Clive77
Serial Watcher
Unsterblichkeit. Seit die Menschen sich ihrer eigenen Vergänglichkeit bewusst wurden, versuchten sie sowohl im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinne dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Durch die über in Jahrhunderten gesammelten Erfahrungen, und dadurch resultierenden Fortschritte in der Medizin, gelang es den Menschen immer mehr, dem Tod die Stirn zu bieten, ihn zurückzudrängen, die eigene Lebenserwartung in einem Maße zu verlängern, von dem unsere Ahnen kaum zu träumen wagten. Aber trotz aller Erfolge musste man sich letztendlich immer geschlagen geben und das Feld räumen. Am Ende gewann immer der Tod.
Anders hingegen sah es aus, wenn es darum ging etwas in dieser Welt zu hinterlassen, das einen über den Tod hinaus weiterleben ließ. So waren die Grabmäler der alten Pharaonen für die Ewigkeit gemacht. Sie haben Jahrtausende überdauert und ebenso das Andenken derer, die sie erbauen ließen. Auch mit anderen Bauwerke in sämtlichen Kulturen und Epochen haben sich deren Erbauer auch nach ihrem Ableben selbst ein Denkmal gesetzt. Ob Musiker, Schriftsteller oder Maler, Künstler in aller Welt strebten danach, etwas zu erschaffen, das die Zeit überdauerte und sie selbst dann auch nach dem eigenen irdischen Ableben in den eigenen Werken weiterleben konnten, wie es Michelangelo, Dali oder Mozart taten.
Manchmal war es der Tod selbst, der ihr Leben erst zur Legende und sie auf diese Weise unsterblich werden ließ. Vielleicht waren es die Umstände des Ablebens, an die man sich noch nach Jahrzehnten erinnern würde, wie bei Antoni Gauldi, der berühmte Architekt der Sagrada Familia, welcher unerkannt nach einem Straßenbahnunfall in einem Armenkrankenhaus starb. Vielleicht würde sich niemand mehr an James Dean erinnern, wenn ihn der Tod nicht schon in so jungen Jahren der Welt entrissen hätte.
Als Leon in einem Interview gefragt wurde, ob es einen bestimmten Punkt in seiner Karriere gab, auf den man seinen Status als Legende zurückführen konnte, antwortete er, es war der schrecklichste Tag in seinem Leben, ein einziger katastrophaler Auftritt, der ihn in den Augen der Menschen, aus welchem Grund auch immer, unsterblich werden ließ. Egal was er seit dem in der Welt geleistet hatte, dieser eine Abend hatte sich in das Gedächtnis der Menschen eingebrannt, und so gerne er es auch verdrängte, musste er zugeben, dass er ohne diesen Tag nicht der wäre, der er heute war.
Alles begann mit jenem Anruf am frühen Abend, als Leon sich gedanklich schon darauf eingestellt hatte nach einem anstrengenden Arbeitstag die Füße hochzulegen und die Seele baumeln zu lassen, als plötzlich sein Mobiltelefon auf dem Wohnzimmertisch klingelte, kaum dass er sich mit der Fernbedienung in der Hand zurückgelehnt hatte. Leon überlegte noch, ob es die Anstrengung wert wäre, die es bedeuten würde, die Füße vom Tisch zu nehmen und sich wieder vorzubeugen um die Distanz von etwa anderthalb Metern zu seinem Telefon auf dem Wohnzimmertisch zu überbrücken. Es klingelte ganze dreimal, bis er sich seufzend dazu entschloss doch danach zu greifen. Als er sah, wer ihn da anrief, ahnte er noch nicht, dass es der Anruf war, auf den manche Menschen ein Leben lang warteten.
„Ja?“ war alles, was er sagte.
„Leon? Gott sei Dank, dass du da bist. Hör zu, wir haben ein Problem. Es geht um Pierre, er kann nicht auftreten.“
„Ist etwas passiert? Geht es ihm gut?“
„Ja, soweit geht es ihm gut, aber er kann eine Weile nicht auftreten.“
„Was ist mit Howard?“
„Er steht nicht zur Verfügung. Er wird noch bis Montag in Australien sein.“ Es folgte eine kurze Pause, die Leon wie eine Ewigkeit vorkam.
