Story XLII - Das Fest des Immerwährenden

Clive77

Serial Watcher
Es war späte Nacht, als Toran mit seinem zwölfjährigen Sohn Bort durch den Wald in Richtung Meer eilte. Das Mondlicht wies ihnen den Weg, sodass sie sich ihrem Ziel mit schnellen Schritten näherten. Toran hielt seinen Sohn an der Hand und legte ein rasches Tempo vor, das Bort nur mit Mühe halten konnte. Schließlich lichtete sich der Wald vor ihnen und sie betraten den schmalen, steinigen Uferabschnitt, der die Bäume von dem vor ihnen liegenden Weiten Meer trennte. Das Mondlicht spiegelte sich im Wasser, das leichte Wellen gegen den Strandabschnitt warf. Zu beiden Seiten des etwa 50 Meter langen Strandes erstreckten sich die Bäume des Waldes deutlich weiter bis an den Wasserrand, sodass sich eine natürliche Bucht bildete, die vollkommen von Wald und Wasser umschlossen war.

Mit langsameren Schritten gingen Toran und Bort über den steinigen Untergrund. Sie betraten die etwa zwei Meter breite Landzunge, die vor ihnen in das Wasser stieß und dabei kontinuierlich anstieg, sodass sich eine Art Rampe bildete. Schwach erinnerte Toran sich, wie er vor sehr langer Zeit als Kind vom Rand dieses Vorstoßes unter lauten Jubelrufen ins etwa drei Meter tiefer gelegene Wasser gesprungen war. Obwohl die Landzunge seit vielen Jahrhunderten ein Ort heiliger Rituale und feierlicher Zeremonien war, hatte Toran keinen Zweifel, dass auch Bort schon etliche Male heimlich mit seinen vier Freunden (denn mehr Kinder in seinem Alter existierten im Dorf nicht) hier geplanscht hatte. Nun ging er, seinen Sohn noch immer an der Hand, langsam den Anstieg hinauf. Er spürte, wie Bort langsamer wurde, und blickte ihn aufmunternd an.
„Na komm, ein paar Schritte noch.“
„Warum sind wir hier, Papa?“, fragte Bort, der seinen Vater zunächst aufgeregt auf dem nächtlichen Spaziergang begleitet hatte, nun aber deutlich unsicherer erschien. Er hatte gespürt, dass seit einigen Tagen Unruhe im Dorf herrschte und sein Vater sehr angespannt gewesen war. Nebeneinander setzen sie sich nun an den Rand der Landzunge und blickten einen Moment schweigend auf die weite Wasserfläche.
„Du kennst diesen Ort hier, nicht wahr?“, fragte Toran seinen Sohn nach einer Weile, ohne auf dessen Frage nach dem Grund ihres Ausflugs einzugehen. Bort zögerte.
„Ich…also…eigentlich nicht…“, stammelte er.
„Schon gut“, unterbrach sein Vater ihn mit einem leichten Schmunzeln, „Ich weiß doch, dass ihr Kinder hier ab und zu herumalbert. Das meine ich nicht. Du weißt, wofür dieser Ort eigentlich vorgesehen ist, oder?“
„Klar!“ erwiderte Bort.
„Wofür?“
„Zum Fest des Immerwährenden!“
„Richtig.“ Toran schaute einen Moment gedankenverloren ins Weite. „Das Fest des Immerwährenden“, wiederholte er dann. „Erzähl mal, was sie euch in der Lehrgruppe so darüber erzählen!“

