Clive77
Serial Watcher
Es war späte Nacht, als Toran mit seinem zwölfjährigen Sohn Bort durch den Wald in Richtung Meer eilte. Das Mondlicht wies ihnen den Weg, sodass sie sich ihrem Ziel mit schnellen Schritten näherten. Toran hielt seinen Sohn an der Hand und legte ein rasches Tempo vor, das Bort nur mit Mühe halten konnte. Schließlich lichtete sich der Wald vor ihnen und sie betraten den schmalen, steinigen Uferabschnitt, der die Bäume von dem vor ihnen liegenden Weiten Meer trennte. Das Mondlicht spiegelte sich im Wasser, das leichte Wellen gegen den Strandabschnitt warf. Zu beiden Seiten des etwa 50 Meter langen Strandes erstreckten sich die Bäume des Waldes deutlich weiter bis an den Wasserrand, sodass sich eine natürliche Bucht bildete, die vollkommen von Wald und Wasser umschlossen war.
Mit langsameren Schritten gingen Toran und Bort über den steinigen Untergrund. Sie betraten die etwa zwei Meter breite Landzunge, die vor ihnen in das Wasser stieß und dabei kontinuierlich anstieg, sodass sich eine Art Rampe bildete. Schwach erinnerte Toran sich, wie er vor sehr langer Zeit als Kind vom Rand dieses Vorstoßes unter lauten Jubelrufen ins etwa drei Meter tiefer gelegene Wasser gesprungen war. Obwohl die Landzunge seit vielen Jahrhunderten ein Ort heiliger Rituale und feierlicher Zeremonien war, hatte Toran keinen Zweifel, dass auch Bort schon etliche Male heimlich mit seinen vier Freunden (denn mehr Kinder in seinem Alter existierten im Dorf nicht) hier geplanscht hatte. Nun ging er, seinen Sohn noch immer an der Hand, langsam den Anstieg hinauf. Er spürte, wie Bort langsamer wurde, und blickte ihn aufmunternd an.
„Na komm, ein paar Schritte noch.“
„Warum sind wir hier, Papa?“, fragte Bort, der seinen Vater zunächst aufgeregt auf dem nächtlichen Spaziergang begleitet hatte, nun aber deutlich unsicherer erschien. Er hatte gespürt, dass seit einigen Tagen Unruhe im Dorf herrschte und sein Vater sehr angespannt gewesen war. Nebeneinander setzen sie sich nun an den Rand der Landzunge und blickten einen Moment schweigend auf die weite Wasserfläche.
„Du kennst diesen Ort hier, nicht wahr?“, fragte Toran seinen Sohn nach einer Weile, ohne auf dessen Frage nach dem Grund ihres Ausflugs einzugehen. Bort zögerte.
„Ich…also…eigentlich nicht…“, stammelte er.
„Schon gut“, unterbrach sein Vater ihn mit einem leichten Schmunzeln, „Ich weiß doch, dass ihr Kinder hier ab und zu herumalbert. Das meine ich nicht. Du weißt, wofür dieser Ort eigentlich vorgesehen ist, oder?“
„Klar!“ erwiderte Bort.
„Wofür?“
„Zum Fest des Immerwährenden!“
„Richtig.“ Toran schaute einen Moment gedankenverloren ins Weite. „Das Fest des Immerwährenden“, wiederholte er dann. „Erzähl mal, was sie euch in der Lehrgruppe so darüber erzählen!“
Bort richtete sich ein wenig auf und begann, die offensichtlich auswendig gelernten Worte zu rezitieren.
„Das Fest des Immerwährenden findet zu jedem 30. Geburtstag eines Bewohners des Dorfes statt. Gefeiert wird sein vollendetes Heranwachsen und sein ewiges Leben, das durch das Fest des Immerwährenden gewährt wird. Dazu steigt der Gefeierte zum Ende des Fests in das Weite Meer und wird durch ein traditionelles Ritual von der Last des Alterns entledigt.“
Toran lauschte den Worten seines Sohnes, wobei seine Gedanken zurück an sein eigenes Fest wanderten. Es war nun schon über 140 Jahre her. Er hatte seitdem an unzähligen weiteren der Rituale für andere Ausgewachsene teilgenommen, aber natürlich war ihm die Perspektive seines ersten Festes, bei dem er im Mittelpunkt gestanden hatte, in Erinnerung geblieben. Wie er dort unten im schultertiefen, empfindlich kalten Gewässer gestanden hatte, während über ihm thronend einer der Dorfführer die heiligen Worte gesprochen hatte. Alle Mitglieder der Gemeinschaft hatten am Ufer gestanden, doch am Ende hatte er nur noch sich, die Kälte des Wassers und die Worte des Sprechenden wahrgenommen. Und schließlich hatte er gespürt, wie das Wasser um ihn herum ihn mit ungeahnter Vitalität erfüllte. Später erzählte man ihm, dass er vor Wonne laut geschrien hatte. Er war als neuer Mensch aus dem Wasser gestiegen.