„Leon, wir wollen, dass du das übernimmst. Schaffst du das?“
„Ich weiß nicht. Ich hatte noch nie...“
„Überlege es dir, aber nicht zu lange. Wir wissen, dass du es kannst. Die Musiker vertrauen dir, sie arbeiten gerne mit dir zusammen, und du kennst sämtliche Stücke“
„Pierre ist ein Meister, ich bin nur- “
„Du bist gut. Wir wissen, du kannst es.“
„Ihr habt sonst niemanden, nicht wahr?“
Die längere Pause, die folgte diente nicht gerade seiner Ermutigung.
„Nein, haben wir nicht. Du bist der Einzige.“
„Gib mir fünf Minuten, ich rufe dich an.“
Er beendete das Gespräch und legte das Telefon beiseite. Erst jetzt merkte Leon, wie stark seine Hände zitterten und sein Herz gegen die Brust hämmerte. Unsicher strich er sich die Haare aus dem Gesicht nach hinten und überlegte, was er tun sollte.
Daphne sah ihn fragend an. Sie hatte sich wohl ebenso auf einen ruhigen Abend gefreut. Leon seufzte.
„Das war der Anruf, auf den ich gewartet habe, und nun habe ich Angst, es zu tun. Was denkst du? Soll ich es machen? Denkst du, ich bekomme es hin?
Leon kam sich ein wenig blöd vor, sie um Rat zu fragen. Obwohl Daphne und er sich eine Wohnung teilten, sie gemeinsam im selben Bett schliefen und er über alles mit ihr reden konnte, weigerte er sich, Daphne als seine Lebensgefährtin zu bezeichnen. Nun schaute sie ihn ein wenig desinteressiert an und unterstrich dieses auch noch, indem sie sich dann an einer höchst unschicklichen Stelle leckte. Aber bei Katzen ließ man ein derartiges Verhalten halt durchgehen.
„Du bist mir ja mal echt eine schöne Hilfe“, sagte Leon und wählte auf seinem Mobiltelefon den Rückruf. „Ist in Ordnung, ich mache es“, sagte er nur kurz, als er hörte wie am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde.
Nur zwanzig Minuten später saß er bereit in einem Taxi, das ihn zur Konzerthalle fahren sollte. Bei sich hatte er nur ein Paar Schuhe, die kleine Reisetasche mit seinem knitterfreien Frack und einige Accessoires. Natürlich nahm der Fahrer die wohl ungünstigste Strecke, und selbstverständlich zeigte Gott seinen ihm eigentümlichen, den Betroffenen oft unverständlichen, Sinn für Humor, indem er just an diesem Abend dafür sorgte, dass ein Radfahrer durch den viel zu kurzen Rock einer jungen Blondine, die gerade ihren Hund spazieren führte, abgelenkt wurde und dadurch den ihm entgegenkommenden Krankenwagen nicht bemerkte. Das Ergebnis waren zwar nur leichte Verletzungen beim Fahrer des Krankenwagens, ein peinlich berührter Radfahrer mit nasser Hose und ein erheblicher Blechschaden bei den drei weiteren im Unfall verwickelten Fahrzeugen. Natürlich hatte es zur Folge, dass der Verkehr zum Erliegen kam und Leon aus erster Hand erfahren durfte, was es bedeutete, Zeit sei relativ. Ganz plötzlich nämlich schien ihm diese wie der sprichwörtliche Sand zwischen den Fingern zu zerrinnen.
Es ist alles gut, sagte er zu sich selbst. Sie wissen, dass du es kannst, deshalb wollen sie dich, nicht weil du der Einzige in unmittelbarer Nähe bist. Die Tatsache untätig in einem Taxi eingesperrt zu sein, ganz allein mit seinen Gedanken, waren für seine innere Unruhe wie ein frischer Luftzug für ein in glimmender Glut geduldig ausharrendes Feuer.
Zunächst überlegte er, ob es sinnvoller war, im Taxi zu verbleiben und darauf zu warten bis der Verkehr wieder normal zu fließen begann oder aber aus dem Wagen zu springen und die Strecke schnellstmöglich zu Fuß zurückzulegen. War es anfangs noch ein vages Gedankenspiel, wurde es nach zehn weiteren Minuten für Leon die scheinbar einzige Möglichkeit doch noch pünktlich einzutreffen. Er bezahlte eiligst den Fahrer, öffnete die Tür, schnappe sich seine Tasche, vergaß seine rahmengenähten Lederschuhe auf der Rückbank und lief schnellstmöglich den vermeintlich kürzesten Weg.
