Filmfestivaltagebuch (aktuell: 18. Zürich Filmfestival)

Presko

Well-Known Member
Tagebuch zum 12. Zürich Filmfestival

Am 22. September startete das 12. Zürich Filmfestival und ich habe mir seitdem gleich einige Filme angeschaut. Hier einige kurze Reviews.

Aquarius
Regie: Kleber Mendonça Filho
Besetzung: Sonia Braga, Maeve Jinkings, Irandhir Santos, Humberto Carrão
Genre: Drama
Länge: 145 Min
Land, Jahr: Brasilien, Frankreich, 2016
Sprachen: Portugiesisch
Untertitel: Deutsch, Englisch​

Stolz ist sie – und schön wie eh und je – die 60-jährige Witwe Clara, die an gehobener Lage in der brasilianischen Küstenstadt Recife lebt. Ihre Wohnung im Apartmenthaus „Aquarius“ ist über die Jahrzehnte zu einem essentiellen Bestandteil ihres Lebens geworden. Hier hat sie eine Ehe gelebt, Kinder grossgezogen, den Brustkrebs und die wechselvolle Geschichte ihre Landes überstanden. Dem Haus droht allerdings der baldige Abbruch, seit Investoren sämtliche Wohnungen aufgekauft haben, um einen Neubau hinzupflastern. Clara aber weigert sich, den Ort ihrer Erinnerungen zu verlassen, selbst wenn sie sich mit ihrer eigenen Familie, kaltblütigen Investoren und dem politischen Filz ihrer Stadt anlegen muss

Aquarius hat mir sehr gut gefallen. Hauptdarstellerin Sonia Braga füllt ihre Rolle voll aus, auch wenn mir die Hauptfigur nicht immer sympathisch war. Der Film ist ein Appell zu Selbstbestimmung im Alter. Die Grenze zwischen Individualismus und Egoismus ist nicht immer klar, der Film spricht diese Unschärfe ab und zu an, ohne dabei allzu stark in die Tiefe zu gehen. Es geht ganz allgemein um das Thema Selbstbestimmung. Auch Sexualität nimmt einen hohen Stellenwert ein. Dramaturgisch hat der Film vor allem im Mittelteil etwas einen Durchhänget. Er beginnt unheimlich stark mit einem Blick in die Vergangenheit, als Clara noch eine Frau im mittleren Alter war - hübsch, lebenslustig, stark und charmant. Gerade hat sie nach einem Jahr des Kampfes ihren Brustkrebs besiegt (die amputierte Brust bleibt ein Makel, den sie ihr Leben lang belastet). Der starke Anfang bringt einem dieser Frau sofort nahe, was für den Film sehr wichtig ist. Im Laufe des Films nimmt der Konflikt zwischen Clara und der Baufirma immer mehr Platz ein. Die Firma versucht sie mit fiesen Tricks aus ihrer Wohnung zu vertreiben. Die stärksten Momente hat der Film dann, wenn sich Clara zur Wehr setzt, gegen die Bauherren, auch gegen ihre Kinder, die sich um sie Sorgen. Etwas schade ist, dass gegen Ende jede Grauschattierung aufgegeben wird, und die Baufirma zum blossen Bösewicht wird, was in der ersten Filmhälfte noch nicht so eindeutig ist. Das starke Finale, in welchem Clara es den Anzugsträgern noch einmal so richtig zeigt, entschädigt dafür ein wenig.
Aquarius bietet ein tolles Schauspielerensemble, viele sympathische Figuren, tolle Bilder und eine klasse Musikuntermalung. Zudem spricht der Film auch immer wieder die Ungleichheit in der Gesellschaft an. Die Beziehung der wohlhabenden Clara zu ihrer (wenig wohlhabenden) Haushälterin symbolisiert diese Ungleichheit. Hier hätte der Film durchaus noch etwas mehr in die Tiefe gehen und die Ambivalenz seiner Hauptfigur deutlicher machen dürfen.

Trotz leichter Überlänge hat mich Aquarius überzeugt. Starke Schauspieler, schöne Bilder und klasse Soundtrack. 7.5/10 Trailer youtube


Cameraperson

Regie: Kirsten Johnson
Genre: Dokumentarfilm
Länge: 102 Min
Land, Jahr: USA, 2016


Kirsten Johnson arbeitet seit 25 Jahren als Dokumentarfilmerin. «Cameraperson» stellt Johnsons filmische Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Schaffen als Kamerafrau in Form einer vielfältigen Collage dar. Kommentarlos wechseln sich kürzere und längere Sequenzen aus Bosnien, Nigeria, Darfur, Liberia und den USA ab. In Bosnien besucht sie Kriegsopfer und folgt den Spuren sexueller Gewalt, während sie in Darfur vertriebenen Frauen auf der Suche nach Feuerholz begegnet und in Nigeria eine Hebamme bei ihrer Tätigkeit in einer Geburtsklinik porträtiert. Gespräche mit ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter sowie Aufnahmen ihrer Kinder beleuchten ihre privaten Beziehungen.
Im Kern dreht sich «Cameraperson» um die Beziehung zwischen der Frau hinter der Kamera und den Menschen, die sie filmt. Welche Verantwortung trägt die Filmemacherin gegenüber den Menschen vor der Kamera? Was darf sie zeigen und wo zieht sie eine Grenze?
Es sind starke, oft überraschende, manchmal auch irritierende Szenen, die Kirsten Johnson in ihrem Film aneinanderfügt: Der Boxer, der nach dem verlorenen Kampf in der Umkleidekabine wütend um sich schlägt und schliesslich Trost in den Armen seiner Mutter sucht. Das Bild vertriebener Frauen in Darfur, die in ihren Tüchern eingehüllt mit Äxten auf den Stamm eines abgestorbenen Baumes einhacken und dabei, von trotzigem Lachen begleitet, über die arabischen Soldaten fluchen. Oder die nachdenklichen Worte einer Bosnierin, welche die Geschichten der Opfer sexueller Gewalt im Krieg zusammenträgt und von Albträumen verfolgt wird.
Als Filmende findet sich Kirsten Johnson mehrfach in Situationen wieder, in denen es ihr schwerfällt, in der Rolle der Beobachtenden zu verharren. Sei dies, wenn ein kleiner Junge draussen vor einem Bauernhof mit einer Axt spielt, eine junge Frau, die sich für ihre ungewollte Schwangerschaft schämt, vor der Kamera in Tränen ausbricht oder wenn sie Zeuge wird, wie ein Neugeborenes in einer nigerianischen Geburtsklinik unter Sauerstoffmangel mit dem Tod ringt. Die Szene mit dem Baby dauert rund drei Minuten. Die Hebamme erklärt, das Kind müsse an ein Sauerstoffgerät angeschlossen werden, doch die Klinik besitze keines. Die Hilflosigkeit der Kamerafrau greift in diesem Moment auf das Publikum über. Man möchte etwas tun, möchte eingreifen, kann aber letztlich nur wählen, ob man hinsieht oder wegschaut – eindrücklich.

9/10
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Presko

Well-Known Member
So lange ich nicht gestoppt werde, mache ich einfach mal weiter :smile:

Jean of the Joneses

Regie: Stella Meghie
Besetzung: Taylour Paige, Erica Ash, Sherri Shepherd, Gloria Reuben, Michelle Hurst, François Arnaud, Mamoudou Athie
Genre: Tragikomödie
Länge: 86 Min
Land, Jahr: Kanada, USA, 2016​

Jean wird bereits als Nachwuchsautorin gefeiert, steckt aber in einem kreativen Tief. Als wäre dies nicht genug, wird sie auch noch aus der Wohnung ihres langjährigen On-off-Freundes geschmissen. So stolpert die stets stylish gekleidete Mittzwanzigerin durch Brooklyn, täglich auf der Suche nach einem Bett bei einer der sechs anderen Frauen ihrer jamaikanisch-amerikanischen Mittelschichtsfamilie. Männer scheinen im Universum dieser Powerfrauen durchgängig ein Problem zu sein, egal, ob in Form einer ungewollten Schwangerschaft oder ihrer konstanten Abwesenheit. Auch Jean schlägt sich ständig mit ihrer vergangenen Beziehung rum, statt eigene Pläne zu schmieden. Das moderne, dramatisch-komische Portrait einer dysfunktionalen Grossstadtfamilie.

Etwas Woody Allen, etwas Noah Baumbach und das alles aus einer afroamerikanischen Perspektive – fertig ist Jean of the Joneses. Getragen von einem wunderbaren Jazz-Soundtrack und voller schwarzem Humor unterhält der Film wunderbar, bleibt aber stets oberflächlich und lässt über weite Strecken Herz vermissen. Die Hauptfigur Jean mit ihren Neurosen und Lebenszweifeln ist der Schwachpunkt des Films.

7/10

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American Pastoral

Regie: Ewan McGregor
Besetzung: Ewan McGregor, Jennifer Connelly, Dakota Fanning, Uzo Aduba, David Strathairn, Valorie Curry
Genre: Drama
Länge: 109 Min
Land, Jahr: USA, 2016​

Es scheint, als wären Seymour "Swede" Levov und seine Frau Dawn das perfekte amerikanische Vorzeigepaar: Der ehemals umjubelte Sportler, der inzwischen das Geschäft seines Vaters übernommen hat, und die frühere Schönheitskönigin führen mit ihrer Tochter Merry ein geordnetes Leben im New Jersey der 1960er Jahre. Die familiäre Idylle kippt, als die Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg zunehmen und sich ausgerechnet Merry – zum völligen Unverständnis ihrer Eltern – einer radikalen Gruppe anschliesst, die die amerikanische Politik entschieden bekämpft. Als die junge Rebellin in ein tödliches Bombenattentat auf einen Freund der Familie verwickelt wird, taucht sie unter und bricht den Kontakt zur Familie ab. Swede setzt alles daran, seine Tochter wiederzufinden – aber seine Welt gerät zunehmend aus den Fugen. Ewan McGregors erste Regiearbeit ist die lang erwartete Adaption des gleichnamigen Romans von Philip Roth.