Bort richtete sich ein wenig auf und begann, die offensichtlich auswendig gelernten Worte zu rezitieren.
„Das Fest des Immerwährenden findet zu jedem 30. Geburtstag eines Bewohners des Dorfes statt. Gefeiert wird sein vollendetes Heranwachsen und sein ewiges Leben, das durch das Fest des Immerwährenden gewährt wird. Dazu steigt der Gefeierte zum Ende des Fests in das Weite Meer und wird durch ein traditionelles Ritual von der Last des Alterns entledigt.“
Toran lauschte den Worten seines Sohnes, wobei seine Gedanken zurück an sein eigenes Fest wanderten. Es war nun schon über 140 Jahre her. Er hatte seitdem an unzähligen weiteren der Rituale für andere Ausgewachsene teilgenommen, aber natürlich war ihm die Perspektive seines ersten Festes, bei dem er im Mittelpunkt gestanden hatte, in Erinnerung geblieben. Wie er dort unten im schultertiefen, empfindlich kalten Gewässer gestanden hatte, während über ihm thronend einer der Dorfführer die heiligen Worte gesprochen hatte. Alle Mitglieder der Gemeinschaft hatten am Ufer gestanden, doch am Ende hatte er nur noch sich, die Kälte des Wassers und die Worte des Sprechenden wahrgenommen. Und schließlich hatte er gespürt, wie das Wasser um ihn herum ihn mit ungeahnter Vitalität erfüllte. Später erzählte man ihm, dass er vor Wonne laut geschrien hatte. Er war als neuer Mensch aus dem Wasser gestiegen.

„Papa?“, riss ihn sein Sohn aus seinen Gedanken.
„Hm?“
„Warum sind wir denn nun hier? Ist heute wieder ein Fest? Darf ich dabei sein?“
Toran betrachtete seinen Sohn liebevoll.
„Ja, Bort. Du wirst dabei sein. Es wird das letzte Fest sein. Und es wird deins sein!“
Fragend blickte Bort seinem Vater ins Gesicht.
„Aber…ich bin doch noch gar nicht vollkommen, oder?“
„Du bist so vollkommen, wie du sein musst, mein Sohn“, sagte Toran und legte Bort sanft einen Arm um die Schultern. „Und du wirst es für immer bleiben!“ Er stockte kurz und überlegte sich seine folgenden Worte.
„Du hast doch sich mitbekommen, dass wir Ausgewachsenen uns vor kurzem versammelt haben? Lass mich dir kurz davon erzählen! Dann wirst du verstehen, warum wir heute hier sind.“ Und so schilderte Toran seinem Sohn den Grund ihres Hierseins.

Der alte Mann war vor zehn Tagen mit einem klapprigen Boot, das nur durch einige sehr notdürftige Reparaturen vom Zusammenbruch bewahrt wurde, vom Weiten Meer aus am Dorf angekommen. Drei der jüngeren Ausgewachsenen hatten ihn reglos am Strand entdeckt und zum Heiler gebracht. Die folgenden Tage sah niemand außer dem Heiler und den Anführern etwas von dem Mann, doch die grausigen Gerüchte verbreiteten sich schnell im ganzen Dorf. Jeder redete auf die drei, die ihn gefunden hatten, ein und wollte mehr über die verkommene, dem Verfall preisgegebene Gestalt erfahren. Auch Toran lauschte den Erzählungen mit einem faszinierten Entsetzen, achtete aber stets darauf, seinen Sohn davon zu verschonen. Schließlich stellten sich alle noch so bildhaften Schilderungen als untertrieben heraus, als Toran zusammen mit allen anderen ausgewachsenen Dorfbewohner bei der vor zwei Tagen herbeigerufenen Versammlung den alten Mann leibhaftig vor eigenen Augen sah.
Die eingefallene Gestalt war in der Mitte der vier Dorfführer hinter dem Rednertisch platziert worden. Neben den vier vollkommenen und vor Lebenskraft strotzenden Männern und Frauen wirkte der Mann noch erbärmlicher. Die weißen Haare, die sich büschelweise und zerschlissen über den runzligen Kopf des Mannes verteilten, verdeckten nur unzureichend seine ungesund wirkende und mit dunklen Flecken übersäte Kopfhaut. Die Augen des Mannes bildeten zwei winzige, schwarze Punkte. Die knollenartige Nase warf einen tiefen Schatten auf den zittrigen Mund, dessen Lippen trocken und verhärmt wirkten. Auch die Arme, mit denen sich der Mann auf dem Tisch vor ihm abstützte, zitterten unentwegt vor sich hin, ohne dass der Mann es zu kontrollieren vermochte. Toran konnte den Blick kaum von dieser jämmerlichen Gestalt abwenden. Er merkte, dass es seinen Mitbürgern genauso ging. Nach einer kurzen Einleitung von einem der Anführer gab dieser das Wort an den alten Mann weiter. Er nuschelte und sprach sehr leise, immer wieder unterbrochen von kurzen Hustenanfällen, doch aufgrund der Totenstille in der Versammlungshalle und der Schwere seiner Worte konnten ihn alle gut verstehen.

