Camino ~ Zoë Bell, Kevin Pollak

Argento

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CAMINO (2016) von Josh C. Waller, der sich - salopp und unanständig verkürzt zusammenfassend, da der Komplexität des Werkes nicht gerecht werden könnend - um eine Kriegsfotografin dreht, welche in der südamerikanischen Wildnis vor den Rebellen fliehen muss, die sie eigentlich begleiten und dokumentieren sollte.

Eine Reise ins Ich (Teil I):

Ein Amulett wird von einer Spirale geziert. Die Bedeutung: Das ganze Leben ist wie ein Weg ins Innere und in diesem Inneren liegt die Wahrheit; die Erkenntnis. Die Spirale soll dies symbolisieren. Ihr Name: Camino.

Avery - die Hauptprotagonistin - durchläuft diese Spirale. Es ist keine Conrad'sche Reise in den Wahnsinn, sondern eine Reise zurück zu sich Selbst; respektive eine Reise hin zu einem neuen Selbst oder zu der Erkenntnis, dass es ein neues Selbst bedarf, um weitermachen zu können. CAMINO offeriert nicht nur eine Reise mit Avery, die in unwirklicher Umgebung ihr Leben verteidigen muss, sondern gleichsam eine Reise in ihr Inneres. Eine Reise in ihren Schmerz, ihre Tragik, ihr Verlorensein, sodass sie verstanden werden und folgerichtig mit ihr mitgefühlt werden kann.

Zeit: 1985. Ort: Eine Bar.

Die Kriegsfotografin Avery (Bell) wurde just mit einem bedeutenden Preis für ihre Verdienste ausgezeichnet. Sie schert sich allerdings nicht um Preise und will sich lieber schnellstmöglich in einem neuen Projekt verlieren. Es wird schnell deutlich, dass ich es mit einer Getriebenen zu tun habe. Schon nach ein paar Sekunden ist die Figur der Avery da. Wird sichtbar. Bells nuanciertes Spiel lässt den Charakter der Avery sofort lebendig werden. Dafür reichen ihr Blicke. Körperbewegungen. Ich habe es mit einer Melancholikerin zu tun. Ihre Ausstrahlung ist herausragend und besticht durch ihre Natürlichkeit, ihre Authentizität. Ihre Bewegungen, ihre Art des Smalltalks, die Art und Weise des Sprechens an sich, ihre Körperhaltung, all das wirkt ungekünstelt. Es wirkt echt und unverkrampft. Eine beeindruckende Leistung der ehemaligen Stuntfrau. Der Prolog ist überdies ein Musterbeispiel des ökonomischen Erzählens.

Avery versucht - mittlerweile beschwipst - ihren Thekennachbarn - einen Herren im besten Alter zu "verführen", scheitert jedoch zum einen an sich selbst - ihr Versuch ist plump und erregt Mitleid - und zum anderen am Charakter des Herren, der auf seinen Ehering verweist und damit seine Treue unter Beweis stellt. Auf einmal taucht jedoch wie aus dem Nichts ein weiterer Mann auf, der sich als Averys Ehemann zu erkennen gibt. Avery reagiert beschämt, da er die vorangegangene Szene mitansehen musste. Sie kehren in ihr Hotelzimmer heim, welches genau so unaufgeräumt daherkommt, wie Avery selbst. Die Szenen mit ihrem Mann sind von beachtlicher Qualität: Sie berühren und werden mit großer Zartheit und Authentizität inszeniert.

Doch schon bald wird klar, was bereits vermutet werden konnte: Er existiert gar nicht. Ihr Mann ist tot, aber noch immer ein Teil von ihr, den sie nicht loslassen kann; nicht loslassen will. Sie hält noch immer Zwiesprache mit ihm. Ihre Gefühle sind von einer solchen Stärke, dass sie sich - unmittelbar nach der Abfuhr an der Bar - umgehend mit Scham und Schuldgefühlen konfrontiert sieht, die in dem Zwiegespräch mit ihrem verstorbenen Ehemann münden, da ein Loslassen noch nicht stattgefunden hat und es sich für sie noch immer so anfühlen muss, als ob sie ihre Liebe hintergehen würde.

Ein kraftvoller, ein untypischer, ein großer Anfang!

In Camino werden einige Erwartungen unterlaufen, die vielleicht an ein Werk herangetragen werden, welches gemeinhin als schnörkelloser Actionfilm (wohl aber mit Trailern, die immerhin einen vielleicht untypischen vermuten lassen) beworben und vermarktet wird.