Ewan McGregors Regiedebüt und Verfilmung eines allseits hochgelobten Romans von Philip Roth musste bereits heftig Kritik einstecken. Zu recht oder zu unrecht? Schwierig zu sagen. Ich kenne die literarische Vorlage nicht und muss sagen, dass ich nach dem Film doch ziemlich zufrieden war. Trotzdem bin ich sicher, dass McGregor den Stoff in vielerlei Hinsicht poliert und viele Ecken und Kanten abgetragen hat. American Pastoral ist schön gefilmtes amerikanisches Erzählkino, das mich insbesondere gegen Ende stark rührte. Es ist allerdings auch ein wenig ein Ego-Projekt hatte ich den Eindruck, da sich McGregor vor allem selbst inszeniert und die Nebenfiguren eindeutig vernachlässigt. Insbesondere zwei wichtige Hauptfiguren kommen sehr schlecht weg, eine davon ist Jennifer Connellys Rolle. Ewan McGregor selbst ist darstellerisch durchaus passend. Er spielt den amerikanischen Strahlemann, dessen eigentlich perfektes Leben immer mehr auseinanderbricht. Neben den vernachlässigten Nebenfiguren störte mich vor allem der Einsatz des Erzählers zu Beginn und am Ende des Films (dargestellt und gesprochen von David Straithairn). Insbesondere am Schluss erhält der Film durch diesen Erzähler eine unnötig pathetische Note. Trotz allem, vielleicht auch durch meine Unkenntnis des Vorlage war ich sehr zufrieden mit dem Film. Klar, hätten gewisse Themen vertiefter angeschaut werden können, an vielen Stellen traut sich McGregor zu wenig und ist einfach zu brav. Doch das Ende sitzt. Nicht zuletzt darf dem Film angerechnet werden, dass er deutlich macht, dass Radikalisierung und Terrorismus eben kein islamisches Phänomen sind, sondern auf ganz unterschiedlichen Ideologien beruhen können.
Von mir gibts 7.5/10

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Maquinaria Panamericana

Regie: Joaquín del Paso
Besetzung: Javier Zaragoza, Ramiro Orozco, Irene Ramírez
Genre: Tragikomödie
Land, Jahr: Mexiko, 2016
Kamera: Fredrik Olsson​

In der Maschinenfabrik „Maquinaria Panamericana“ klingeln ständig Telefone, aber das interessiert niemanden. Ohnehin ist dies vielmehr ein Ort zum Schwatzen, für den Austausch von Katzenbildern oder ein Nickerchen zwischendurch. Zum Teufel mit Produktivität und Effizienz – schliesslich sind die Gehälter Ende Monat auf dem Konto. Doch dann stirbt eines Tages Don Alejandro, der gutmütige Patron – und mit ihm die Illusion eines sorgenfreien Lebens. Haarsträubende Satire auf eine (mexikanische) Gesellschaft, die die Augen vor der Realität verschliesst, solange noch eine Party gefeiert werden kann.

Maquinaria Panamericana» ist das Spielfilmdebüt des mexikanischen Regisseurs Joaquín del Paso – eine skurrile und liebenswürdige Komödie. Der Film erzählt von einer Gesellschaft, die ihre Augen vor der Wirklichkeit verschliesst und sich einer Auseinandersetzung mit ihr verweigert. Del Pasos Film verkündet das Ende des Unternehmertums als einer Art Grossfamilie, in der die Mitarbeitenden den Grossteil ihres Erwerbslebens verbringen und sich mit der Firma identifizieren. In der modernen Arbeitswelt muss der väterliche Patron Managern, Investoren und Aktionären weichen, die das Unternehmen nach den Prinzipien der Effizienz- und Produktivitätssteigerung führen.
Diesen Abgesang inszeniert Joaquín del Paso mit anarchischem Witz und einem herrlich schrägen Figurenensemble.
8/10

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Paterson
Regie: Jim Jarmusch
Besetzung: Adam Driver, Golshifteh Farahani, Barry Shabaka Henley
Genre: Drama
Land, Jahr: USA, 2016
Kamera: Frederick Elmes​

Jeden Morgen um kurz nach sechs steht Paterson auf, packt seine grau-metallene Lunchbox und beginnt seine Schicht als Busfahrer. Sein Alltag ist so unaufgeregt wie die Route der Buslinie 23, die er Tag für Tag in der gleichnamigen Kleinstadt „Paterson“ abfährt. Die Feierabende verbringt er mit seiner stets liebevollen Frau Laura, die ein Faible für Schwarz-Weiss-Muster hat, mit ihrer störrischen Bulldogge Marvin und mit exakt einem Bier im Pub. In Patersons Leben scheint es keinen Platz für grosse Dramen zu geben. Kaum jemand würde vermuten, dass ausgerechnet in ihm ein geheimer Poet steckt: In seinen Arbeitspausen greift Paterson zum Notizblock und bricht mit schlichten Versen aus dem Alltagstrott aus.

1991 brachte Jim Jarmusch mit «Night on Earth» seine Liebeserklärung an die Taxifahrer dieser Welt ins Kino. Fünfzehn Jahre später nimmt er sich nun des Busfahrers an. Gemütlich, langsam und auch etwas schwerfällig kurvt der Bus durch die Strassen, genauso wie sich Adam Driver in der Rolle Patersons durch seinen Alltag bewegt. Sanft und liebenswürdig kommt der 1,89 Meter grosse Hauptdarsteller daher, der vor kurzem noch den postpubertären Bösewicht im neuesten «Star Wars»-Film gespielt hat. Nein, dieser Paterson kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Sein Alltag ist so gleichbleibend wie die Route, die er mit dem Bus abfährt. Immer zeitgleich von A nach B.

Es sind vor allem die sympathischen Nebenfiguren, die mit ihren kleinen Geschichten und den Jarmusch-typischen Dialogen für Abwechslung und lakonischen Witz sorgen. Jim Jarmusch ist mit «Paterson» ein zauberhafter Film voller sanften Humors gelungen, welcher der Poesie des Alltäglichen gewidmet ist.

9/10
Clip youtube
 

Clive77

Serial Watcher
Presko schrieb:
So lange ich nicht gestoppt werde, mache ich einfach mal weiter :smile:
Darum will ich aber auch bitten - also, zum Weitermachen! :biggrin:

Zürich ist etwas weit weg von meiner Haustür, da schadet etwas Resonanz zu den Filmen dort sicher nicht. Finde es übrigens toll, dass du bei allen Filmen gut ins "Detail" gehst (ohne großartig zu spoilern). Bitte weitermachen. :smile:
 

Presko

Well-Known Member
Clive77 schrieb:
Darum will ich aber auch bitten - also, zum Weitermachen!

Zürich ist etwas weit weg von meiner Haustür, da schadet etwas Resonanz zu den Filmen dort sicher nicht. Finde es übrigens toll, dass du bei allen Filmen gut ins "Detail" gehst (ohne großartig zu spoilern). Bitte weitermachen.

Dankeschön :biggrin:


Vanatoare
Regie: Alexandra Balteanu
Besetzung: Corina Moise, Iulia Lumanare, Iulia Ciochina
Genre: Drama
Land, Jahr: Deutschland, 2016
Kamera: Matan Radin​

Lidia, die Mutter zweier Kinder, hält die gerupfte Taube mit blosser Hand ins Feuer ihres Gasherds, wendet sie hin und her. Dieses eindringliche Bild sagt mehr als tausend Worte und lässt die Zuschauer erahnen, in welch sozialer Not sich Lidia und ihre Familie befinden. Kurz darauf fährt sie mit ihrer Kollegin Denisa mit dem Bus zu einer Autobahnauffahrt in der Nähe von Bukarest. Hier herrscht ein eisiger Wind. Die beiden unscheinbaren Frauen suchen einen Platz abseits der Strasse, um sich umzuziehen. Ihre dicken Pullover tauschen sie gegen körperbetonte Tops, die Schuhe gegen High Heels. Schliesslich stellen sie sich unter der Autobahnbrücke an den Strassenrand und warten auf vorbeifahrende Freier.

Die junge Vanessa ist ebenfalls auf der Suche nach Kundschaft – eine unliebsame Konkurrenz für Lidia und Denisa. In Rumänien ist Prostitution verboten, weswegen die drei Frauen wenig erfreut sind, als zwei Polizisten auftauchen und sie kontrollieren. Die beiden Beamten erklären, dass sie das Geld, das die Frauen an diesem Tag verdient haben, beschlagnahmen müssten. Denisa und Lidia beschuldigen die Polizisten, das Geld in die eigene Tasche zu stecken, und drohen damit, sie zu melden. Die Situation eskaliert.
«Vanatoare» ist ein durch und durch trostloser Film, der keinen Hoffnungsschimmer zulässt. In streng dokumentarischem Stil folgt die Kamera den drei Frauen, über die wir nur sehr wenig erfahren. Minimalistisch in Bezug auf Inhalt, Dramaturgie und Inszenierung, sind die 75 Minuten Film alles andere als unterhaltsam.

Erst als im letzten Drittel die Polizisten die Szenerie betreten, kommt für einen kurzen Moment so etwas wie Spannung auf. Hier sind es nicht in erster Linie die Freier, welche die Frauen ausbeuten, sondern die Polizeibeamten. Alexandra Balteanus Film ist ein Appell gegen die gesellschaftliche und rechtliche Stigmatisierung der Prostituierten. Der jungen Regisseurin gelingt es, die soziale Kälte und Ausweglosigkeit, in der sich ihre drei Protagonistinnen befinden, für das Publikum spürbar zu machen. Ob man sich als Zuschauer darauf einlassen mag, ist allerdings eine andere Frage. Entsprechend schwierig fällt mir die Bewertung. Grundsätzlich hätte ich mir für den Film noch irgendetwas mehr gewünscht - irgendein Anker, der dem ganzen Inhaltlich noch irgendwas gibt. Sei das mehr Hintergrund zu einer Hauptfigur oder visuell etwas mehr Originalität - das Ende ist in der Hinsicht allerdings doch recht gut gelungen.
Trotzdem mir ist es dann inhaltlich doch zu leer geworden, weswegen ich 5.5/10 Punkte gebe.

kurzer Clip



Miséricorde

Regie: Fulvio Bernasconi
Besetzung: Jonathan Zaccaï, Evelyne Brochu, Daniel Gadouas, Charlie Arcouette, Marie-Hélène Bélanger, Marthe Keller, Marco Collin
Genre: Thriller
Länge: 90 Min
Land, Jahr: Schweiz, Kanada, 2016​

Thomas aus Genf hat die letzten drei Monate mit Angeln im kanadischen Quebec verbracht. Am Tag seiner geplanten Rückreise stösst er auf eine Unfallstelle: Auf der Strasse liegt der 13-jährige Muk aus dem nahen Indianerreservat – der unfallverursachende Laster hat Fahrerflucht begangen. Obwohl Thomas zu Hause in der Schweiz erwartet wird, entscheidet er sich kurzfristig, seine Rückreise zu verschieben. Er verspricht Muks Mutter, den Fahrer des Lasters auf eigene Faust zu finden. Mit seiner Suche erweckt Thomas aber das Misstrauen der lokalen Polizistin Laurie, die ihn stets im Auge behält. Wer ist dieser schweigsame Mann und was treibt ihn dazu, sich in einen Fall einzumischen, der ihn eigentlich gar nichts angeht?