Als er überraschend spät eintraf, pfiff sein Atem wie der alte Teekessel seiner Großmutter es damals immer getan hatte, wenn er als Kind bei ihr zu Besuch war. Allerdings weitaus kraftloser. Von jetzt an hatte er nur noch fünfzehn Minuten Zeit, was ihn beinahe verzweifeln ließ. Man führte ihn eilig zu seiner Garderobe, und Leon hätte sich gerne ein paar Momente gegönnt um sich zu setzen, tief durchzuatmen, sich den Raum genauer anzusehen und einfach mal der Tatsache Respekt zu zollen, dass er zum ersten Mal in seinem Leben eine eigene Garderobe hatte. Leider hatte er auch kein Auge für den großen Blumenstrauß mit der Dankeskarte und der daneben liegenden Tafel Schokolade.
Stattdessen versuchte er seine Gedanken zu ordnen, während er hektisch seine Schuhe von den Füssen schob und sie unachtsam in die Ecke feuerte, bevor er sich dann Hose und Hemd auszog. Zu gerne hätte er wenigstens noch ein Wort an das Ensemble gerichtet bevor das Konzert begann. Ganz besonders hatte er gehofft, ein paar Worte mit dem ersten Pauker, wenn er sich recht erinnerte, hieß er Mario, zu wechseln. Er hörte, dass Mario vor den Auftritten oftmals besonders nervös wurde, und gerade einen nervösen Pauker konnte Leon nun gar nicht gebrauchen. Durch auch nur die kleinste rhythmische Unsicherheit konnte dieser das gesamte Orchester aus dem Takt bringen. Er musste unbedingt wissen, wie viel man ihm heute Abend zumuten konnte.
Es gab durchaus Stücke, die kleinere Fehler verziehen. Warum konnten sie heute auch keine Schostakowitsch-Sinfonie aufführen? Warum mussten es unbedingt die Klassiker sein? Warum ausgerechnet Haydn und Beethoven? Die Leute kannten diese Stücke, und jeder Fehler würde sich bitter rächen. Er mochte sich nur eine Nuance im Tempo verschätzen, und schon würde das Publikum es bemerkten. Sie mussten keine Musiker dafür sein, es lag einfach in der Natur der Sache, dass die Zuhörer es irgendwie unterbewusst merkten, dass etwas nicht stimmig war.
Wo zum Teufel waren seine Schuhe?
Anders hingegen sah es aus, wenn es darum ging etwas in dieser Welt zu hinterlassen, das einen über den Tod hinaus weiterleben ließ. So waren die Grabmäler der alten Pharaonen für die Ewigkeit gemacht. Sie haben Jahrtausende überdauert und ebenso das Andenken derer, die sie erbauen ließen. Auch mit anderen Bauwerke in sämtlichen Kulturen und Epochen haben sich deren Erbauer auch nach ihrem Ableben selbst ein Denkmal gesetzt. Ob Musiker, Schriftsteller oder Maler, Künstler in aller Welt strebten danach, etwas zu erschaffen, das die Zeit überdauerte und sie selbst dann auch nach dem eigenen irdischen Ableben in den eigenen Werken weiterleben konnten, wie es Michelangelo, Dali oder Mozart taten.
Manchmal war es der Tod selbst, der ihr Leben erst zur Legende und sie auf diese Weise unsterblich werden ließ. Vielleicht waren es die Umstände des Ablebens, an die man sich noch nach Jahrzehnten erinnern würde, wie bei Antoni Gauldi, der berühmte Architekt der Sagrada Familia, welcher unerkannt nach einem Straßenbahnunfall in einem Armenkrankenhaus starb. Vielleicht würde sich niemand mehr an James Dean erinnern, wenn ihn der Tod nicht schon in so jungen Jahren der Welt entrissen hätte.
Als Leon in einem Interview gefragt wurde, ob es einen bestimmten Punkt in seiner Karriere gab, auf den man seinen Status als Legende zurückführen konnte, antwortete er, es war der schrecklichste Tag in seinem Leben, ein einziger katastrophaler Auftritt, der ihn in den Augen der Menschen, aus welchem Grund auch immer, unsterblich werden ließ. Egal was er seit dem in der Welt geleistet hatte, dieser eine Abend hatte sich in das Gedächtnis der Menschen eingebrannt, und so gerne er es auch verdrängte, musste er zugeben, dass er ohne diesen Tag nicht der wäre, der er heute war.