„Ich habe eine weite Reise hinter mir. Vor vielen Monaten habe ich mich von meinen Freunden und meiner Familie verabschiedet, ohne zu wissen, wohin mich mein Weg führen würde. Ich danke dem Schicksal, dass es mich hierher gebracht hat. Dass ich nun zu Ihnen allen sprechen kann, um um Gnade für mein Volk zu bitten.
Von den netten Menschen, die mich nach meiner langen Reise so gesund gepflegt haben, wie es ihnen möglich war, weiß ich von dem heiligen Ritual dieses Dorfes. Das Fest des Immerwährenden.“
Toran meinte, in den letzten Worten des Mannes leichten Abscheu zu spüren. Noch wusste er nicht, worauf diese Ansprache hinauslaufen würde, doch er fand den Mann zunehmend abstoßender und wünschte, er würde schnell zum Ende kommen.
„Ihr könnt mir glauben“, fuhr der Greis fort, „dass ich mir mit dem mit höchstem Interesse angehört habe, was es mit diesem Fest auf sich hat. Glaubt mir, wenn ich euch sage, dass ich euch alle zutiefst beneide. Gar nicht so sehr um euer ewiges Leben und der anhaltenden Gesundheit. Vielmehr darum, dass euch bisher nicht bewusst war, zu welchem Preis ihr eure Lebenskraft gewonnen habt. Ich glaube euren Führern, wenn sie mir sagen, dass ihr die Vitalität, die euch das Wasser schenkt, bisher als ein Geschenk höherer Mächte angesehen habt. Doch, und ich erbete mir nun eure vollste Aufmerksamkeit, es handelt sich dabei nicht um ein Geschenk. Nicht im Mindesten. Es ist Diebstahl!“
Der alte Mann ließ seine Worte einen Moment wirken. Toran warf einen kurzen Blick auf die Führer an seiner Seite, die mit beinahe ausdruckslosem Gesicht die Menge musterten. Warum brachten sie diesen Mann nicht einfach zum Schweigen? Doch sie ließen ihn ungehindert weitersprechen.
„Es ist Diebstahl“, wiederholte er. „Was euch gegeben wird, wird meinem Volk genommen! Seht mich an! 27 Jahre lebe ich nun auf dieser Welt. Mein 30. Lebensjahr, mit dem ihr euch wohl erst als ‚vollkommen‘ bezeichnet würdet, werde ich nicht mehr erleben. Genau wie meine Frau, meine Kinder und mein gesamtes Volk! Wir alle leiden unter diesem Fluch, der über uns gekommen ist. Aus alten Aufzeichnungen wissen wir, dass es nicht so sein muss. Dass auch wir ein fruchtbares, langes Leben führen könnten. Aber es ist das Wasser. Wir brauchen es wie jeder andere, doch gleichzeitig stiehlt es uns unsere Lebenskraft. Ihr stehlt sie uns, wie ich nun weiß. Deswegen…“.
Mit Mühe erhob sich der Mann von seinem Sitz und richtete sich auf.
„…stehe ich nun vor euch und habe eine Bitte: Beendet dieses scheußliche Ritual! Habt Gnade mit meinem Volk und beendet sein Leid!“
 