Die schweizerisch-kanadische Produktion ist für mich der bisher schwächste Beitrag am diesjährigen ZFF. Das ganze gehört eher als TV-Film ins öffentlich-rechtliche Abendprogramm als ins Kino. Der Film widmet sich drei Ebenen. Einerseits der Trauer der indigenen Familie des verstorbenen Jungen; zum zweiten die Suche nach dem Täter und drittens um die Themen Schuld, Vergebung und das Geheimnis von Thomas, das in der zweiten Hälfte offenbart wird. Der Film dümpelt recht lustlos dahin. Die erste Hälfte, die in Richtung Thriller geht, baut null Spannung auf und die zweite Hälfte, die mehr Drama um Schuld und Vergebung sein will, ist pathetisch, plakativ und zu theatralisch. Zudem ist der Film voller Klischees und insbesondere visuell weiss der Regisseur kaum was mit der Landschaft Kanadas zu machen. Die Darsteller sind ok, es ragt aber niemand besonders heraus. Lobend erwähnen möchte ich allerdings den Soundtrack, der ab und an richtig toll gelungen ist und düstere Stimmung erzeugt.
4/10

Clip


L'ame du tigre
Regie: François Yang
Besetzung: Frédéric Siuen, Audrey Bastien, Xin Wang, Bing Yin, Marianne Basler
Genre: Drama
Länge: 91 Min
Land, Jahr: Schweiz, Belgien, 2016​

Im Kletter-Urlaub mit seiner Freundin Eloane erhält Alex Chen einen schockierenden Anruf: Sein Bruder Jun ist tot. Zurück im chinesischen Viertel von Paris, will Alex herausfinden, was passiert ist. Seine französische Mutter zieht sich jedoch in Trauer zurück und auch sein chinesischer Vater verweigert ihm nähere Auskunft. Die traditionelle Totenwache beginnt, und Alex muss sich mit seiner Verwandtschaft und einer Kultur auseinandersetzen, mit der er kaum vertraut ist. Dass sein Bruder an einer plötzlichen Hirnblutung gestorben ist, kann er jedoch nicht glauben, und er beginnt immer tiefer in der Familiengeschichte seines Vaters zu graben. Hilfe bekommt Alex von seiner ebenso anziehenden wie mysteriösen Cousine Lili, die mehr zu wissen scheint als er …

Gleich das Positivste vorneweg: Visuell hat mir der Film sehr gut gefallen. Francois Yang hat ein tolles Auge und bringt tolle, atmosphärische Bilder auf die Leinwand. Der Regisseur erzählte, dass es im Kern den Umgang mit dem Tod eines geliebten Menschen ginge, auch er habe damals seinen Bruder verloren. Leider ist diese Auseinandersetzung mit dem Tod und Trauer im Film allerdings kaum zu spüren. Stattdessen konstruiert der Film ein unnötiges Geheimnis um den Tod des Bruders, das es für die Hauptfigur zu lüften gilt. Die Hauptfigur selbst kommt zudem ziemlich unsympathisch daher. Er, der eigentlich eine Freundin hat, pendelt mit seiner chinesischen Cousine an und beginnt mit dieser eine Affäre. Sein Verhalten ist hier kaum wirklich nachvollziehbar. Das spannendste ist die Darstellung des Spannungsverhältnisses, in dem sich Chen befindet, zwischen französischer Identität und chinesischer Kultur. Er selbst hat zu zweiterem kaum noch Bezug, was die Beziehung zu seinem Vater belastet. Denn dieser fährt eine grosse, traditionell chinesische Trauerzeremonie auf, die sich über mehrere Tage erstreckt und damit auch seine Frau (Chens Mutter) belastet, die einfach mal in Ruhe trauern möchte. Hauptdarsteller Frédéric Siuen spielt den Chen zurückhaltend und stoisch, ohne Ausstrahlung. Leider bleibt er entsprechend blass und man baut kaum Beziehung zu ihm auf.
Letzten Endes kann die vor allem visuell starke Inszenierung, nicht über das konstruierte Drehbuch hinwegtäuschen. Der Film ist zu verzettelt und befasst sich mehr mit konstruierten Geheimnissen als mit der Psychologie der Figuren. Das ist schade, denn interessante Themen liegen dem Film genügend zugrunde.
5.5/10

Interview mit Regisseur Francois Yang
 

Presko

Well-Known Member
CLASH / ESHTEBAK
Regie: Mohamed Diab
Besetzung: Nelly Karim, Hany Adel, Tarek Abdel Aziz, Ahmed Malek, Ahmed Dash
Genre: Drama
Länge: 99 Min
Land, Jahr: Ägypten, Frankreich, Deutschland, 2016​

Ein Tag im Jahr 2013: Ägypten versinkt nach Volksaufstand und Militärputsch im Chaos. Während sich Mursis Anhänger und Militärangehörige auf den Strassen bekämpfen, finden sich Menschen unterschiedlichster Lager in einem Gefängniswagen der Polizei eingepfercht: Muslimbrüder, Militärs, Christen, Progressive und Konservative, Frauen und Männer, Gewaltbereite und Zurückhaltende – ein Konzentrat der ägyptischen Gesellschaft. Im Laufe des Tages steigt die Ungeduld – und die Spannung.

Clash ist neben Cameraperson und Paterson mein bisheriges Highlight am diesjährigen ZFF. Mohamed Diab gelingt es auf glanzvolle Weise das Chaos dieser Tage filmisch aufzufangen. Man fühlt sich als Zuschauer wirklich wie mittendrin, obwohl der Film im inneren des Gefängniswagens spielt. Auch grossartig, wie es Diab schafft, ein solch grosses Figurenensemble auf so engem Raum auftreten zu lassen und so vielen Figuren Raum zu geben. Mit wenigen kleinen Szene, werden uns ganz unterschiedliche Figuren und ihre Geschichten näher gebracht. Der Film hat mehrere eindrucksvolle Höhepunkte, die unglaublich packend sind.
Der Gefängniswagen bleibt wegen einem Motorschaden mitten auf der Strasse stehen, in brütender Sonne. Neben dem Wagen, auf dessen Insassen sich der Film konzentriert, hält ein anderer noch überfüllterer Wagen. Die Insassen beider Wagen treten miteinander in Kontakt. Im zweiten Wagen wird die Luft so dünn, dass die Insassen immer stärker unter Sauerstoffmangel leiden. Die Situation spitzt sich so zu, dass sie panisch um HIlfe schreien - bis es stil wird, eine unheimlich bedrückende Szene
  • Der Gefängniswagen und die ihn begleitenden Militärs geraten in einen Hinterhalt, wo sie von Heckenschützen ins Visier genommen werden
Zwischen den Insassen des Wagens kommt zum ersten Mal so etwas wie lagerähnliche Harmonie auf. Sie tauschen sich aus, lachen. Eine Szene, die nicht unglaubwürdig sondern stimmig eingebettet ist und berührt
Das Ende
Der Weg des Gefängniswagens endet inmitten einer Demonstration. Wahrscheinlich sind es Militäranhänger. Die Tür des Wagens ist an dieser Stelle des Films bereits aufgebrochen. Doch das Chaos ist so riesig, dass der wütende Mob davon ausgeht, dass es sich bei den Insassen um Muslimbrüder handelt. Sie beginnen von aussen, die Insassen herauszuzerren. Die Szene erinnert an einen Zombiefilm. Draussen die hereindringende Zombiehorde - innen die potenziellen Opfer. Der Film endet in diesem Chaos

Kritisiert werden kann, dass der Film im letzten Drittel etwas repetitiv wird mit gewissen Konfliktsituationen. Das ist aber Gemecker auf sehr hohem Niveau.
Mit seiner komplexen Figurenkonstellation schafft der Film ein eindringliches Portrait einer zerrissenen völlig polarisierten und aufgehetzten Gesellschaft. Es gibt hier keine Bösen - keine Guten, nur Getriebene. Ein ungemein kluger, dichter und packender Film.

9/10

Trailer mit franz. Untertiteln


Imperium

Regie: Daniel Ragussis
Besetzung: Daniel Radcliffe, Toni Collette, Tracy Letts, Sam Trammell
Genre: Thriller
Länge: 109 Min
Land, Jahr: USA, 2016​

FBI-Agent Nate Foster ist jung, idealistisch, hochintelligent – und in seinem Job unterfordert. Nicht lange unbemerkt bleibt sein Potential auch von seiner Vorgesetzten Angela, die ihm prompt einen neuen, äusserst riskanten Auftrag erteilt: Foster soll undercover in eine radikale White-Supremacy-Gruppierung eingeschleust werden, die laut unsicheren Quellen einen Bombenanschlag plant. Um sich glaubhaft unter die Neonazis zu mischen, muss Foster nun an seine körperlichen und psychischen Grenzen gehen: Kahlkopf-Rasur, Tätowierungen und aggressive Demo-Märsche sind nur einige Dinge, an die er sich gewöhnen muss. Je mehr Foster über das rechtsextreme Netzwerk herausfindet, desto stärker wächst auch das Misstrauen seiner „neuen Freunde“, die Foster mehr und mehr in eine Sackgasse drängen.