Alles begann mit jenem Anruf am frühen Abend, als Leon sich gedanklich schon darauf eingestellt hatte nach einem anstrengenden Arbeitstag die Füße hochzulegen und die Seele baumeln zu lassen, als plötzlich sein Mobiltelefon auf dem Wohnzimmertisch klingelte, kaum dass er sich mit der Fernbedienung in der Hand zurückgelehnt hatte. Leon überlegte noch, ob es die Anstrengung wert wäre, die es bedeuten würde, die Füße vom Tisch zu nehmen und sich wieder vorzubeugen um die Distanz von etwa anderthalb Metern zu seinem Telefon auf dem Wohnzimmertisch zu überbrücken. Es klingelte ganze dreimal, bis er sich seufzend dazu entschloss doch danach zu greifen. Als er sah, wer ihn da anrief, ahnte er noch nicht, dass es der Anruf war, auf den manche Menschen ein Leben lang warteten.
„Ja?“ war alles, was er sagte.
„Leon? Gott sei Dank, dass du da bist. Hör zu, wir haben ein Problem. Es geht um Pierre, er kann nicht auftreten.“
„Ist etwas passiert? Geht es ihm gut?“
„Ja, soweit geht es ihm gut, aber er kann eine Weile nicht auftreten.“
„Was ist mit Howard?“
„Er steht nicht zur Verfügung. Er wird noch bis Montag in Australien sein.“ Es folgte eine kurze Pause, die Leon wie eine Ewigkeit vorkam.
„Leon, wir wollen, dass du das übernimmst. Schaffst du das?“
„Ich weiß nicht. Ich hatte noch nie...“
„Überlege es dir, aber nicht zu lange. Wir wissen, dass du es kannst. Die Musiker vertrauen dir, sie arbeiten gerne mit dir zusammen, und du kennst sämtliche Stücke“
„Pierre ist ein Meister, ich bin nur- “
„Du bist gut. Wir wissen, du kannst es.“
„Ihr habt sonst niemanden, nicht wahr?“
Die längere Pause, die folgte diente nicht gerade seiner Ermutigung.
„Nein, haben wir nicht. Du bist der Einzige.“
„Gib mir fünf Minuten, ich rufe dich an.“
Er beendete das Gespräch und legte das Telefon beiseite. Erst jetzt merkte Leon, wie stark seine Hände zitterten und sein Herz gegen die Brust hämmerte. Unsicher strich er sich die Haare aus dem Gesicht nach hinten und überlegte, was er tun sollte.
Daphne sah ihn fragend an. Sie hatte sich wohl ebenso auf einen ruhigen Abend gefreut. Leon seufzte.
„Das war der Anruf, auf den ich gewartet habe, und nun habe ich Angst, es zu tun. Was denkst du? Soll ich es machen? Denkst du, ich bekomme es hin?
Leon kam sich ein wenig blöd vor, sie um Rat zu fragen. Obwohl Daphne und er sich eine Wohnung teilten, sie gemeinsam im selben Bett schliefen und er über alles mit ihr reden konnte, weigerte er sich, Daphne als seine Lebensgefährtin zu bezeichnen. Nun schaute sie ihn ein wenig desinteressiert an und unterstrich dieses auch noch, indem sie sich dann an einer höchst unschicklichen Stelle leckte. Aber bei Katzen ließ man ein derartiges Verhalten halt durchgehen.
„Du bist mir ja mal echt eine schöne Hilfe“, sagte Leon und wählte auf seinem Mobiltelefon den Rückruf. „Ist in Ordnung, ich mache es“, sagte er nur kurz, als er hörte wie am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde.