„Papa?“, riss ihn sein Sohn aus seinen Gedanken.
„Hm?“
„Warum sind wir denn nun hier? Ist heute wieder ein Fest? Darf ich dabei sein?“
Toran betrachtete seinen Sohn liebevoll.
„Ja, Bort. Du wirst dabei sein. Es wird das letzte Fest sein. Und es wird deins sein!“
Fragend blickte Bort seinem Vater ins Gesicht.
„Aber…ich bin doch noch gar nicht vollkommen, oder?“
„Du bist so vollkommen, wie du sein musst, mein Sohn“, sagte Toran und legte Bort sanft einen Arm um die Schultern. „Und du wirst es für immer bleiben!“ Er stockte kurz und überlegte sich seine folgenden Worte.
„Du hast doch sich mitbekommen, dass wir Ausgewachsenen uns vor kurzem versammelt haben? Lass mich dir kurz davon erzählen! Dann wirst du verstehen, warum wir heute hier sind.“ Und so schilderte Toran seinem Sohn den Grund ihres Hierseins.
Der alte Mann war vor zehn Tagen mit einem klapprigen Boot, das nur durch einige sehr notdürftige Reparaturen vom Zusammenbruch bewahrt wurde, vom Weiten Meer aus am Dorf angekommen. Drei der jüngeren Ausgewachsenen hatten ihn reglos am Strand entdeckt und zum Heiler gebracht. Die folgenden Tage sah niemand außer dem Heiler und den Anführern etwas von dem Mann, doch die grausigen Gerüchte verbreiteten sich schnell im ganzen Dorf. Jeder redete auf die drei, die ihn gefunden hatten, ein und wollte mehr über die verkommene, dem Verfall preisgegebene Gestalt erfahren. Auch Toran lauschte den Erzählungen mit einem faszinierten Entsetzen, achtete aber stets darauf, seinen Sohn davon zu verschonen. Schließlich stellten sich alle noch so bildhaften Schilderungen als untertrieben heraus, als Toran zusammen mit allen anderen ausgewachsenen Dorfbewohner bei der vor zwei Tagen herbeigerufenen Versammlung den alten Mann leibhaftig vor eigenen Augen sah.
Die eingefallene Gestalt war in der Mitte der vier Dorfführer hinter dem Rednertisch platziert worden. Neben den vier vollkommenen und vor Lebenskraft strotzenden Männern und Frauen wirkte der Mann noch erbärmlicher. Die weißen Haare, die sich büschelweise und zerschlissen über den runzligen Kopf des Mannes verteilten, verdeckten nur unzureichend seine ungesund wirkende und mit dunklen Flecken übersäte Kopfhaut. Die Augen des Mannes bildeten zwei winzige, schwarze Punkte. Die knollenartige Nase warf einen tiefen Schatten auf den zittrigen Mund, dessen Lippen trocken und verhärmt wirkten. Auch die Arme, mit denen sich der Mann auf dem Tisch vor ihm abstützte, zitterten unentwegt vor sich hin, ohne dass der Mann es zu kontrollieren vermochte. Toran konnte den Blick kaum von dieser jämmerlichen Gestalt abwenden. Er merkte, dass es seinen Mitbürgern genauso ging. Nach einer kurzen Einleitung von einem der Anführer gab dieser das Wort an den alten Mann weiter. Er nuschelte und sprach sehr leise, immer wieder unterbrochen von kurzen Hustenanfällen, doch aufgrund der Totenstille in der Versammlungshalle und der Schwere seiner Worte konnten ihn alle gut verstehen.
„Ich habe eine weite Reise hinter mir. Vor vielen Monaten habe ich mich von meinen Freunden und meiner Familie verabschiedet, ohne zu wissen, wohin mich mein Weg führen würde. Ich danke dem Schicksal, dass es mich hierher gebracht hat. Dass ich nun zu Ihnen allen sprechen kann, um um Gnade für mein Volk zu bitten.