Imperium ist ein durch die Bank spannender Undercover-Thriller, der die White-Supremacy-Welt als recht komplex darstellt. Es gibt eben nicht nur die dumpfen Nazis, sondern durch aus kulturell gebildete Leute, die sich dieser Ideologie angeschlossen haben. Der Film portraitiert die Anhänger also nicht nur als gewaltbereite Bulldoggen, sondern teils als durchaus sympathische Leute, die das Richtige tun wollen. Genau hier setzt für die Hauptfigur der Konflikt ein. Er merkt, das sind nicht einfach Arschlöcher, er kann Verständnis für sie aufbringen, merkt aber auch, dass es sie zu tief in ihrer Ideologie feststecken, um sie mit rationalen Argumenten zu überzeugen. Der Film ist durch die Bank gut gespielt. Radcliffe ist sehr gut, super fand ich aber vor allem Toni Collette als seine Vorgesetzte. Ich hatte das Gefühl, sie hatte richtig Spass und hat eine eigentlich eher langweilige Rolle super ausgefüllt und es macht einfach Spass ihr zuzusehen.
Ich will jetzt aber auch nicht den Film zu sehr loben. Letztlich bleibt es ein recht konventioneller Thriller, mit den üblichen Zutaten und einem sehr unspektakulären, aber trotzdem spannenden Finale. Die Dramaturgie setzt auf die typischen Elemente - immer mal wieder muss Foster um seine Tarnung fürchten, er kommt in Loyalitätskonflikte, gerät in brenzlige Situationen etc. Dabei läuft ihm auch alles ein bisschen zu einfach. Insbesondere das Einschleusen geht viel zu schnell. Auf physische Gewalt verzichtet der Film beinahe gänzlich. Es geht weniger um die physische Brutalität der Nazis, als um ihre brandgefährliche Ideologie und ihre potenzielle Gewaltbereitschaft als ständige Bedrohung.

Wie gesagt ein unterhaltsamer Thriller, der mit tollen Darstellern und seiner Darstellung der White-Supremacy-Bewegung für seine allzu konventionelle Dramaturgie entschädigt.

7/10
 

Jay

hauptsache bereits gesehen
Teammitglied
Presko schrieb:
So lange ich nicht gestoppt werde, mache ich einfach mal weiter :smile:
Gerne!

Wusste nicht, dass McGregor Pastoral selbst inszeniert hat. Hast dir da bisher auf jeden Fall interessante Filme ausgesucht, obwohl ich persönlich nicht der größte Jarmusch Fan bin.

Der Regisseur des ersten Beitrags heißt wirklich Kleber mit Vornamen?
 

Presko

Well-Known Member
13. Ausgabe läuft. Hier ein paar erste Eindrücke:

The Glass Castle
Regie: Destin Daniel Cretton
Darsteller: Brie Larson, Naomi Watts,
Woody Harrelson

Inhaltsangabe Filmfestival
Ein Schloss aus Glas wäre die Erfüllung all ihrer Träume. Doch wie viele der Versprechen ihres dem Alkohol verfallenen Vaters Rex wird sich auch dieses nie bewahrheiten. Mit ihm, Mutter Mary Rose und ihren drei Geschwistern zieht Jeannette schon als kleines Kind unentwegt durch den Süden der USA – getrieben von immer neuen Schulden und der Hoffnung, an einem neuen Ort das heimische Paradies zu finden. Zwischen der unerschütterlichen aber zerstörerischen Liebe des Vaters und dem egomanischen Verhalten der Mutter muss sich Jeannette den Weg in ihr eigenes Leben bahnen.

Meinung zum Film
Ich hatte mich sehr drauf gefreut. Woody Harrelson sowie Brie Larson sehe ich immer gerne und Short Term 12, desselben Regisseurs gehört zu meinen Lieblingsfilmen. Beste Vorzeichen also, doch der Film ist dann doch eher ernüchtern. Übrigens auch im Bezug auf die darstellerischen Leistungen. Ab und an sind sie richtig stark, insbesondere in den kleinen, intimen Vater-Tochter-Szenen. Aber gerade Woody Harrelson trägt im Film manchmal zu dick auf und die Perücke, die er tragen muss und die sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder etwas verändert, schaut auch eher doof aus. Das Problem des Films ist, dass vieles oft unglaubwürdig und aufgesetzt wirkt. Der Schwerpunkt liegt auf den Kindheitserinnerungen, die Szenen in der Gegenwart sind mit die Schwächsten. Trotzdem zeigt der Film immer mal wieder in einzelnen Szenen, was da für ein potenziell grossartiger Stoff drin versteckt ist, leider kommt er nur selten kurz zur Geltung.

5/10


Borg/McEnroe
Regie: Janus Metz
Darsteller: Shia LaBoeuf, Sverrir
Gudnason, Stellan Skarsgård

Inhaltsangabe Filmfestival
Wimbledon, 1980. Wie Eis und Feuer stehen sich zwei leidenschaftliche Sportler gegenüber: Auf der einen Seite der stets kühl und besonnen wirkende Schwede Björn Borg, der den Tenniszirkus seit Jahren mit strategischem Tennis dominiert. Auf der anderen Seite John McEnroe, ein aufstrebender, genauso hitzköpfiger wie exzentrischer Newcomer aus New York, der nicht nurdie Weltrangliste, sondern auch die Herzen der Mädchen im Sturm zu erobern scheint. Doch trotz der Tatsache, dass sich die beiden allzu unterschiedlichen Rivalen im grossen Wimbledon-Finale ein medial aufgebauschtes und unvergessliches Tennisduell liefern werden, verbindet die beiden Sportler viel mehr, als man auf den ersten Blick ahnen könnte …

Meinung
Hat mich sehr positiv überrascht. Die beiden Hauptdarsteller machen ihre Sachen sehr gut, wobei Sverrir Gudnason dem damaligen Björn Borg wirklich auf unglaubliche Weise gleicht. Neben der Schauspielerischen Leistung ist der Film auch visuell wahnsinnig stark. Etwas oberflächlich bleibt hingegen das Drehbuch, sowohl in seiner Psychologisierung der beiden Rivalen als auch, bzw. insbesondere bei den Nebenfiguren – die bleiben sehr blass. Ein weiterer kleiner Wehrmutstropfen: Dem Film gelingt es gerade beim Spiel selbst nicht so richtig, die Eleganz und Faszination des Sports zu transportieren. Zu schnelle Schnitte und insbesondere im überlangen Finalmatch viel zu viel inszenatorischer Firlefanz und eine total übertriebene Dramatisierung ermüden dann doch ziemlich.

7/10


Three Billboards Outside Ebbin, Missouri
Regie: Martin McDonagh
Darsteller: Frances McDormand, Woody
Harrelson, Sam Rockwell, Peter Dinklage,
Abbie Cornish

Inhaltsangabe Filmfestival
Mildred Hayes’ Geduld hat ein Ende. Sieben Monate nachdem ihre Tochter ermordet wurde, ist die Polizei noch immer keinen Schritt weiter. So entscheidet sich die eigenwillige Aussenseiterin, drei riesige Plakatwände zu mieten, um den Polizeichef William Willoughby mit einer deutlichen Nachricht öffentlich blosszustellen und endlich zum Handeln zu zwingen. Willoughby, ein äusserst beliebter Mann, der seiner Arbeit nicht ohne Stolz nachgeht, reagiert auf die Provokation ganz anders als erwartet. Aber der Unmut über diese Aktion, der im Polizeirevier und bald in der ganzen Kleinstadt losbricht, setzt einen Teufelskreis aus Gewalt und Ausgrenzung in Gang und wird das Leben an diesem Ort für immer verändern.

Meinung
Das erste grosse Highlight. Der Film war fantastisch. Eine grossartige Mischung aus rabenschwarzer Kleinstadtgroteske und moralischem Drama. Toll gezeichnete und geschriebene Figuren – bis auf die Nebenrollen super besetzt. McDormand spielt einen ähnlichen Typus Frau (stark und grumpy) wie schon zuvor und Woody Harrelson bietet eine seiner sympathischsten und bewegendsten Leistungen. Nicht zu vergessen Sam Rockwell, dessen Figur eine tiefgehende Wandlung durchmacht und die glaubwürdig transportiert wird. Ebenfalls witzig der kurze Auftritt von Peter Dinklage. Die Handlung selbst ist vielschichtig und kann mit überraschenden Momenten punkten. Und zum Schluss noch erwähnenswert: Das Ende ist richtig stark – da bin ich echt gespannt, wie ihr es finden werdet.

Von mir gibts 10/10
 

Presko

Well-Known Member
Ein paar weitere Eindrücke:

Shock and Awe
Regie: Rob Reiner
Darsteller: Woody Harrelson, James
Marsden, Rob Reiner, Milla Jovovich,
Jessica Biel, Tommy Lee Jones

Inhaltsangabe Filmfestival
Unmittelbar nach 9/11 beginnt die USRegierung unter George W. Bush mit den Vorbereitungen für eine Invasion in den Irak. Ohne konkrete Beweise für dessen Besitz von Massenvernichtungswaffen wird eine Kampagne aufgebaut, die sich fast der gesamte amerikanische Medienapparat zu eigen macht. Vier unerschrockene Reporter der Nachrichtenagentur Knight Ridder lassen sich jedoch nicht in die Propaganda einspannen. Sie stellen Fragen, die niemand anderes stellen will, und berichten leidenschaftlich über die zweifelhafte Grundlage der Kriegspläne. Unter grossem Druck bewahren sie ihre Integrität – auch wenn sie dafür Spott und Hass ernten.