Die zentralen Topoi, die wiederkehrenden Motive des Werkes sind Einsamkeit, Verlust, Selbstverlorenheit und Flucht (in der ganzen semantischen Breite des Wortes). Kurz: Der Kampf im Innern.

Ihr neuer Auftrag führt Avery in die bewaldeten Gebiete Südamerikas. Sie darf als erste amerikanische Journalistin eine Truppe Rebellen begleiten, die sich missionarisch geben und die Armen des Landes mit Medikamenten versorgen. Kaum angekommen, wird es schon ungeheuer atmosphärisch. Die Sicherheit scheint labil, brüchig, jederzeit gefährdet. Eine Eskalation ist zum Greifen nah, obwohl der Grund noch nicht fassbar ist.

"Ich bin eine Frau ohne Regierung!"

Als Avery des Nachts zufällig etwas sieht, was sie nicht sehen sollte - ein grausames Verbrechen - und es ihr überdies auch gelingt dies fotografisch festzuhalten, kulminiert die vorher kontinuierlich akkumulierte Bedrohung und wird manifest in einem inszenatorischen Höhepunkt: In einer erschreckenden Schwarzweißfotografie, welche das Verbrechen festhält. Dann folgt eine lange, langsam gefilmte, Wanderung der Kamera von links - dem Ort des Verbrechens - nach rechts - hin zu Avery - und wird untermalt von einem hämmernden, peitschenden, sich an einem selbst regelrecht zu vergreifen scheinenden Score, dessen Intensität sich sekündlich steigert. Ich saß während dieses Moments mit geballten Fäusten vor dem Fernseher und vergaß fast das Atmen, als sich mir die Kehle vor Anspannung zuschnürte. Es wird unmissverständlich deutlich, dass dies der Moment ist, welcher eine fundamentale Zäsur darstellt.

"All Hell Breaks Loose"

Das Zusammenwirken von Musik und Bildern ist elektrisierend. Die unheilvolle Drohkulisse, welche auch über die Musik spür- und erfahrbar wird, ist mit SICARIO vergleichbar. Allerdings m. E. in (noch) einer Form, die vollendeter daherkommt.

Die Bilder des Films sind stellenweise atemberaubend. Averys erster Kampf mit einem Rebellen weist viele wunderbare Einfälle auf. Immer wieder wird sich schwelgerisch des Breitbildformats bedient, nur um bereits im nächsten Moment die äußerste Intimität von Close-Ups und Steadicam zu bemühen.

Die Gewaltdarstellung in CAMINO ist unbequem, hart, schonungslos und war für mich als Rezipient nicht selten eine schmerzhafte Erfahrung. Averys erster Kampf ist von einer unbequemen Länge gekennzeichneit, die zur Auseinandersetzung mit dem Geschehen zwingt und mich an Hitchcocks DER ZERRISSENE VORHANG erinnerte, in welcher Avery zunächst die Rolle der Unterlegenen einnimmt. Interessant ist dann die Auflösung des Konflikts:
Jener Moment der, wenn man es so bezeichnen möchte, Katharsis ist kurz und dementsprechend schnell vorüber. Das Unbequeme, das Widerliche, die Tortur, die Zoe durchstehen musste, war hingegen fast unerträglich lang. Der kathartische Moment der Avery hätte nun auch plump zeleberiert werden könnten, indem der Schurke nun gleichsam eine Tortur hätte durchstehen müssen, wurde er aber nicht.

Interessant ist vor allen Dinge das Folgende: Die Gewalt, die Avery kausal veruarsacht, ist stets eine, die reflektiert wird. CAMINO will den Zuschauer niemals plump dahingehend manipulieren, dass man nur noch ein "Leg sie alle um!" ausschreien möchte.

Das Töten ist zu keiner Zeit etwas, dass Avery leicht fällt. Erst recht gewöhnt sie sich nicht daran. Es gibt eine Episode, in welcher
sie zwei Männer tötet, die gerade damit beginnen wollten zwei Frauen zu vergewaltigen. Die Art und Weise der Inszenierung jener Szene ist nun bemerkenswert: Nicht nur, dass Avery den Männern im Vorhinein ausreichend Chancen gewährt, von den Frauen abzulassen; sie fleht sie geradezu an sie nicht töten zu müssen, nein, im Nachhinein - also nach der Notwehr-/Notstandshandlung der Tötung - sieht man sie dabei, wie sie die Tat reflektiert. Einmal mehr in Form eines Zwiegesprächs mit ihrem toten Ehemann, welchen sie sagen lässt: "Wie kannst du von so etwas zurückkehren. Jetzt klebt Blut an deinen Händen."