Von den netten Menschen, die mich nach meiner langen Reise so gesund gepflegt haben, wie es ihnen möglich war, weiß ich von dem heiligen Ritual dieses Dorfes. Das Fest des Immerwährenden.“
Toran meinte, in den letzten Worten des Mannes leichten Abscheu zu spüren. Noch wusste er nicht, worauf diese Ansprache hinauslaufen würde, doch er fand den Mann zunehmend abstoßender und wünschte, er würde schnell zum Ende kommen.
„Ihr könnt mir glauben“, fuhr der Greis fort, „dass ich mir mit dem mit höchstem Interesse angehört habe, was es mit diesem Fest auf sich hat. Glaubt mir, wenn ich euch sage, dass ich euch alle zutiefst beneide. Gar nicht so sehr um euer ewiges Leben und der anhaltenden Gesundheit. Vielmehr darum, dass euch bisher nicht bewusst war, zu welchem Preis ihr eure Lebenskraft gewonnen habt. Ich glaube euren Führern, wenn sie mir sagen, dass ihr die Vitalität, die euch das Wasser schenkt, bisher als ein Geschenk höherer Mächte angesehen habt. Doch, und ich erbete mir nun eure vollste Aufmerksamkeit, es handelt sich dabei nicht um ein Geschenk. Nicht im Mindesten. Es ist Diebstahl!“
Der alte Mann ließ seine Worte einen Moment wirken. Toran warf einen kurzen Blick auf die Führer an seiner Seite, die mit beinahe ausdruckslosem Gesicht die Menge musterten. Warum brachten sie diesen Mann nicht einfach zum Schweigen? Doch sie ließen ihn ungehindert weitersprechen.
„Es ist Diebstahl“, wiederholte er. „Was euch gegeben wird, wird meinem Volk genommen! Seht mich an! 27 Jahre lebe ich nun auf dieser Welt. Mein 30. Lebensjahr, mit dem ihr euch wohl erst als ‚vollkommen‘ bezeichnet würdet, werde ich nicht mehr erleben. Genau wie meine Frau, meine Kinder und mein gesamtes Volk! Wir alle leiden unter diesem Fluch, der über uns gekommen ist. Aus alten Aufzeichnungen wissen wir, dass es nicht so sein muss. Dass auch wir ein fruchtbares, langes Leben führen könnten. Aber es ist das Wasser. Wir brauchen es wie jeder andere, doch gleichzeitig stiehlt es uns unsere Lebenskraft. Ihr stehlt sie uns, wie ich nun weiß. Deswegen…“.
Mit Mühe erhob sich der Mann von seinem Sitz und richtete sich auf.
„…stehe ich nun vor euch und habe eine Bitte: Beendet dieses scheußliche Ritual! Habt Gnade mit meinem Volk und beendet sein Leid!“
Mit langsameren Schritten gingen Toran und Bort über den steinigen Untergrund. Sie betraten die etwa zwei Meter breite Landzunge, die vor ihnen in das Wasser stieß und dabei kontinuierlich anstieg, sodass sich eine Art Rampe bildete. Schwach erinnerte Toran sich, wie er vor sehr langer Zeit als Kind vom Rand dieses Vorstoßes unter lauten Jubelrufen ins etwa drei Meter tiefer gelegene Wasser gesprungen war. Obwohl die Landzunge seit vielen Jahrhunderten ein Ort heiliger Rituale und feierlicher Zeremonien war, hatte Toran keinen Zweifel, dass auch Bort schon etliche Male heimlich mit seinen vier Freunden (denn mehr Kinder in seinem Alter existierten im Dorf nicht) hier geplanscht hatte. Nun ging er, seinen Sohn noch immer an der Hand, langsam den Anstieg hinauf. Er spürte, wie Bort langsamer wurde, und blickte ihn aufmunternd an.
„Na komm, ein paar Schritte noch.“
„Warum sind wir hier, Papa?“, fragte Bort, der seinen Vater zunächst aufgeregt auf dem nächtlichen Spaziergang begleitet hatte, nun aber deutlich unsicherer erschien. Er hatte gespürt, dass seit einigen Tagen Unruhe im Dorf herrschte und sein Vater sehr angespannt gewesen war. Nebeneinander setzen sie sich nun an den Rand der Landzunge und blickten einen Moment schweigend auf die weite Wasserfläche.
„Du kennst diesen Ort hier, nicht wahr?“, fragte Toran seinen Sohn nach einer Weile, ohne auf dessen Frage nach dem Grund ihres Ausflugs einzugehen. Bort zögerte.