Meinung
Also am ZFF kam der Film sehr gut an. An der World Premiere soll es Standing Ovations gegeben haben und auch beim Press Screening wurde am Schluss geklatscht. Ich behaupte mal, dass das weniger an der Qualität des Films, sondern an seiner sympathischen Message liegt. Am besten lässt sich der Film mit Spotlight vergleichen, bei dem es ja um die Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der amerikanischen Kirche durch Journalisten ging. Hier bei Shock and Awe geht es also um die Kritik an der amerikanischen Regierung und ihrer Politik nach 9/11 und insbesondere ihre Vorbereitungen für den Irakkrieg. Im Vergleich mit Spotlight werden die Schwächen aber schnell ersichtlich. Das fängt schon beim Cast an, das bei Spotlight einfach phänomenal war und bei Shock and Awe höchsten gut ist. Klar, ich sehe Woody Harrelson gerne und er ist in dem Film wirklich witzig, aber auch nicht viel mehr. Marsden ist so blass wie meistens in Filmen und auch Tommy Lee Jones punktet zwar mit Charisma, aber eine grosse schauspielerische Leistung steckt da nicht dahinter. Übrigens hat sich Rob Reiner selbst eine der Hauptrollen auf den Leib geschrieben, er spielt den sympathischen Chefredaktoren. Durchaus gut, aber einem Michael Keaton in Bestform kann er halt nicht das Wasser reichen.
Der Film hat aber noch viele andere Probleme. Einerseits die Thematik: Es packt einfach nicht so. Es gibt nicht diesen einen Fall, den sie aufdecken wollen, wie in Spotlight, auf den sich die Story konzentriert. Sondern es ist eine Phase, in der die Redaktion verschiedene Artikel schreibt und eine ganze Legislatur kritisch begleitet. Da kommt einfach weniger Spannung auf, weil es nicht auf diese eine grosse Story hinausläuft. Auch die Anfeindungen, welche die Journalisten erfahren, werden zwar angesprochen, kommen aber nie so richtig packend rüber.
Ein anderes Problem sind Dialoge und Nebenfiguren, die oft aufgesetzt wirken. Zwei Beispiele: Marsdens Charakter verliebt sich in eine Frau, die ihn während einem Date damit beeindruckt, dass sie ihm die Lage im Irak betreffend Schiiten und Sunniten erklärt. In Wahrheit richtet sich diese Geschichtslektion natürlich an den Zuschauer. Zweites Beispiel: Woody Harrelsons Partnerin stammt aus dem ehemaligen Yugoslawien, welche stets Parallelen zwischen den Ereignissen in den USA und dem extremen Nationalismus zieht, welcher ihr Land in die Bürgerkriegswirren geführt hat. Dann gibt es da noch den Subplot um einen jungen Soldaten, der durch eine Bombe im Irakeinsatz im Rollstuhl landet – das ist weder spannend noch besonders bewegend, sondern scheint einfach da zu sein, um den verletzten Veteranen Tribut zu zollen. Auch das Ende, dass den gleichen Zweck erfüllen soll, wirkt aufgesetzt und macht rein von der Story her keinen grossen Sinn.

Insgesamt gut gemeint, aber nicht so toll umgesetzt. Kein schlechter Film, das sicher nicht. Ich wurde gut unterhalten und die Message ist auch wichtig. Aber eben im Vergleich etwa mit Spotlight treten die Schwächen deutlich zutage.

6.5/10


Daphne
Regie: Peter Mackie Burns
Darsteller: Emily Beecham, Geraldine
James, u.a.

Inhaltsangabe Filmfestival
Die Arbeitskolleginnen in einem trendigen Londoner Restaurant gehen Daphne auf die Nerven. Die Typen wollen zu wenig oder zu viel. Und ihre Mutter, die gerne ihre Freundin wäre, ist meistens auch nicht auszuhalten. Mit ihren 31 Jahren weiss sich Daphne aber gegen alle Unzulänglichkeiten des Lebens zu wehren: Mit trockenen Sprüchen, uninteressierten Blicken oder notfalls mit jeder Menge Alkohol. Als sie eines Nachts Zeugin eines schockierenden Raubüberfalls wird, weiss sie sich aber nicht länger selbst zu helfen und schlittert langsam, aber sicher in die Krise.

Meinung:
Ein kleines feines Charakterporträt einer jungen Frau, die mit sich und der Welt hadert. Entfremdet von ihrer Umwelt und den Menschen. Es war einfach schön, die 90 Minuten lang Emily Beecham zuzuschauen, die ihre Figur toll spielt. Eine grosse Handlung gibts eigentlich gar nicht. Man folgt ihr halt einfach eine Weile lang und schaut zu, wie sie durch ein schlimmes Erlebnis durchgerüttelt wird. Der Film verzichtet auf eine starke Dramatisierung des Ganzen und auch die Entwicklung der Figur wird nur fein angedeutet. Mir gefiel das aber sehr gut und ja, einfach ein guter Film.

7.5/10


Menashe
Regie: Joshua Z. Weinstein
Darsteller: Menashe Lustig, Ruben Niborski

Inhaltsangabe Filmfestival
Das Leben der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde in Borough Park, Brooklyn, ist von strengen Regeln geprägt, die auch vor Schicksalsschlägen keinen Halt machen. So ist der eigentlich nicht ganz so orthodoxe, sympathische Aussenseiter Menashe nach dem Tod seiner Frau gezwungen, den eigenen Sohn in die Familie seines Schwagers zu geben, da Kinder – so sehen es die alten Traditionen vor – nicht in einem Haushalt ohne Mutter aufwachsen dürfen. Als ihm der Rabbi eines Tages dennoch die Chance einräumt, seinen Sohn wenigstens für eine Woche bei sich aufzunehmen, ist Menashe gefordert: Es gilt, seinen unstrukturierten Arbeitsalltag, die elterliche Verantwortung und die Suche nach einer Frau unter einen Hut zu bringen.

Meinung
Ein toller und ein aussergewöhnlicher Film in vielerlei Hinsicht. Besetzt mit Laiendarstellern – ultraorthodoxen Juden, die zu einem grossen Teil selbst noch nie im Kino waren, wie der Produzent und Drehbuchautor im Q and A im Anschluss an den Film verriet. Der Film ist auf jiddish gedreht, was ebenfalls viel Charme hat. Die Story beruht auf dem Leben des Hauptdarstellers, der auch in echt Menashe heisst und bis heute nicht wieder geheiratet hat. Toll an dem Film ist, mit welchem Respekt und welcher Wertfreiheit der Film einerseits in diese uns fremde Lebenswelt eintaucht und andererseits sich trotzdem nicht scheut kontroverse Seiten der ultraorthodoxen Lebensweise anzusprechen. Aber eben nicht mit dem Zeigefinger! Die Laiendarsteller sind unglaublich gut. Insbesondere Menashe und der Junge, der seinen Sohn spielt – toll! Die Dialoge sind auch auf den Punkt, mit viel Witz und Empathie. Überhaupt sind der Film und seine beiden Hauptfiguren einfach wahnsinnig sympathisch, wirken stets glaubwürdig und echt.
Der Produzent hat erzählte, dass es für die Schauspieler Probleme bedeuten konnte, am Film mitzuwirken, da so ein Film von vielen in den orthodoxen Gemeinschaften nicht gerne gesehen wurde. So seien einige auch kurz vor Drehstart abgesprungen. Auch Hauptdarsteller Menashe hätte nach Erscheinen des Films Probleme bekommen und wäre anfangs fast aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden. Das Team musste oft die Drehorte wechseln, weil es sich Leute, welche die Räumlichkeiten zur Verfügung stellten, immer wieder anders überlegten. Auf dem Set muss zudem dauernd Hektik geherrscht haben. Der Produzent erzählte, die vielen orthodoxen Juden am Set hätten jede Szene im Drehbuch auseinandergenommen und dauernde Diskurse geführt, ob die jeweilige Darstellung korrekt sei oder nicht.
Das Resultat kann sich sehen lassen, eine wunderbare leise Tragikomödie mit viel Charme.

8.5/10
 

Jay

hauptsache bereits gesehen
Teammitglied
Three Billboards Outside Ebbin, Missouri klingt hervorragend, und auch gut, dass der neue LaBeouf was geworden ist. Schaust du dir auch Killing und Molly's Game an?
 

Presko

Well-Known Member
Jay schrieb:
Three Billboards Outside Ebbin, Missouri klingt hervorragend
Unbedingt!

Jay schrieb:
Schaust du dir auch Killing
... of a sacred deer? Ich glaube, der steht am Donnerstag auf dem Programm

Jay schrieb:
und Molly's Game an?
War eigentlich für morgen eingeplant, aber irgendwie reizt mich der Film grade so gar nicht.

Machines
Regie: Rahul Jain

Inhaltsangabe Filmfestival
Es dröhnt und rattert, knirscht und zischt, raucht und plätschert. Wir schweben durch die Gänge einer gigantischen Textilfabrik im indischen Bundesstaat Gujarat, wo die Maschinen 7 Tage die Woche 24 Stunden laufen. Tageslicht dringt kaum in diesen ganz eigenen Kosmos. Hier arbeiten Menschen: In 12-Stunden-Schichten gehen sie fleissig und vif, übermüdet und benommen oder stoisch ihrer Arbeit nach. Der Lohn reicht knapp zum Überleben – oder auch nicht

Meinung
Dieser Film, insbesondere auch wegen dem anschliessenden Q and A ist definitiv etwas, das mir noch lange in Erinnerung bleiben wird. Den Film selbst mag ich eigentlich gar nicht so recht bewerten. Es ist ein anstrengender Film, der grösstenteils ohne Text auskommt und einfach die Arbeit in dieser Textilfabrik zeigt, manchmal mit ellenlangen Einstellungen. Die Bilder sind aber sehr eindrücklich und die Fabrikatmosphäre wird stark transportiert. Es gibt einzelne kurze Sequenzen, wo sich Arbeiter äussern. Das sind teils sehr aufwühlende Momente, etwa wenn ein Arbeiter sich dagegen verwehrt, dass gesagt werde, sie würden ausgebeutet. Eine andere Szene zeigt den Fabrikboss, der sich abfällig über die Arbeiter äussert. Mehr zu zahlen sei nicht gut, sie würden dann eh nur Zigaretten und Alkohol kaufen und sowieso, früher als sie noch viel weniger verdienten und mit leerem Magen arbeiteten, hätten sie sich mehr eingesetzt als heute. In einer anderen Szene ist der Rahul Jain umzingelt von Arbeitern, die ihn anschauen und einer meint zu ihm, warum er all die Fragen stelle, er werde ja nichts tun, um ihre Situation zu verbessern. Der Regisseur unterlässt es, die Szene zu kommentieren, sich zu rechtfertigen und lässt den Vorwurf an sich selbst stehen.
Wie gesagt folgte auf den Film ein eindrückliches Q and A, in dem der junge Regisseur, der den Film über drei Jahre hinweg während dem Filmstudium gedreht hat, Rede und Antwort stand und dabei offen eingestand, dass er auch keine Antworten hat und noch heute mit dem eigenen Film und den Erlebnissen in der Fabrik ringt.

Brigsby Bear
Regie: Dave McCary
Darsteller: Kyle Mooney, Claire Danes,
Matt Walsh,
Michaela Watkins

Inhaltsangabe Filmfestival
James wächst in einem abgeschotteten Bunker auf. Den einzigen Blick in die Aussenwelt bietet die von seinem vermeintlichen Vater – nur für ihn – produzierte BRIGSBY BEAR-Serie. Als James eines Tages aus dem Bunker befreit und seiner ihm bis dahin unbekannten Familie übergeben wird, realisiert er allmählich, dass das Leben fortan keine Folgen seiner Lieblingsserie bereithält. Gemeinsam mit seinen neuen Freunden beschliesst James, den Kostümbären selber auf die grosse Leinwand zu bringen.