Clive77

Serial Watcher
Für einige Sekunden, die ihn sichtbar Kraft kosteten, hielt der Mann aufrecht stehend seinen festen Blick auf die versammelten Menschen gerichtet. Dann ließ er sich keuchend auf seinen Sitz zurückfallen. Sein heftiges Atmen, während er sich langsam erholte, war das einzige Geräusch im weiten Zelt. Alle Anwesenden saßen mit leerem Blick auf ihren Stühlen und versuchten, das Gehörte zu verstehen. Allein die vier Anführer, die die Geschichte des Mannes sicher schon seit einigen Tagen kannten, blickten aufmerksam in die Runde als versuchten sie, die herrschende Stimmung zu deuten. Noch bevor einer von ihnen schließlich das Wort erhob, ahnte Toran bereits, worauf dessen Ausführungen hinauslaufen würden. Seine Gedanken überschlugen sich, während der Anführer die Schilderungen des alten Mannes in sachlichen Worten wiederholte und mit knappen Worten, die keinerlei Emotionalität erkennen ließen, die daraus notwendigen Schlüsse schilderten. Schließlich endete der Anführer mit den Worten, die Toran befürchtet hatte: Eine Abstimmung, reduziert auf eine einfache Frage: Sollte das Dorf weiterhin das Fest des Immerwährenden praktizieren, um den nachfolgenden Generationen ein ewiges Leben zu ermöglichen? Auf Kosten anderer Menschen, denen auf diese Weise die Lebenskraft entzogen würde?
Entsetzt blickte Toran sich um, während der Anführer diesen Vorschlag vortrug. Er sah einige seine Mitmenschen mit Tränen in den Augen, die den Worten folgten und beinahe unmerklich nickten. Er sah Mitgefühl und Trauer. Aber wo war der Zorn, die Angst? Als der Anführer seine Rede schließlich mit der Ankündigung der Abstimmung und der Einladung zur Diskussion beendete, hielt es Toran nicht länger aus. Er schnellte aus seinem Sitz.
„Das könnt ihr nicht ernsthaft in Erwägung ziehen!“, rief er. „Wisst ihr überhaupt, was das bedeutet?“
„Toran“, sprach einer der Anführer, sanft, „Beruhige dich! Wir wissen…“
„Gar nichts wisst ihr!“, unterbrach Toran ihn verzweifelt und wandte sich direkt an die Anführer, „Ihr habt keine jungen Kinder mehr! Eure Kinder sind längs vollkommen! Aber was ist mit meinem Kind? Mit den vier anderen?“ Er blickte sich kurz um und wandte sich an einen drei Reihen vor ihm sitzenden Mann. „Germ, deine Tochter ist in Borts Alter! Willst du wirklich erleben, wie sie die Vollkommenheit erreicht, nur um danach vor deinen Augen zu verfallen? Einzugehen, wie … wie dieses Ding da!“ Mit ausgestrecktem Arm wies er auf den alten Mann, der ihn abschätzig musterte.
„Wir können das Fest nicht unterbinden! Nicht, solange wir noch Kinder unter uns haben! Das müsst ihr doch verstehen!“
Er wartete kurz und hoffte auf Beistand. Doch auch wenn er die Zweifel in Germs Augen sah, kam ihm dieser nicht zu Hilfe. Auch von den anderen Eltern mit jugendlichen Kindern war nichts zu hören. Doch selbst wenn sich diese mit ihm wehrten, erkannte Toran verbittert, würde dies doch nichts ändern. Sie waren in der Minderheit. Gerade einmal fünf Jugendliche hatten die Vollkommenheit nicht erreicht. Dem Gegenüber saßen um ihn herum über 400 Ausgewachsene, die das Fest des Immerwährenden schon lange hinter sich hatten, genau wie ihre Kinder und Kindeskinder. Und nun saß dort dieser Schatten eines Menschen und appellierte an ihr Mitgefühl, um Menschen zu retten, denen sie ihr Leben lang nie begegnet waren.
„Bitte“, wandte er sich flehentlich direkt an die Anführer, „Lasst uns wenigstens noch die Kinder durchbringen. Ein paar Jahre noch, ein paar letzte Feste, dann ist es vorbei!“
Einer der Führer richtete sich auf.
„Toran, wir verstehen deinen Schmerz. Aber auf diese Weise wird es nie vorbei sein. Wie könnten wir das Fest mit dem Wissen, das wir nun haben, feiern? Wie könnten wir das Vollkommensein eines einzelnen Menschen zelebrieren, wenn dadurch Dutzende anderen um ihre Lebenszeit gebracht würden? Wir müssen akzeptieren und mit der Bürde leben, dass wir uns unsere Vitalität zu einem hohen Preis erkauft haben. Aber das muss ein Ende haben.
Setz dich bitte! Wenn es keine weiteren Beiträge gibt, werden wir jetzt abstimmen.“
Die Abstimmung war kurz und endete mit einem klaren Votum für die Beendigung des Festes. Schweigend und mit innerlichem Gram hörte Toran sich an, wie der Entschluss gefasst wurde, die heilige Stelle des Rituals unter Anwesenheit des alten Mannes für alle Zeiten unzugänglich zu machen.