„Ich…also…eigentlich nicht…“, stammelte er.
„Schon gut“, unterbrach sein Vater ihn mit einem leichten Schmunzeln, „Ich weiß doch, dass ihr Kinder hier ab und zu herumalbert. Das meine ich nicht. Du weißt, wofür dieser Ort eigentlich vorgesehen ist, oder?“
„Klar!“ erwiderte Bort.
„Wofür?“
„Zum Fest des Immerwährenden!“
„Richtig.“ Toran schaute einen Moment gedankenverloren ins Weite. „Das Fest des Immerwährenden“, wiederholte er dann. „Erzähl mal, was sie euch in der Lehrgruppe so darüber erzählen!“
Bort richtete sich ein wenig auf und begann, die offensichtlich auswendig gelernten Worte zu rezitieren.
„Das Fest des Immerwährenden findet zu jedem 30. Geburtstag eines Bewohners des Dorfes statt. Gefeiert wird sein vollendetes Heranwachsen und sein ewiges Leben, das durch das Fest des Immerwährenden gewährt wird. Dazu steigt der Gefeierte zum Ende des Fests in das Weite Meer und wird durch ein traditionelles Ritual von der Last des Alterns entledigt.“
Toran lauschte den Worten seines Sohnes, wobei seine Gedanken zurück an sein eigenes Fest wanderten. Es war nun schon über 140 Jahre her. Er hatte seitdem an unzähligen weiteren der Rituale für andere Ausgewachsene teilgenommen, aber natürlich war ihm die Perspektive seines ersten Festes, bei dem er im Mittelpunkt gestanden hatte, in Erinnerung geblieben. Wie er dort unten im schultertiefen, empfindlich kalten Gewässer gestanden hatte, während über ihm thronend einer der Dorfführer die heiligen Worte gesprochen hatte. Alle Mitglieder der Gemeinschaft hatten am Ufer gestanden, doch am Ende hatte er nur noch sich, die Kälte des Wassers und die Worte des Sprechenden wahrgenommen. Und schließlich hatte er gespürt, wie das Wasser um ihn herum ihn mit ungeahnter Vitalität erfüllte. Später erzählte man ihm, dass er vor Wonne laut geschrien hatte. Er war als neuer Mensch aus dem Wasser gestiegen.
„Papa?“, riss ihn sein Sohn aus seinen Gedanken.
„Hm?“
„Warum sind wir denn nun hier? Ist heute wieder ein Fest? Darf ich dabei sein?“
Toran betrachtete seinen Sohn liebevoll.
„Ja, Bort. Du wirst dabei sein. Es wird das letzte Fest sein. Und es wird deins sein!“
Fragend blickte Bort seinem Vater ins Gesicht.
„Aber…ich bin doch noch gar nicht vollkommen, oder?“
„Du bist so vollkommen, wie du sein musst, mein Sohn“, sagte Toran und legte Bort sanft einen Arm um die Schultern. „Und du wirst es für immer bleiben!“ Er stockte kurz und überlegte sich seine folgenden Worte.
„Du hast doch sich mitbekommen, dass wir Ausgewachsenen uns vor kurzem versammelt haben? Lass mich dir kurz davon erzählen! Dann wirst du verstehen, warum wir heute hier sind.“ Und so schilderte Toran seinem Sohn den Grund ihres Hierseins.
Der alte Mann war vor zehn Tagen mit einem klapprigen Boot, das nur durch einige sehr notdürftige Reparaturen vom Zusammenbruch bewahrt wurde, vom Weiten Meer aus am Dorf angekommen. Drei der jüngeren Ausgewachsenen hatten ihn reglos am Strand entdeckt und zum Heiler gebracht. Die folgenden Tage sah niemand außer dem Heiler und den Anführern etwas von dem Mann, doch die grausigen Gerüchte verbreiteten sich schnell im ganzen Dorf. Jeder redete auf die drei, die ihn gefunden hatten, ein und wollte mehr über die verkommene, dem Verfall preisgegebene Gestalt erfahren. Auch Toran lauschte den Erzählungen mit einem faszinierten Entsetzen, achtete aber stets darauf, seinen Sohn davon zu verschonen. Schließlich stellten sich alle noch so bildhaften Schilderungen als untertrieben heraus, als Toran zusammen mit allen anderen ausgewachsenen Dorfbewohner bei der vor zwei Tagen herbeigerufenen Versammlung den alten Mann leibhaftig vor eigenen Augen sah.