Meinung
Brigsby Bear ist eine zuckersüsse, fantasievolle und leicht schräge Coming of age Story. Ein bisschen wie eine Mischung aus «Eve und der letzte Gentleman» und «Be kind rewind». Der Film unterhält dabei von Anfang bis zum Schluss mit sehr viel Witz und Herz und einem tollen Cast. Wenn ich etwas zu bemängeln habe, dann dass der Film etwas zu harmlos und zu zuckrig daherkommt. Den Umgang mit der vermeintlichen Realität, was es für seine Beziehung zu seinen Eltern und seinen Entführern bedeutet, wie er mit alldem umgeht, das wird nie ernsthaft beleuchtet. Es reicht, dass er einen Film dreht und dabei neue Freunde kennen lernt und mit seiner Familie wieder zusammen kommt.

6.5/10

Pop Aye

Regie: Kirsten Tan
Darsteller: Thaneth Warakulnukroh,
Penpak Sirikul

Inhaltsangabe Filmfestival
Vor kurzem noch einer der angesehensten Architekten Bangkoks, scheint Thanas Zeit nun vorbei: Sein einstiger Prestigebau steht vor dem Abriss, auf der Arbeit wird er durch Jüngere ersetzt und auch seine Frau zeigt kein Interesse mehr. Als er eines Tages auf der Strasse unverhofft sein Kindheits-„Haustier“, den Elefanten Pop Aye, zu erblicken glaubt, fasst Thana einen Plan: Er kauft den Elefanten kurzerhand zurück und macht sich bald mit ihm auf den Weg in sein Heimatdorf – weg vom Stress und Konkurrenzdruck der Metropole. Der Beginn einer abenteuerlichen Reise entlang einer Landstrasse, die dem einsamen Mann und seinem gigantischen Begleiter Begegnungen mit einer bunten Palette von Aussenseitern und zwei überbürokratischen Polizisten bringt.

Meinung
Kleines, sympathisches Roadmovie, das mit einem charmanten Co-Star mit Rüssel Zuschauerherzen erobert. Ein ruhiger, ab und zu fast schon meditativer Film mit dem Herz am richtigen Fleck, so viel sei gesagt. Inhaltlich werden keine Bäume ausgerissen, auch strukturell werden keine neuen Pfade erklommen. Gegen Ende ist der Film dann auch etwas zu lang geraten. Hoffentlich wurde der Elefant bei den Dreharbeiten auch gut behandelt – bei so einem warmherzigen Film würde man es erwarten.


On the beach at night alone
Regie: Hong Sangsoo
Darsteller: Kim Minhee, Seo Younghwa

Inhaltsangabe Filmfestival
Wird er ihr nachreisen? Und liebt er sie genauso sehr wie sie ihn? In den winterlichen Parkanlagen Hamburgs treibt sich die junge koreanische Starschauspielerin Younghee wehmütig mit diesen Fragen um. Erst kürzlich ist ihre Affäre mit einem bekannten und obendrein verheirateten Regisseur aufgeflogen, was einen bösartigen Medienshitstorm auslöste und sie dazu veranlasste, eine Auszeit in Deutschland zu nehmen. Monate später ist Younghee wieder zurück in der koreanischen Küstenstadt Gangneung, wo sie bei Dinner-Partys mit jeder Menge Reislikör auf ihre alten Freunde – und bald auch auf ihre vergangene Affäre trifft.

Meinung
«On the beach...» war mein erster Film aus dem Oevre des Regisseurs Hong Sangsoo und ich fand es eine ausserordentliche Erfahrung. Einen Plot oder eine Handlung gibt es nicht wirklich. Der Film geht von Gespräch zu Gespräch lose verbunden durch die Hauptfigur, die da durch die Gegend wandelt und ihren Platz in der Welt sucht. Dabei arbeitet der Film mit verschiedenen surrealen Elementen und Wiederholungen. Erklärt wird nur sehr wenig, was die Sache aber umso interessanter macht. Mich jedenfalls hat der Film mit seiner melancholischen Atmosphäre und der nihilistischen Inszenierung noch lange nach dem Kinobesuch begleitet. Ich habe über die verschiedenen Elemente nachgedacht, über die Gespräche Younghee führt und ihre zwei, drei kurzen Gefühlsausbrüche. So wirklich weiss ich aber jetzt noch nicht, um was es wirklich ging. Um Liebe? Darum, ob es echte Liebe überhaupt geben kann? Wie man seinen Platz in der Welt findet?
Es passt gut zu dem Film, dass Hong Sangsoo seine Szenen jeweils erst kurz vor dem Drehstart schreibt. Also noch während das Filmteam wartet, schreibt er die zwei, drei Drehbuchseiten, die an diesem Tag gefilmt werden sollen. Und irgendwie fühlt sich das auch so an, was ich nicht negativ meine. Langweilig wurde es mir übrigens trotz fehlender Dramaturgie nie. Der Film lebt von einer für mich irgendwie bisher noch unfassbare Faszination und Atmosphäre. Eine poetische Meditation über Einsamkeit, vielleicht? Ich weiss es nicht.
Sehr schwer zu bewerten, ich versuchs mal: 7.5/10
 

Presko

Well-Known Member
Here We Are
Regie: Nir Bergman
Besetzung: Shai Avivi, Noam Imber, Smadar Wolfman, Efrat Ben-Zur

Israelische Tragikomödie über einen Vater und seinem autistischen Sohn. Die beiden begeben sich auf die Flucht, als Uri in ein Wohnheim kommen soll. Während die Mutter überzeugt ist, dass das die beste Lösung für den langsam erwachsen werdenden Sohn ist, meint sein Vater, der Uri in den letzten Jahren allein betreut hat, dass sein Sohn noch nicht bereit dazu ist. Im Laufe des Films wird es aber immer deutlicher, dass es eher der Vater ist, der noch nicht dazu bereit ist. Der kleine Film ist toll gespielt und sehr herzerwärmend. Kein großen dramatischen Ausbrüche, keine durch die Gegend schießende Lachsalven, sondern leise Beobachtungen dieser besonderen Vater-Sohn-Beziehung. Etwas zu kurz kommt die Mutter, die ein wenig abschätzig vom Script behandelt wird. Sonst gibt es wenig auszusetzen, allerdings erfindet der Film das Rad auch in keinster Weise neu.


Jacinta
Regie: Jessica Earnshaw

Wie schon in den letzten Jahren gehören einige der Dokumentarfilme zu den Festival-Highlights. So geht es mir auch in diesem Jahr mit dem Film „Jacinta“. Er handelt von der 26-jährigen Jacinta, die mit ihrer Mutter eine Haftstrafe im Maine Correctional Center absitzt. Während die Mutter noch eine längere Zeit dort bleiben muss, wird Jacinta nach neun Monaten entlassen. Neben der kriminellen Vergangenheit und ihrer Drogensucht verbindet Mutter und Tochter eine innige Beziehung. Immer wieder erklärt Jacinta, dass sie ihre Mutter trotz der Drogen und der Kriminalität immer idealisiert habe und auch immer noch dazu neige. Die Familiengeschichte der beiden ist gezeichnet von Drogenkonsum und Inhaftierung über Generationen hinweg. Jacinta selbst erklärt an einer Stelle, dass der Dokumentarfilm ihre Success-Story zeigen sollte, wie sie draussen neu startet und die Drogen und die Kriminalität hinter sich lässt. Und vieles stimmt einen auch positiv. Sie wird draußen von Verwandten warm empfangen. Findet einen Platz in einem Wohnheim, wo sie sich erst einmal an die Freiheit wieder gewöhnen soll, ohne rückfällig zu werden. Und dann ist da noch ihre zehnjährige Tochter Caylynn, die Jacinta schon als kleines Kind weggegeben hat, aber den Kontakt aufrecht erhielt. Trotz der schwierigen Geschichte lieben sich die beiden und Caylynn empfängt ihre Mutter sofort mit offenen Armen. Wie beste Freundinnen verbringen sie die ersten Tage nach Jacintas Austritt und blicken hoffnungsvoll in die Zukunft. Doch schon wenige Tage nach der Entlassung wird Jacinta rückfällig. Eines Abends steigt sie ins Auto und fährt zu ihrem Dealer. Sie erklärt in die Kamera, dass sie wisse, was sie tue, es aber nicht anders ginge. Von da an beginnt die Spirale aus Drogen und Kriminalität neuerlich. Immer wieder reflektiert Jacinta ihre Situation eindrücklich offen. An einer Stelle unternimmt sie erfolgreich einen Kalten Entzug, nur um danach gleich wieder mit den Drogen anzufangen. Ihre Tochter bekommt das mit. Die Enttäuschung ist einerseits riesig, andererseits wirkt sie unglaublich abgeklärt und reflektiert. Man fragt sich, ob eine Zehnjährige schon so erwachsen sein dürfte.
Der Film dreht sich um die Frage, ob wir nur Produkt unserer Umwelt sind, um die Beziehung von Mütter und Töchtern und deren Grenzen. Es geht um Vergebung, Liebe um Familie. Die Bilder tun weh, teilweise furchtbar intim. Man fragt sich auch, ob es eine moralische Grenze für Filmemacher gibt bezüglich, was darf ich zeigen oder wie lange darf ich „nur“ beobachten.
Ein wirklich eindringlicher, aufwühlender Film.
 

Presko

Well-Known Member
Proxima

Regie
: Alice Winocour
Besetzung: Eva Green, Matt Dillon, Zélie Boulant-Lemesle, Aleksei Fateev, Lars Eidinger, Sandra Hüller

Trailer: youtube

In Proxima von Alice Winocour spielt Eva Green die Astronautin und alleinerziehende Mutter Sarah. Sie wurde als einzige Frau für eine einjährige Mission zur Internationalen Raumstation ausgewählt. Ihre Tochter soll in dieser Zeit bei ihrem Vater leben. Es ist das erste Mal, dass Mutter und Tochter für längere Zeit voneinander getrennt sein werden. Der Film begleitet die Vorbereitungen Sarahs für ihre Mission und ihr Abschied von ihrer Tochter. Erst im Laufe der Zeit merkt sie, wie tiefschneidend sich dieser Abschied sowohl für sie als Mutter als auch für ihre Tochter sich auswirken wird. Während dem Training auf ihren Einsatz ist sie harten physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt und muss sich gleichsam in einem Männer dominierten Umfeld erst noch beweisen.
Im Zentrum des Films steht klar weniger die Weltraummission oder das Training, welches ganz viel realistische Trainingssequenzen an Originalschauplätzen bietet, sondern die Mutter-Tochter-Beziehung. Das Funktioniert sehr gut und die Zerrissenheit von Sarah transportiert der Film sehr spürbar auf den Zuschauer. Starke Bilder und gute schauspielerische Leistungen (Matt Dillon und Lars Eidinger in Nebenrollen) machen das Übrige. Leider geht dem Drehbuch gegen Ende ein wenig der Atem aus und flüchtet sich in eine etwas gar unrealistische Klimax-Szene.