Nur zwanzig Minuten später saß er bereit in einem Taxi, das ihn zur Konzerthalle fahren sollte. Bei sich hatte er nur ein Paar Schuhe, die kleine Reisetasche mit seinem knitterfreien Frack und einige Accessoires. Natürlich nahm der Fahrer die wohl ungünstigste Strecke, und selbstverständlich zeigte Gott seinen ihm eigentümlichen, den Betroffenen oft unverständlichen, Sinn für Humor, indem er just an diesem Abend dafür sorgte, dass ein Radfahrer durch den viel zu kurzen Rock einer jungen Blondine, die gerade ihren Hund spazieren führte, abgelenkt wurde und dadurch den ihm entgegenkommenden Krankenwagen nicht bemerkte. Das Ergebnis waren zwar nur leichte Verletzungen beim Fahrer des Krankenwagens, ein peinlich berührter Radfahrer mit nasser Hose und ein erheblicher Blechschaden bei den drei weiteren im Unfall verwickelten Fahrzeugen. Natürlich hatte es zur Folge, dass der Verkehr zum Erliegen kam und Leon aus erster Hand erfahren durfte, was es bedeutete, Zeit sei relativ. Ganz plötzlich nämlich schien ihm diese wie der sprichwörtliche Sand zwischen den Fingern zu zerrinnen.
Es ist alles gut, sagte er zu sich selbst. Sie wissen, dass du es kannst, deshalb wollen sie dich, nicht weil du der Einzige in unmittelbarer Nähe bist. Die Tatsache untätig in einem Taxi eingesperrt zu sein, ganz allein mit seinen Gedanken, waren für seine innere Unruhe wie ein frischer Luftzug für ein in glimmender Glut geduldig ausharrendes Feuer.
Zunächst überlegte er, ob es sinnvoller war, im Taxi zu verbleiben und darauf zu warten bis der Verkehr wieder normal zu fließen begann oder aber aus dem Wagen zu springen und die Strecke schnellstmöglich zu Fuß zurückzulegen. War es anfangs noch ein vages Gedankenspiel, wurde es nach zehn weiteren Minuten für Leon die scheinbar einzige Möglichkeit doch noch pünktlich einzutreffen. Er bezahlte eiligst den Fahrer, öffnete die Tür, schnappe sich seine Tasche, vergaß seine rahmengenähten Lederschuhe auf der Rückbank und lief schnellstmöglich den vermeintlich kürzesten Weg.
Als er überraschend spät eintraf, pfiff sein Atem wie der alte Teekessel seiner Großmutter es damals immer getan hatte, wenn er als Kind bei ihr zu Besuch war. Allerdings weitaus kraftloser. Von jetzt an hatte er nur noch fünfzehn Minuten Zeit, was ihn beinahe verzweifeln ließ. Man führte ihn eilig zu seiner Garderobe, und Leon hätte sich gerne ein paar Momente gegönnt um sich zu setzen, tief durchzuatmen, sich den Raum genauer anzusehen und einfach mal der Tatsache Respekt zu zollen, dass er zum ersten Mal in seinem Leben eine eigene Garderobe hatte. Leider hatte er auch kein Auge für den großen Blumenstrauß mit der Dankeskarte und der daneben liegenden Tafel Schokolade.
Stattdessen versuchte er seine Gedanken zu ordnen, während er hektisch seine Schuhe von den Füssen schob und sie unachtsam in die Ecke feuerte, bevor er sich dann Hose und Hemd auszog. Zu gerne hätte er wenigstens noch ein Wort an das Ensemble gerichtet bevor das Konzert begann. Ganz besonders hatte er gehofft, ein paar Worte mit dem ersten Pauker, wenn er sich recht erinnerte, hieß er Mario, zu wechseln. Er hörte, dass Mario vor den Auftritten oftmals besonders nervös wurde, und gerade einen nervösen Pauker konnte Leon nun gar nicht gebrauchen. Durch auch nur die kleinste rhythmische Unsicherheit konnte dieser das gesamte Orchester aus dem Takt bringen. Er musste unbedingt wissen, wie viel man ihm heute Abend zumuten konnte.
Es gab durchaus Stücke, die kleinere Fehler verziehen. Warum konnten sie heute auch keine Schostakowitsch-Sinfonie aufführen? Warum mussten es unbedingt die Klassiker sein? Warum ausgerechnet Haydn und Beethoven? Die Leute kannten diese Stücke, und jeder Fehler würde sich bitter rächen. Er mochte sich nur eine Nuance im Tempo verschätzen, und schon würde das Publikum es bemerkten. Sie mussten keine Musiker dafür sein, es lag einfach in der Natur der Sache, dass die Zuhörer es irgendwie unterbewusst merkten, dass etwas nicht stimmig war.
Wo zum Teufel waren seine Schuhe?