Avery verfällt niemals in einen genrytypischen Rache- oder gar Tötungsrausch. Immer wieder fleht sie jene an, die sie auslöschen möchten, es sein zu lassen; von ihr abzulassen. Nicht etwa, weil sie ihnen überlegen wäre - dies ist sie mitnichten -, sondern weil sie das Töten, diesen Akt der völligen Ausradierung eines menschlichen Lebens, um jeden Preis zu vermeiden sucht.

Eine beachtliche Leistung, die ein Zeugnis beachtlicher Reife ist. Dergleichen ist ungleich interessanter, wenn man sich vor Augen führt, dass derselbe Regisseur das Werk RAZE verbrochen hat. Ein m. E. gewaltverherrlichendes, widerwärtiges Werk. Doch schon der zweite Spielfilm ließ einen überraschenden und sich geradezu sprunghaft vollziehenden Reifeprozess erkennen: Der nur ein Jahr später veröffentlichte MCCANNICK wurde als Werk im Fahrwasser von TRAINING DAY, DARK BLUE oder STREET KINGS angesiedelter, grimmiger Polizeifilm vermarktet, entpuppte sich aber als eine intime Studie über die unterdrückte Homosexualität eines Polizisten.
 

Argento

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Eine Reise ins Ich (Teil II):
Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die Gruppendynamik der Rebellen; der Verfolger. Bei jenen handelt es nun nicht um gesichtslose Schurken, sondern ganz im Gegenteil, um höchst individuelle Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Ansichten, Motiven und Hintergründen. Allesamt sind sie charakterisiert und keine seelenlosen Chiffren, die nur behaupten Charaktere zu sein. Auch unter ihnen gibt es Manipulierte, Verblendete, Unschuldige; aber eben auch Wahnsinnige.

Die dramatischen Momente CAMINOS kulminieren stets in direkten Konfrontationen. Vis-a-vis stehen sich die Kontrahen - meist einzeln - in jeweils äußerst intimen
Momenten gegenüber. Ein jeder dieser Momente ist von höchster Intensität und entfaltet eine eigenständige Dynamik, da selbst die Rebellen unter sich miteinander ringen und sich die Konfrontationen nicht nur auf die Auseinandersetzung mit Avery beschränken.

Umwerfend ist des Weiteren die Art und Weise wie die Wildnis eingefangen wurde:
Unheimlich, surreal, unwirklich, bedrohlich, einen zu verschlingen drohend und labyrinthartig, sodass man sich in ihr verlieren könnte, sofern man nicht aufpasste.

Am Ende gibt es noch einen
interessanten Monolog des Schurken - die Dia- und Monologe sind, soviel sei angemerkt, generell von überraschender Qualität - und überdies ein geteiltes Finale, welches die Erwartungshaltung angenehm unterläuft. Denn Averys Reise mündet nicht in einer letzten Konfrontation, sondern in ihrer Flucht. Während der Schurke vor sich hinmonologisiert verhält sich Zoe menschlich und rational, indem sie die Gunst des Moments nutzt um vor demjenigen, der bewaffnet, kampferfahren und soziopathisch ist, zu fliehen. Seinen Tod besiegelt sie am Ende nur mittelbar. Den Frauen, die Avery vor der Schändung bewahrte, gab sie nämlich den Film mit auf den Weg, auf welchem das Verbrechen des Schurken dokumentiert ist. Am Ende ist es dann eine ältere "Dorffrau", die, wie wohl die meisten Kolumbianer, über die Zeitungen, die das Foto Averys auf den Titelseiten brachten, visuell und damit sehr direkt mit
dem grausamen Verbrechen konfrontiert wurde, dem vermeintlichen Heilsbringer auf dem Marktplatz eine Ladung Schrot in den Magen spritzt.

Was bleibt mir noch zu sagen?
Der Film ist eine unprätentiöse Machtdemonstration. Eine Urgewalt. CAMINO ist ein Glanzstück, dessen Komplexität und Vielschichtigkeit nicht übersehen werden kann. Beglückender war Film in den letzten Monaten für mich selten!

CAMINO ist ein existenzialistischer Überlebensfilm, Drama, Affektkino, Kopfkino, Actionkino, Gewaltstudie, intimes Kammerspiel, femnistisches Kino.
CAMINO will alles. CAMINO kann alles!​
 
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