There Is No Evil

Regie
: Mohammad Rasoulof
Besetzung: Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar, Alireza Zareparast, Salar Khamseh, Baran Rasoulof
Trailer: youtube

Episodenfilm aus dem Iran, der sich in seinen vier Geschichten mit der Todesstrafe im Iran und vor allem mit den Personen auseinandersetzt, welche die Urteile ausführen müssen. Gezeigt wird der normale Alltag eines Henkers oder das moralische Dilemma von Soldaten, die für einen dreitätigen Urlaub die Hocker, auf denen die zu Erhängenden stehen, wegziehen müssen. Es geht um Individuen, die in einem autoritären System gefangen sind und nicht mehr selber entscheiden dürfen.
Dem Film gelingt es, mit seiner Atmosphäre eine starke Sogwirkung zu entfalten. Insbesondere die letzte Episode fand ich aber etwas schwach. Einerseits versucht sie, mit einem Twist Spannung zu erzeugen, der leider von Beginn weg durchschaubar ist. Der Regisseur, Mohammad Rasoulof, selbst darf das Land seit 2017 nicht mehr verlassen. Auch bei der Weltpremiere von „There Is No Evil“ in Berlin durfte er nicht dabei sein. „Das Recht darauf, selbst über meine An- oder Abwesenheit zu entscheiden, ist mir nicht gegeben“, ließ er über die Produzenten des Films mitteilen. „Die Durchsetzung solcher Restriktionen verrät die intolerante und despotische Haltung der iranischen Regierung nur allzu deutlich.“


One Night in Miami
Regie
: Regina King
Besetzung: Kingsley Ben-Adir, Leslie Odom Jr., Aldis Hodge, Eli Goree, Jasmine Cephas Jones
Trailer: youtube

„One Night in Miami“ dreht sich um die Nacht des 25. Februars 1964, als der Boxer Cassius Clay (später bekannt als Muhammad Ali) sich den Weltmeistertitel holt. Zur Feier seines Sieges lädt ihn sein Freund und Aktivist, Malcolm X mit zwei weiteren Freunden - dem Sänger Sam Cooke und dem Footballspieler Jim Brown in sein Motelzimmer ein. Doch anstatt einer großen Feier will Malcolm mit seinen Freunden ein ernsthaftes Gespräch über Politik, Islam und über den Kampf gegen die Rassentrennung sprechen. Er hofft, in seinen Freunden das Feuer für diesen Kampf entfachen zu können, so dass auch sie beide in Zukunft ihre Popularität für die Gleichberechtigung der Schwarzen einsetzen. Dabei kommt es nicht nur zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Sam Cooke, dem er vorwirft, sich den Weißen anzubiedern, sondern es wird auch immer deutlicher, dass Malcolm selbst sich in grosser Bedrängnis befindet.
Der Film basiert auf einem gleichnamigen Theaterstück von Kemp Powers und erzählt von eben diesem fiktiven Treffen der genannten Personen. Zudem handelt es sich um ein Regiedebüt der Schauspielerin Regina King. Ihr ist ein bemerkenswert schwungvolles Dialogstück gelungen, dass trotz dem sehr ernsten Thema auch mit viel Humor aufwartet. Aber das Wichtigste hier sind natürlich die treffsicheren Dialoge, die von ihren starken Darstellern vorgetragen werden. So gibt es einige wirklich großartige Stellen, leider springt der Film dann jeweils sehr schnell wieder zu was anderem. Und Konflikte werden etwas oft durch lustige Momente und Sprüche wieder aufgelöst.
Was mir fehlte, das dürfte aber an der Vorlage liegen, war eine starke Frauenfigur. Gerade, wenn es schon um das Thema Gleichberechtigung geht, sollte dies nicht bloß unter Männern ausgetragen werden.
 

Woodstock

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Proxima hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm und normalerweise fallen mir solche Filme recht früh auf. Gerade durch Eva Green lohnt es sich ja erst recht. Schade, dass du ihn nicht so toll fandest.
 

Presko

Well-Known Member
Proxima hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm und normalerweise fallen mir solche Filme recht früh auf. Gerade durch Eva Green lohnt es sich ja erst recht. Schade, dass du ihn nicht so toll fandest.

Also schlecht fand ich den Film überhaupt nicht. Definitiv ein sehenswerter Film, insbesondere wenn man beiden Aspekten (Mutter-Tochter-Drama / Astronautenthematik) was abgewinnen kann.
 

Jay

hauptsache bereits gesehen
Teammitglied
Sehr coole Beiträge, habe mir ein paar Filme notiert, insbesondere Proxima.
 

Presko

Well-Known Member
Es ist wieder soweit. Das 17 Zürcher Filmfestival hat gestartet und ich bin natürlich wieder vor Ort. Gestern gleich mal drei richtig gute Beiträge gesehen, zu denen ich gerne gleich ein paar Worte schreibe.

A HERO / GHAHREMAN​

von Asghar Farhadi

Rahim sitzt in Untersuchungshaft, weil er seine Schulden nicht bezahlen kann. Während eines zweitägigen Hafturlaubs versucht er seinen Kreditgeber dazu zu bringen, ihm einen Teil der Schulden zu erlassen und die Anklage zurückzuziehen. Denn seine Freundin hat eine Handtasche mit Goldstücken gefunden, die er nun zu verkaufen gedenkt. Doch im letzten Moment entscheidet er sich, die Tasche ihrem Besitzer zurückzugeben. Die Besitzerin meldet sich, als er bereits wieder im Gefängnis ist und kann ihre Münzen bei seiner Schwester abholen. Als die Gefängnisleitung von Rahims selbstloser Tat erfährt, informiert sie die Medien und nutzt die Situation aus um ihn als Helden feiern zu lassen, was natürlich auch ein positives Licht auf das Gefängnis wirft, wo sich erst gerade ein Häftling das Leben genommen hat. Eine regelrechte Medienkampagne nimmt ihren Lauf, die eine immer stärkere Eigendynamik entwickelt. Doch dann tauchen plötzlich Zweifel an Rahims Geschichte auf und das Bild, das die Öffentlihckeit von ihm bekommen hat, droht sich ins Negative zu kehren.

ich bin ja ein ausgesprochener Freund des iranischen Kinos. Farhadi's Film "A Separation" gehört zu meinen Lieblingsfilmen. Auch hier untersucht Farhadi wieder moralische Graubereiche. Dabei reichert er seinen Film mit einigen humorvollen Momenten und einem satirischen Blick auf die Medien und die iranische Gesellschaft an, der mir bei Farhadi neu ist. Es ist eine sehr ruhige Inszenierung mit einem tollen Cast. Insbesondere der junge Darsteller von Rahims stotterndem Sohn hat mich sehr beeindruckt. Der Film rutscht dabei nie in Schenkelklopfer- oder dick aufgetragene Tragödiengefilde ab, sondern bleibt stets sehr zurückhaltend. Am Anfang bleibt auch lange unklar, wohin die Reise ganz genau führt. Gegen Ende wirds dann etwas vielleicht gar didaktisch und einige Entwicklungen kommen schon recht konstruiert daher. So ist es sicher nicht Farhadi's bester Film, aber durchaus ein gelungener und kurzweiliger Beitrag für Freunde des iranischen Kinos.

8/10 Punkte.

Cannes-Clip

UNCLENCHING THE FISTS​

von Kira Kovalenko

Eine ehemalige Bergbaustadt im Kaukasus: Hier lebt Ada mit ihrem Vater Zaur und ihrem jüngeren Bruder Dakko. Der Vater ist gesundheitlich angeschlagen und kontrolliert seine Ada aus Angst, sie könnte ihn verlassen. Sein ältester Sohn Akim hat genau das gemacht, um in der nächstgelegenen Stadt Arbeit zu finden. Als er nach Hause zurückkehrt, bricht das unausgesprochene Trauma der Familie auf – und Ada plant ihre Flucht aus der väterlichen Umklammerung.

"Unclenching the Fists" stellt für mich bereits das erste Festival-Highlight dar. Von Anfang ist da diese eigentümliche Spannung, die zwischen den Familienmitgliedern vorherrscht. Ada's Bruder Dakko, der ständig Ada's Nähe sucht, dabei teilweise auch körperlich zudränglich wird. Ihr Vater, der subtil Kontrolle über sie ausübt und dann ihr Bruder, dessen Rückkehr Ada herbeigesehent hat. Lange Zeit bleiben die Konflikte unausgesprochen. Die Schauspieler haben mich richtig umgehauen, mit ihrem eindrucksvollen, sehr physischen Spiel. Und umso mehr die Spannung zunimmt und schliesslich das unausgesprochene Trauma zutagetritt, unter dem Ada so leidet, entfaltet dies eine ungehereue emotionale Wucht. Dazu die Trostlosigkeit des Ortes, wo der Film spielt. Karge Landschaft, wo Jungen ihre Freizeit damit verbringen, Knallkörper an Häuserwände zu werfen, oder mit Autos im Kreis rumzurasen und Staub aufzuwirbeln.
Die Schwäche liegt vielleicht am ehesten im Erzählerischen. Manchmal wirkt es ein wenig wie eine Aneinanderreihung von Einzelszenen udn gewisse Symbolische Ereignisse insbesondere gegen Ende sind jetzt nicht gerade subtil.
Dennoch, ganz, ganz starker Film über eine dysfunktionale Familie und eine junge Frau, die sich aus der Klmamerung ihres Vaters losreissen will und dabei zwischen der Liebe zu ihm, Mitleid und Wut und dem Wunsch nach Selbstbestimmung hin- und hergerissen ist.

