Story XLIV - Zeit mit Ende

Clive77

Serial Watcher
Es war Freitag. Ich saß auf dem Rücksitz des schwarzen Kleinwagens meiner Mutter. Nie hätte ich gedacht, dass sie mich wieder auf die Rückbank verbannen würde, ich war immerhin schon 25 und konnte selbst fahren. Sie hatte allerdings nie die alte Kindersicherung hinten entfernt. Vermutlich weil sie gar nicht wusste wie das funktioniert und es dann über die Jahre einfach vergessen hatte. Jetzt allerdings erschien es ihr sehr praktisch. „So kannst du nicht einfach abhauen, sobald wir anhalten“, hatte sie gesagt, bevor sie und mein Vater mich mehr oder weniger sanft auf den Sitz bugsierten und die Tür neben mir zuschlugen. Ich sackte in mich zusammen, legte den Kopf an die kühle Fensterscheibe und schloss die Augen. Durch die Tür konnte ich hören wie meine Mutter schluchzte und ein paar erstickte Worte murmelte. Ich konnte nicht verstehen, was sie gesagt hatte, da mein Vater sie offenbar in die Arme genommen hatte und sie ihr Gesicht an seiner Schulter vergrub. Er sagte ihr, dass sie sich beruhigen müsse und dass alles gut werden würde, sobald ich erst einmal da sei.
Seit Beginn der Fahrt hatte ich mich nicht gerührt. Wir waren auf dem Weg ins Krankenhaus.
Es hatte begonnen zu regnen und die Tropfen klopften auf das Dach des Wagens. Dieses Geräusch hatte mich schon als Kind beruhigt. Ich mochte Regen schon immer. Ich beobachtete zwei Regentropfen, die träge an der Scheibe hinab glitten und wettete mit mir selbst, welcher wohl als erstes ans Ziel kommen würde. Es sah aus, als würde ich gegen mich selbst verlieren. Ich schmunzelte schief und bitter. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedenkt, dass ich auf dem Weg war, in die Klapse eingewiesen zu werden.
„Oh! Geschlossene psychologisch, psychiatrische Abteilung heißt es offiziell“, korrigierte ich mich mit sarkastischem Unterton selbst. In genau dem gleichen Ton, den meine Mutter benutzt hatte, als sie mir eröffnete, wohin ich gebracht werden würde. Ich glaube sie hatte befürchtet, dass ich ausrasten würde. Stattdessen saß ich nur still da, blinzelte zweimal ungläubig und starrte in die weit aufgerissenen Augen meiner Mutter, die mich erwartungsvoll und mit verkniffenen Lippen ansah. Eine peinliche Stille entstand und ich wusste nicht so recht, wie ich reagieren sollte. Gedanken rasten durch meinen Kopf und mein Blick flatterte kurz zu meinen verbundenen Handgelenken, die auf der schneeweißen Bettdecke des Krankenhausbettes ruhten. Als mein Blick wieder zurück zu meiner Mutter zuckte, sah ich, dass sie ebenfalls meine Handgelenke anstarrte. Sie fühlte sich offenbar ertappt und sah mir wieder ins Gesicht. Ich klappte den Mund auf, wusste allerdings nicht was ich sagen sollte. Ich ließ meinen Kiefer wieder zuschnappen und nickte nur betreten. Ich wusste, dass ich auf verlorenem Posten kämpfen würde.
Unser kleines Provinzkrankenhaus war allerdings nicht auf „solche Fälle“, wie der Oberarzt mich euphemistisch genannt hatte, ausgelegt. Weshalb wir jetzt eine Stunde in die nächstgelegene Großstadt fahren mussten. Ich hasste es, wie mich die Ärzte und Schwestern mit Samthandschuhen anfassten. Verdammt nochmal: Ja, ich hatte versucht mich umzubringen und ja, ich war trotzdem noch da, immer noch in diesem Elend namens Leben.
Witzig, wie überrascht meine Eltern waren, als sie am Fußende meines Bettes standen und der einzige, nicht besonders kompetente Psychologe des Krankenhauses mit ihnen gesprochen hatte. Ich saß die ganze Zeit nur stumm wie ein Fisch in meinem Bett und starrte an die Wand hinter den dreien. Nachdem der Möchtegern-Freud uns verlassen hatte, begann die elterliche Inquisition. Eine gefühlte Wagenladung an Fragen überrollte mich. Unverständnis, Sorge, Trauer und vor allem Schock lagen in der Luft. Ich antwortete monoton und knapp. Das Unverständnis blieb.