„Und deswegen müssen wir dein Fest heute abhalten“, beendete Toran seine Ausführungen. Noch immer saß er mit seinem Sohn am Rand der Landzunge. Bort hatte seinen Worten aufmerksam gelauscht. Nun wartete Toran auf eine Reaktion, doch der Junge starrte nur stumm auf das Wasser.
„Also“, sagte Toran und erhob sich, „Zieh dir einfach dein Oberteil aus und geh runter ins Wasser. Ich spreche dann die heiligen Worte und Ruckzuck ist es vorbei. Und wir werden für immer zusammen sein, wie es sich gehört. Bort?“
Er betrachtete seinen Sohn ungeduldig von oben herab. Noch immer rührte der sich nicht.
„Bort!“, rief er, schärfer als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Langsam wandte sein Sohn den Blick vom Meer ab und schaute zu seinem Vater hinauf.
„Ich glaube, ich will das nicht, Papa!“
„Aber…“, begann Toran und versuchte, die gefürchteten Worte zu verdauen, „Aber das ist doch Unsinn. Du hast keine Wahl. Du hast es doch gehört: Wir können das Fest später nicht mehr machen! Bort, du wirst immer älter werden! Alt! Du wirst sterben! Willst du das?“
„Nein. Ich…ich weiß nicht Papa! Ich will doch nicht für immer ein Kind bleiben. Ich bin doch noch gar nicht vollkommen.“
Toran ging in die Knie und legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter.
„Du wirst ein gesundes, ewig lebendes Kind sein. Mein Kind. Du magst nicht vollkommen sein, aber so vollkommen, wie du sein musst. Es gibt keinen anderen Weg, Bort!“
„Und die Menschen aus dem Dorf des Mannes? Werden die nicht noch mehr leiden?“
Toran atmete tief durch. Hektisch blickte er zum Waldesrand. Zwar war es unwahrscheinlich, dass sie jemand hier entdecken wurde, doch so langsam wurde er ungeduldig. Er hatte sich die Sache leichter vorgestellt.
„Bort, das Fest wurde schon viele, viele Male durchgeführt. Du wirst der Letzte sein. Es wird keinen Unterschied mehr machen! Mach dir keine Gedanken!“
Erneut blickte sein Sohn in Richtung Horizont, als könne er die Leidensgenossen des alten Mannes dort ausmachen. Toran konnte sehen, wie er mit sich kämpfte. Nun wünschte er, sein Sohn hätte in den letzten Tagen einen Blick auf den Greis hätte werfen können. Wie viel leichter ihm die Entscheidung nun fallen würde. Niemand, der bei klarem Verstand war, konnte ein Leben mit einem solchen Ausgang auch nur in Erwägung ziehen.
„Los jetzt!“, rief er Bort erneut zu und stieß ihn leicht an der Schulter an.
Bort schüttelte leicht den Kopf.
„Nein, Papa. Ich will das nicht! Ich will nach Hause!“, sprach er entschlossen und versuchte, sich aufzurichten. Sein Vater verstärkte den Druck auf seine Schulter und hielt ihn unten.