Die eingefallene Gestalt war in der Mitte der vier Dorfführer hinter dem Rednertisch platziert worden. Neben den vier vollkommenen und vor Lebenskraft strotzenden Männern und Frauen wirkte der Mann noch erbärmlicher. Die weißen Haare, die sich büschelweise und zerschlissen über den runzligen Kopf des Mannes verteilten, verdeckten nur unzureichend seine ungesund wirkende und mit dunklen Flecken übersäte Kopfhaut. Die Augen des Mannes bildeten zwei winzige, schwarze Punkte. Die knollenartige Nase warf einen tiefen Schatten auf den zittrigen Mund, dessen Lippen trocken und verhärmt wirkten. Auch die Arme, mit denen sich der Mann auf dem Tisch vor ihm abstützte, zitterten unentwegt vor sich hin, ohne dass der Mann es zu kontrollieren vermochte. Toran konnte den Blick kaum von dieser jämmerlichen Gestalt abwenden. Er merkte, dass es seinen Mitbürgern genauso ging. Nach einer kurzen Einleitung von einem der Anführer gab dieser das Wort an den alten Mann weiter. Er nuschelte und sprach sehr leise, immer wieder unterbrochen von kurzen Hustenanfällen, doch aufgrund der Totenstille in der Versammlungshalle und der Schwere seiner Worte konnten ihn alle gut verstehen.
„Ich habe eine weite Reise hinter mir. Vor vielen Monaten habe ich mich von meinen Freunden und meiner Familie verabschiedet, ohne zu wissen, wohin mich mein Weg führen würde. Ich danke dem Schicksal, dass es mich hierher gebracht hat. Dass ich nun zu Ihnen allen sprechen kann, um um Gnade für mein Volk zu bitten.
Von den netten Menschen, die mich nach meiner langen Reise so gesund gepflegt haben, wie es ihnen möglich war, weiß ich von dem heiligen Ritual dieses Dorfes. Das Fest des Immerwährenden.“
Toran meinte, in den letzten Worten des Mannes leichten Abscheu zu spüren. Noch wusste er nicht, worauf diese Ansprache hinauslaufen würde, doch er fand den Mann zunehmend abstoßender und wünschte, er würde schnell zum Ende kommen.
„Ihr könnt mir glauben“, fuhr der Greis fort, „dass ich mir mit dem mit höchstem Interesse angehört habe, was es mit diesem Fest auf sich hat. Glaubt mir, wenn ich euch sage, dass ich euch alle zutiefst beneide. Gar nicht so sehr um euer ewiges Leben und der anhaltenden Gesundheit. Vielmehr darum, dass euch bisher nicht bewusst war, zu welchem Preis ihr eure Lebenskraft gewonnen habt. Ich glaube euren Führern, wenn sie mir sagen, dass ihr die Vitalität, die euch das Wasser schenkt, bisher als ein Geschenk höherer Mächte angesehen habt. Doch, und ich erbete mir nun eure vollste Aufmerksamkeit, es handelt sich dabei nicht um ein Geschenk. Nicht im Mindesten. Es ist Diebstahl!“
Der alte Mann ließ seine Worte einen Moment wirken. Toran warf einen kurzen Blick auf die Führer an seiner Seite, die mit beinahe ausdruckslosem Gesicht die Menge musterten. Warum brachten sie diesen Mann nicht einfach zum Schweigen? Doch sie ließen ihn ungehindert weitersprechen.
„Es ist Diebstahl“, wiederholte er. „Was euch gegeben wird, wird meinem Volk genommen! Seht mich an! 27 Jahre lebe ich nun auf dieser Welt. Mein 30. Lebensjahr, mit dem ihr euch wohl erst als ‚vollkommen‘ bezeichnet würdet, werde ich nicht mehr erleben. Genau wie meine Frau, meine Kinder und mein gesamtes Volk! Wir alle leiden unter diesem Fluch, der über uns gekommen ist. Aus alten Aufzeichnungen wissen wir, dass es nicht so sein muss. Dass auch wir ein fruchtbares, langes Leben führen könnten. Aber es ist das Wasser. Wir brauchen es wie jeder andere, doch gleichzeitig stiehlt es uns unsere Lebenskraft. Ihr stehlt sie uns, wie ich nun weiß. Deswegen…“.
Mit Mühe erhob sich der Mann von seinem Sitz und richtete sich auf.
„…stehe ich nun vor euch und habe eine Bitte: Beendet dieses scheußliche Ritual! Habt Gnade mit meinem Volk und beendet sein Leid!“