Ich wollte nicht über meine Gedanken und Gefühle reden. Ich wollte sie noch nicht einmal selbst ertragen müssen, wieso um alles in der Welt sollte ich auch noch andere damit belasten? Ich behielt alles negative im Verborgenen. Ansonsten musste ich funktionieren. Dass ich die nächsten drei Monate weggesperrt werden würde, bereitete mir Magenschmerzen.
Wir hielten an. Meine Eltern stiegen aus und die Türen schlugen zu. Ich wartete, bis mir die Tür aufgemacht wurde. Ich ging den gepflasterten Weg zur hohen Eingangstür des Krankenhauses entlang, flankiert von meinen Eltern wie Leibwächter. Mein Vater hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt, wo sie etwas fester als gewohnt ruhte.
Wir standen am Empfang und meine Eltern sprachen mit der rundlichen Dame, die etwas gestresst zwischen verschiedenen Dokumenten hin und her blätterte. Ich achtete nicht darauf, was die drei besprachen, sondern lehnte mich gegen den Schalter, ließ den Kopf hängen und schloss die Augen. Mein Kopf war wie leer gefegt. Seitdem ich im Krankenhaus aufgewacht bin und feststellen musste, dass ich noch am Leben bin, fühlte ich mich wie betäubt. Alles schien, als wäre es unendlich weit weg und in dichten Nebel gehüllt. Es war mir egal, was mit mir passieren würde. Ich wollte nicht einmal mehr versuchen morgens aufzustehen. Alles schien so fürchterlich anstrengend, so etwas wie einen Alltag aufrecht zu erhalten glich für mich einer unlösbaren Herausforderung. Das war allerdings nichts neues. Schon die Monate vor meinem kläglichen Versuch mich vom Planeten zu schießen gelang es mir immer weniger gut, meine täglichen Aufgaben zu bewältigen. Irgendwann hatte ich nach und nach mit allem aufgehört. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte mal beim Sport gewesen war. Oder wann ich das letzte mal mit meinen Freunden in einer Bar war. Oder ob ich überhaupt noch Freunde hatte. Die letzten paar Wochen verließ ich nicht einmal mehr meine Wohnung, wenn ich nicht unbedingt musste.
Meine Mutter tippte mir behutsam auf die Schulter. Ich zuckte zusammen und hob ruckartig den Kopf. Meine Eltern und die Dame schauten mich an. Anscheinend wurde ich irgendetwas gefragt. Ich gab ein zerstreutes „Hm?“ von mir. „Ob Sie damit einverstanden sind, wenn Sie für einen Zeitraum von 3 Monaten bei uns bleiben? Ohne Ihr ausdrückliches Einverständnis können wir Sie nicht da behalten, da Sie ja bereits seit einigen Jahren volljährig sind und Ihr Psychologe es Ihnen freistellen wollte und deshalb von einer Zwangsein-, beziehungsweise eher Zwangsüberweisung abgesehen hatte“, erklärte die etwas überfreundlich dreinblickende Dame mir. „Ja. Ja, ist okay, machen Sie nur“, murmelte ich und fuhr mir resigniert mit der Hand durch die Haare. „Dann unterschreiben Sie bitte hier“, sagte die Empfangsdame und tippte auf die untere Hälfte eines Dokuments. Ich setzte meine krakelige Unterschrift unter eine Reihe von Absätzen, ohne mir die Mühe zu machen, sie durchzulesen. Es war mir egal, einfach alles egal. Es gab zunächst noch ein bisschen Hin und Her, bis alles geregelt war. Meine Mutter schloss mich in eine schraubstockartige Umarmung und ich ließ sie über mich ergehen. Mein Vater klopfte mir beherzt auf die Schulter und warf mir ein Lächeln zu, dass vermutlich aufmunternd gemeint sein sollte. Die Dame stand erwartungsvoll neben uns und wartete darauf, dass die Verabschiedung vorbei war. Meine Eltern verließen die Empfangshalle des Krankenhauses und ich hörte noch, wie die Stimme meiner Mutter bebte, als sie sich mit meinem Vater unterhielt, der ihr beschützend den Arm umlegte.