„Auf keinen Fall! Wir ziehen das jetzt durch!“, sagte Toran.
„Nein! Lass mich los! Ich will nicht!“
„Aber ich!“, schrie Toran laut und löste den Griff von Borts Schultern, um ihm einen festen Stoß gegen den Rücken zu geben. Mit einem überraschten Aufschrei fiel Bort über den Rand der Klippe und tauchte in das Wasser unter ihnen ein.
Während sein Sohn nach Luft schnappend wieder durch die Wasseroberfläche stieß, richtete sich Toran auf und begann, die heiligen Worte zu sprechen. Unter ihm strampelte Bort wild um sich und rief um Hilfe. Er hatte keinen Boden unter den Füßen und versuchte, sich mit ungestümen Arm- und Beinbewegungen über Wasser zu halten. Toran schloss die Augen und hob seine Stimme, um die seines Sohnes zu übertönen. Er hob die Arme und rezitierte weiter die Worte, die er schon so oft unter anderen Umständen mitangehört hatte. Plötzlich veränderte sich das Geräusch des Plätscherns unter ihm. Er öffnete die Augen und sah, dass es seinem Sohn irgendwie gelungen war, sich gezielt dem Ufer zu nähern. Mit unsicheren Bewegungen bewegte Bort sich in das flachere Wasser.
„Bort!“, rief Toran und ging langsam die Landzunge hinunter, um auf Höhe seines Sohnes zu bleiben. „Geh zurück ins Wasser! Es ist gleich geschafft!“
Bort antwortete nicht und bewegte sich weiter in Richtung des Ufers fort. Er schnaufte und rang nach Atem. Mittlerweile schien er Boden unter den Füßen gefunden zu haben, denn seine Bewegungen wurden sicherer und schneller. Toran befand sich mittlerweile fast am Beginn der Landzunge. Er sprach sprang seitlich hinunter, um vor seinem Sohn im flachen Wasser zu landen. Mit festen Griff hielt er seinen Sohn fest.
„Bort! Hör mir zu!“ Mit Mühe bekam er die Arme seines Sohnes zu fassen, die sich der Festsetzung widersetzen wollten. „Hör mir zu! Wir gehen jetzt zurück ins Wasser und beenden, weswegen wir hier sind! Danach können wir in Ruhe reden! Du wirst mir dankbar sein! Und jetzt GEH!“ Er ging tiefer ins Wasser und zog Bort an einem Arm hinter sich her. Bort versucht, sich mit Schlägen und Zerren zu wehren, doch er war seinem Vater körperlich weit unterlegen.
„Bitte, Papa!“, rief er ängstlich, „Ich will nicht!“ Er stolperte und landete mit dem Gesicht im Wasser. Toran zog ihn wieder hoch und drängte ihn weiter. Bort krümmte sich unter einem Hustenanfall zusammen. Seine Abwehr schwächte zunehmend ab. Nun verlor auch Toran für einen Moment den Tritt. Diesen Moment nutzte Toran, um sich mit einem letzten Aufbäumen loszureißen und erneut in Richtung des Ufers zu paddeln. Doch schon in der nächsten Sekunde war sein Vater wieder über ihm. Er stürzte sich auf Bort und tauchte ihn für kurze Zeit ins Wasser.
 