9/10

Trailer

ALONERS​

von Sung-eun Hong

Jina ist die leistungsfähigste Mitarbeiterin im Callcenter, wo sie ihre langen Arbeitstage verbringt. Sie ist eine Einzelgängerin. In ihren Pausen raucht sie allein, ihr Mittagessen nimmt sie allein ein un die Abende verbringt sie alleine im Bett vor dem Fernseher. Treuester Begleiter ist ihr Smartphone, auf dem sie während des Gehens, während des Essens etc. Videos schaut. Auf ihren Vater ist sie nicht gut zu sprechen und nimmt siene Anrufe, wenn möglich, nicht an. Ihre Mutter ist vor einer Weile gestorben. Dann ist da noch ihr Nachbar, dem sie ab und vor der Wohnung begegnet, wo er raucht. Doch dann durchbrechen einige Ereignisse ihren Alltagstrott. Ihr Nachbar stirbt und ein neuer Mann zieht ein. Und bei der Arbeit, wird sie gegen ihren Willen gezwungen, eine neue Mitarbeiterin anzulernen. Diese entpuppt sich als sehr gesprächig und fast schon aufdringlich. Lästig für Jina, die allein gelassne werden will. Auch der neue Nachbar sucht immer wieder den Kontakt zu ihr, und ihr Vater versucht ebenfalls, mit ihr mehr in Beziehung zu treten.
In kleinen Schritten beginnt Jina's Mauer zu bröckeln.

Schön gefilmt, eine tolle Hauptdarstellerin, welche die Entwicklung ihrer Figur ganz fein wiedergibt. Ein paar herrliche Dialogszenen, etwa wenn ein Zeitreisender immer wieder im Callcenter anruft, weil er wissen möchte, ob es eine Möglichkeit gibt, seine Kreditkarte auch im Jahr 2002 zu nutzen. Die beste Szene im Film kommt etwas päter, als die neue Mitarbeiterin auf einmal mit ihm sprechen muss. Das ist ganz grossartig.
Was mir auch sehr gefiel, ist diese leicht mysteriöse Atmosphäre, welche die Handlung umgibt. Nicht umsonst sagt Jina ihrem Nachbarn, als er sie fragt, ob er betreffend seiner neuen Wohnung was wissen müsse, dass es ein „haunted house“ sei.

Ich muss aber zugeben, mich hat der Film über weite Strecken ein wenig gelangweilt. Denn die Geschichte ist dann eben doch nicht so tief, wie sie gerne sein will. Die Bilder, mit denen die Regisseurin die Einsamkeit Jina's und dann ihre Veränderung darstellt, sind ab und an etwas arg plump. Auf einmal schaltet sie vor schlafen gehen, den Fernseher ab - aha, Schritt 1 zu einem neuen Leben.

Insgesamt ein guter, aber sicher nicht grossartiger Film.

7/10

 
Zuletzt bearbeitet:

Presko

Well-Known Member

ALI & AVA​

von Clio Barnard

Der Pakistani Ali arbeitet als Vermieter in der multikulturellen Stadt Bradford. Er lebt mit seiner Frau bei Verwandten, wo sie geheimhalten, dass sie sich eigentlich schon getrennt haben. Ava ist Lehrassistentin und kümmert sich nach dem Tod ihres Ehemanns alleine um das gemeinsame Haus voller Kinder und Enkelkinder. Ali und Ava lernen sich kennen, da Ali ein Mädchen ab und zu zur Schule bringt, wo Ava arbeitet. Bei einem starken Unwetter schlägt er der Lehrerin vor, sie nach Hause zu fahren. Behutsam schildert der Film, wie sich die beiden auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Menschen langsam näher kommen und sich einander anvertrauen. Behutsam ist dabei wirklich das Zauberwort, durchzieht diese Behutsamkeit doch den ganzen Film. Das bedeutet aber keineswegs, dass er übertrieben romantisiert oder in Kitsch abdriftet. Ganz und gar nicht sein Blick auf die beiden Milieus wirkt sehr realistisch. Die Menschen sind glaubhaft. Es ist keine Welt, die von Models bevölkert wird. Die Menschen sehen aus wie echte Menschen und handeln auch so.
Eine besondere Rolle spielen zudem Musik und Tanz. Immer wieder kommen sich Figuren dadurch näher, dass sie gemeinsam Musik hören oder/und sich zu ihr bewegen. Ali sehen wir mehrmals, wie er zu wilden Beats auf dem Dach seines Autos tanzt, stampft und schreit.
Ein wenig schade ist, dass am Ende einige Nebenfiguren etwas kurz kommen und der wirklich ausgelutschte typische Liebesfilmkonflikt auch hier noch auftauchen muss, obwohl er eigentlich komplett unnötig wäre.
Ansonsten toll gespielt, schön geschrieben und inszeniert. Warmherzig, manchmal amüsant, immer realistisch anmutend und schlicht sehr sympathisch.
8/10.

Trailer
 

Presko

Well-Known Member

BLUE BAYOU​

von Justin Chon

Anfangsszene: Antonio LeBlanc sitzt mit seiner Stieftochter Jessie bei einem Bewerbungsgespräch für einen Job in einer Motorradwerkstatt. Sein potenzieller zukünftiger Chef will von ihm wissen, wofür er im Knast gewesen ist. Antonio druckst etwas herum und gibt schliesslich zu, Motorräder gestohlen zu haben. Man mag es ahnen. Den Job kriegt Antonio nicht. Dabei bräuchte er das Geld doch, erwartet seine Frau Kathy doch ihr gemeinsames Kind. Sein Job als Tattowierer bringt nicht genug ein, um eine Familie zu ernähren. Doch bald wird er von ärgeren Problemen heimgesucht. Beim Einkaufen wird er nämlich von Kathys Ex und Jessies leiblichen Vater, der Polizist ist und dessen Partner angegangen. Es kommt zu einer körperlichen Auseinandersetzung, auf die hin die beiden Polizisten festnehmen. Die Behörden stellen in der Folge fest, dass Antonio, der als Kleinkind als Nordkorea in die Staaten gekommen und hier adoptiert worden ist, über keinen legalen Aufenthaltsstatus besitzt. Auf einmal steht seine gesamte Existenz auf dem Spiel und ihm droht die Ausschaffung. Nun braucht er ganz dringend Geld für einen guten Anwalt.

Als ich den Trailer damals auf Aoutube sah, war ich augenblicklich angefixxt. Das sah nach einem Indie-Drama ganz nach meinem Geschmack aus. Die eher durchmischten Kritiken dämpften daraufhin meine Erwartungen, und zwar leider zurecht.

Blue Bayou ist beileibe kein schlechter Film, aber eben auch kein richtig guter. Das liegt insbesondere daran, dass er sich so viel aufbürdet. Migrantendrama, Liebes- und Familiendrama, Milieu- und Strassengangsterfilm, Indie-Tragiekomödie etc.. Dazu arbeitet Justin Chon, der Produzent, Drehbuchautor, Hauptdarsteller und Regisseur in einer Person ist, mit dem Vierhänder. Bilder, Symbole, Konflikte – der Film wird mit zunehmender Laufzeit immer überladener und am Ende reihen sich die dramatischen, bedeutungsschwangeren Szenen nur so aneinander.

Dazu kommen teilweise geradezu absurde Momente und Szenen, welche stark an der Glaubwürdigkeit kratzen. Beispielsweise der Partner von Kathies Exmann wirkt in seinen Auftritten wie eine Figur aus einem Spoof-Movie. Völlig überzogen und deplatziert.

Dann gibt es noch eine krebskranke Vietnamesin, die Antonio kennenlernt. Und gegen Ende müssen gleich mehrere Kindheitstraumata Antonios eilig aufgearbeitet werden.

Stilistisch bedient sich Chon allen möglichen Vorbildern, aber eine eigene klare Handschrift lässt sich kaum erkennen.

Alicia Vikanders Kathy bleibt als zweite Hauptfigur leider blass. Lieb, hübsch, traurig und besorgt schaut sie drein. Aber irgendwie immer nur hübsches Beiwerk. Ach und dann ist da noch Jessie, die insbesondere im ersten Drittel als dieses aus den Indie-Tragikomödien bekannte, vorlaute aber süsse Kind für heitere Momente sorgen soll.

Der Film ist gut gemeint, hat einige schöne Bilder, viele Musikclipartige Sequenzen, die atmosphärisch sind und einige Szenen sind wirklich hübsch anzusehen. Aber als Gesamtpaket funktioniert er nicht und gegen Ende wirds einfach too much Drama.

6/10

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Presko

Well-Known Member

MASS​

von Fran KranzSpielfilm Wettbewerb

Zwei Paare treffen sich in einer episkopalischen Kirche zu einer Aussprache. Beide haben bei einem Amoklauf einen Sohn verloren. Der eine war der Täter, der sich am Ende selber das Leben nahm, der andere eines der zahlreichen Opfer.

Viel mehr muss man zur Geschichte eigentlich nicht sagen. Der Rest lebt von den Dialogen, die sich nun im Laufe des Gesprächs entwickeln. Interessant: Der Film lässt sich in drei Kapitel unterteilen. Eine Einführung, in der eine Sozialarbeiterin, welche das Gespräch initiiert hat und zwei Kirchgemeindemitglieder den Raum für die Paare vorbereiten. Dieser Part ist geprägt von einem sehr humorvollen Ton.
Dann der ernste Mittel- und eigentliche Hauptteil. Das Gesprächs zwischen den beiden Paaren und zuletzt der Schlussteil nach dem eigentlichen Gespräch. Hier treten dann die Nebenfiguren vom Anfang noch einmal auf.

Der Film entpuppt er sich als Meisterstück in Sachen „building tension“ und „releasing tension“. Schön zu sehen etwa, wie die Figuren sich im einen Moment näher kommen, um dann im nächsten Moment wieder aufgrund irgendeiner Aussage auf Abstand oder Konfrontationskurs zu gehen. Überhaupt ist die schauspielerische Leistung grossartig. Muss sie auch sein, denn der Film spielt grösstenteils nur in einem Raum mit nur vier Figuren. Hier können die vier Darsteller*innen brillieren und tun das auch. Jeder und jede bringt ganz eigene Facetten mitein, was neben den starken Dialogen, und der cleveren Kameraführung stets für Spannung sorgt.

Am Schluss wartet der Film sogar noch mit einer kleinen überraschenden Miniwendung auf.

Für mich ganz grosses Kino, das insbesondere im Kinosaal seine ganze Kraft entfaltet, da dann dieses Gefühl der Konfrontation erst so richtig rüberkommt.

9.5/10


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