Ich sah den beiden noch eine Weile nach und fühlte mich noch einsamer und kälter als zuvor. So geborgen, wie die beiden miteinander umgingen. Ich hatte mir immer gewünscht, dass ich irgendwann mal jemanden finden würde, mit dem ich eine solche Intimität teilen könnte, aber das war schon seit langem nicht mehr wichtig. Ich glaubte, es gäbe niemanden auf dieser Welt, der sich mit mir rumplagen wollen würde und ich wollte niemanden mit mir und meinen düsteren Gedanken belasten. Wenn ich mich schon selbst am liebsten nicht mal kennen würde, wie sollte dann jemand in der Lage sein, mir so etwas wie Zuneigung zu geben?
Die rundliche, kleine Dame räusperte sich verlegen und riss mich aus meinem Gedankenstrudel. Ich sah zu ihr und sie bedeutete mir ihr zu folgen. Ich trottete hinter ihr her und wir gingen durch ein Labyrinth aus steril riechenden Gängen mit quietschenden Linoleum Fußböden. Wir kamen zu einem Fahrstuhl. Als wir nicht mehr gingen, sondern auf den Fahrstuhl warteten fühlte sich das Schweigen sehr betreten an. Sie empfand das anscheinend ähnlich und versuchte überschwänglich zu wirken: „Also, Ihnen wird es bestimmt bei uns gefallen. Wir haben sehr oft mit solchen Fällen wie Ihrem...“ „Da war es wieder „solche Fälle““, unterbrach ich sie in Gedanken. „...zu tun und unsere ehemaligen Patienten meinten, dass wie ihnen sehr helfen konnten. Sie werden schon sehen, alles wird wieder gut. Lassen Sie sich auf die Therapie ein und Sie schaffen das schon. Sie sind ja ein junger Mann, der sein Leben noch vor sich hat, sie überstehen diese Tiefphase“, schnatterte die Empfangsdame weiter und wurde mir mit jeder Silbe unsympathischer. Ich hoffte inständig, dass die offiziellen Angestellten der Klapsenabteilung etwas feinfühliger wären und nicht mit leeren Phrasen um sich werfen oder meine Depression als „Tiefphase“ bezeichnen würden.
 

Clive77

Serial Watcher
Zum Glück meldete sich der Fahrstuhl in diesem Moment mit einem leisen „Pling“ und unterbrach den nervösen Redeschwall der Frau. Wir stiegen ein und sie hielt zu meinem Glück die Klappe. Sie betätigte den Knopf, neben dem ein kleines unauffälliges Metallschild mit der Aufschrift „Psychiatrische Abteilung“ angebracht war. Wir fuhren nach oben und hielten langsam an. Ich atmete ein und hielt die Luft an, als sich die Türen öffneten seufzte ich. Die dickliche kleine Frau wuselte den kurzen weißen Flur voraus, viel schneller als ich es ihr zugetraut hätte, zu einem neuen Empfangsschalter, dem ein kleiner Beistelltisch und zwei sesselartige Stühle gegenüberstanden. Die Dame bedeutete mir, mich auf den einen freien Stuhl zu setzen und zu warten, während sie begann auf die Person hinter der Scheibe des Empfangs einzureden.
Neben mir auf dem anderen Platz saß ein junger, ausgezehrt wirkender Mann. Es war mir unmöglich sein genaues Alter zu schätzen, er könnte erst 18 sein aber genauso gut auch 28. Er hatte dünnes Haar und tiefe Schatten unter den Augen. Er wandte mir seinen Kopf zu, der ungewöhnlich groß auf dem dünnen Hals und den schmalen Schultern wirkte, und grinste mich breit an. „Sag mal, magst du Wetten?“, fragte er unverblümt und gerade heraus. Ich starrte ihn stumm an als sei er verrückt. In diesem Moment erinnerte ich mich daran, vor welcher Station wir warteten und korrigierte mich selbst: Er musste tatsächlich auf irgendeine Art und Weise nicht ganz richtig im Kopf sein, also beschloss ich diesen Umstand einfach zu akzeptieren. „Äh... Ja, ich schätze schon.“, stammelte ich hervor. „Sehr gut. Dann schließen wir eine Wette ab, okay? Okay! Mein Vorschlag: Wir kommen ja nun gleichzeitig da rein, aber wohl kaum auch gleichzeitig da raus..“, er nickte zu der verschlossenen Tür aus Milchglas. „...also würde ich sagen, wetten wir darum. Ich setze darauf, dass ich es eher schaffe, da wieder raus zu kommen, als du. Du wettest natürlich darauf, dass du gewinnst, aber ich sag dir eins: Deine Chancen stehen schlecht. Ich werde bestimmt gewinnen“, sagte er siegessicher und selbstzufrieden.