Clive77

Serial Watcher
„Bitte!“, schrie er, während er seinen Sohn wieder an die Luft hob. Tränen vermischten sich auf seinen Wangen mit dem Salzwasser des Meeres. „Wir müssen das tun! Ich kann nicht zulassen, dass du so endest! Ich kann es nicht!“
Bort schnaufte verzweifelt nach Luft und wehrte sich weiterhin.
„Nein!“, stieß er zwischen zwei heftigen Atemzügen heraus. Mit einer ruckartigen Bewegung stieß er seinem hinter ihm stehenden Vater den Ellenbogen in den Bauch. Toran keuchte voller Schmerz, lockerte seinen Griff allerdings nicht. Doch brachte er auch nicht mehr die Kraft auf, seinen Sohn ins tiefere Wasser zu ziehen.
„Bort, bitte! Hilf mir!“, rief er mit schwächer werdender Stimme. Bort antwortete nicht und versuchte erneut, seinen Vater mit einem Hieb zu treffen. Doch dieses Mal wich Toran aus. Er verstärkte den Druck auf Borts Oberkörper und tauchte ihn erneut ins Wasser. Er blickte durch das aufgewirbelte Wasser auf den Körper seines Sohnes, sah in Gedanken dessen lachendes, lebensfrohes Gesicht. Dann tauchte vor seinen Augen der Anblick des alten Mannes auf, wie er sich nur mühsam auch nur in sitzender Haltung halten konnte, geschüttelt von Hustenanfällen, gezeichnet vom nahen Tod.
„Ich kann das nicht!“, flüsterte Toran, der inzwischen bitterlich weinte. Noch immer hielt er den Druck aufrecht und hielt Bort unter Wasser. Der wand sich hektisch im festen Griff seines Vaters, konnte diesen aber nicht entkommen. Allmählich wurden seine Abwehrversuche schwächer, bis schließlich sein ganzer Körper in Torans Händen erschlaffte. Er minderte langsam den Druck und drehte sanft den Körper seines Sohnes, als dieser an die Wasseroberfläche trieb. Sanft schaute er in das leblose Gesicht. Er gab ihm einen Kuss auf die Stirn und hob dann den Körper aus dem Wasser, um ihn zum Ufer zu tragen. Widersprechende Gefühle tobten in ihm. Toran wusste nicht, wie er mit ihnen umgehen sollte. Er wusste nur, dass er eine lange Zeit haben würde, es herauszufinden.
 

Joker1986

0711er
Clive77 schrieb:
Zu aller erst der Name.
Muss da noch jemand an die Simpsons Folge in Itchy & Scratchy Land denken, in der der Name vorkommt :biggrin:

Ansonsten gute Geschichte. Das moralische Dilemma die eigene Unsterblichkeit auf Kosten anderer zu bekommen. Ich glaube allerdings nicht, dass eine Abstimmung darüber so eindeutig wäre wie hier geschildert.
Das Ende hat mich dann doch überrascht, allerdings hat er seinen Sohn dann doch ewig jung gehalten - wenn auch nur in seinen Erinnerungen. :check:
 

MamoChan

Well-Known Member
:top:

Das ist eigentlich alles, was ich zu dieser Geschichte schreiben wollte. Ich halte sie für nahezu perfekt und werde auch meine Punkte dafür vergeben. Ich befürchte aber, jetzt wollen auch alle wissen, was ich an dieser Geschichte so gut dfand, und da wird es problematisch. Ich kann mich gerade schlecht konzentrieren und weiß irgendwie gar nicht, wie ich ausdrücken soll, was mir zu dieser Geschichte durch den Kopf ging.

Text Text ist wunderbar geschrieben, schlicht und nicht zu überladen mit "Prosa-Diarrhoe", wie ich es gerne nenne. Nein, dieser Schriebstil gefiel mir. Der Storybogen wurde wunderbar langsam aufgebaut, und das Ende ist keineswegs überraschend. ABer das ist auch nicht schlimm, denn ich sehe es so, dass es keineswegs eine Überraschende Wendung am Schluss sein sollte, sondern vielmehr sah man als hillfloser Leser das unausweichliche Drama immer näher kommen und dachte nur "Oh nein, siehst DU denn nicht, was Du da tust?"

