kunstwerks ist nicht gerade selten dadurch ausgezeichnet, dass man sich mit Widersprüchen konfrontiert sieht, da Kunst diese Widersprüchlichkeit eben auszulösen vermag. Es ist nur folgerichtig, dass sich diese Widersprüche schlussendlich auch in den begrenzten Worten, die wir als Menschen zur Verfügung haben, um unsere Eindrücke zu präzisieren und zu kommunizieren, manifestieren, die wir niederschreiben.