Das Thema wurde wunderbar umgesetzt, die Unsterblichkeit auf der einen Seite und das schnelle Vergehen auf der anderen, als Allegorie dazu, dass der Wohlstand des Einen, die Ausbeutung eines anderen bedeutet, und wi eman mit diesem Wissen umgeht. Vielleicht etwas zu plakativ umgesetzt, aber es funktioniert hier perfekt. :top: Sehr Schön auch, dass das Nicht-loslassen-können eben genau dazu führt, dass man eben das, was man zu halten versucht, unweigerlich zerstört.

Eine der besten Geschichten, die ich im Rahmen dieses Wettbewerbs je gelesen habe. :smile: :top:
 

Clive77

Serial Watcher
Auch diese Geschichte hat mir gefallen. Von dieser Sorte hätte ich beim vorgegebenen Thema ehrlich gesagt auch mehr Geschichten erwartet.

Ich frage mich allerdings, was wohl passiert wäre, wenn die Bewohner des Dorfes einfach das Ritual auch mit denen abgehalten hätten, auf deren Kosten sie unsterblich wurden (wären dann alle unsterblich geworden?). Oder wie bei einem Dorf von Unsterblichen das Überbevölkerungsproblem behoben wird.

Der Schreibstil hat mir auch sehr gefallen, Fehler konnte ich so gut wie keine finden. Schönes Ding.
 

Jizzle

Well-Known Member
Die Idee der Geschichte und die Thematik der Unsterblichkeit ist klassisch. Außerdem ist die Geschichte sehr sauber und flüssig geschrieben. Respekt dafür, aber es gibt viele Dinge, die mich nicht packen und die mich stören.

Irgendwie hat sich der Autor alles sehr einfach gemacht:

1. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Abstimmung so einfach ausfällt (siehe Jocker) und das Dorf, trotz der schlimmen Hintergründe, direkt so überstürzt eine Entscheidung trifft. Alles ist direkt offensichtlich, nur für einen nicht... Mir macht das die Geschichte leider kaputt.

2. Ich verstehe nicht, warum der alte Mann erst jetzt kommt und wieso er das Dorf erreicht... Es wirkt mir zu opportunistisch. Die Lösung ist mir zu glatt.

3.Der Name Bort geht leider mal gar nicht, es sei denn der alte Mann heißt Ned oder Apu :wink: (siehe Joker)


Für mich ist die Geschichte zu steril. Alles ist klassisch. Es gibt einen Außenseiter, der sich bedroht fühlt, die Situation ist ehr weiß und dann schwarz. Mir fehlen die Zwischentöne. Ich kann es schlecht erklären, aber diese Stories "mit dem Kopfschütteln" , die Mamochan meint, sind einfach nicht meines.

Aber insgesamt eine respektable Leistung, vor allem wegen der formalen Aspekte, aber nicht mein Geschmack.
 

Sittich

Well-Known Member
Das ist meine Geschichte. Danke für die Kommentare und die Punkte.

Den genannten Kritikpunkten kann ich nur zustimmen. Wie Jizzle es ausdrückte: Ich habe es mir generell sehr einfach gemacht. Natürlich hätte man viel mehr zu den Lebensumständen im Dorf und dem Umgang mit der Unsterblichkeit schreiben können (und vielleicht auch müssen). Und auch der Abstimmungsverlauf war gerade mal so lang, wie er sein musste, und war auch nur Mittel zum Zweck. Im Grunde dienten die ersten zwei Drittel der Geschichte nur dazu, zu dem Szenario des unsterblichen Vaters mit dem sterblichen Sohn zu führen, weil ich das am interessantesten fand. Ich fand aber, ich war konsequent, was die Auslassungen betraf. :biggrin:

Und Bort...war einfach der erste Jungenname, der mir einfiel. Und da dachte ich mir: Zum Teufel, warum nicht?! :hae:
 
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