Ich blinzelte zweimal, vollkommen überrumpelt von seiner Forderung. Ich fand ihn äußerst dreist, allerdings auch durchaus interessant. Ich fühlte mich tatsächlich herausgefordert, gegen ihn gewinnen zu wollen. Ein Gefühl, das ich auf diese Weise schon lange nicht mehr empfunden hatte. Herausforderungen lauerten auf mich an jeder Ecke meines Daseins, allerdings erschienen sie mir zunehmend als unlösbar und zu überwältigend, um sie in Angriff nehmen zu können, so dass ich meist wie gelähmt war durch den Druck, den sie auf mich ausübten. Er grinste mich noch immer an. „Also, was sagst du?“, fragte er und streckte mir seine Hand entgegen. Er hatte dieses Etwas, dass ich nicht benennen konnte. Irgendetwas an ihm löste was in mir aus. „Ich bin dabei“, sagte ich und ergriff seine Hand, noch bevor ich richtig nachdenken konnte, worauf ich mich da einließ.
Wir schüttelten unsere Hände und er sah mich feixend an. „Abgemacht! Ich bin übrigens Tobias.“ „Florian.“, antworte ich knapp. „Bist eher nicht so der gesprächige Typ, hm? Na, macht ja nichts. Bist du das erste mal hier? Ich drehe mittlerweile schon die dritte Runde, aber dieses Mal ist es die letzte, da bin ich mir sicher“, blubberte er fröhlich hervor und wippte mit den Beinen auf und ab.
Ich fragte mich, weshalb man wohl dreimal in die Klapse müsse, aber ich fragte ihn nicht. Ich hatte das Gefühl, dass es taktlos sei einfach nachzufragen. Das war meiner Meinung nach etwas, was man von sich selbst aus erzählen sollte. Er redete, beziehungsweise monologisierte weiter. Ich machte mir nicht die Antwort auf seine sporadischen Fragen zu antworten, da sie meist eh nur rhetorischer Natur zu sein schienen und er sie sich selbst beantwortete. Ab und zu streute ich ein „Hmm“ oder ein „Ja, vermutlich“ ein. Ich fand es angenehm, ihm zuzuhören. Trotzdem ließ mich der Gedanke nicht los, weshalb er wohl hier sei. Abgesehen von seinem sehr kränklich und hager wirkendem Äußeren erschien er mir als sehr warmherzig und fröhlich, so als habe er keine Sorgen und nichts von der Welt zu befürchten.
Nach zehn Minuten öffnete sich die Milchglastür und ein weiß gekleideter Pfleger lehnte sich lässig aus der Tür heraus. „Oh! Hey, Tobias. Schön, dass wir uns mal wieder sehen, aber schade, dass es unter diesen Umständen sein muss.“ Tobias sprang von seinem Stuhl auf und hielt seine Hand zu einem Highfive hoch. Der Pfleger schlug kumpanenhaft ein. „ Und du bist dann Florian, nehme ich an. Ich hoffe es ist okay, wenn wir uns duzen. Ich bin Richard und ich zeig euch beiden jetzt erst mal die Station und erkläre euch, wie hier bei uns alles läuft. Obwohl du das Prozedere ja eh kennst, Tobi“, sagte er mit einem Zwinkern. Richard war ein groß gewachsener Mann mit längeren, dunklen Haaren, die er im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden hatte und auf seiner Nase balancierte eine Brille aus dünnem Metall. Er wirkte sympathisch. Wie jemand, mit dem man im Sommer am Wasser das ein oder andere Bier trinken könnte oder als könnte man ihm auf einem Festival in der Menge begegnen und er würde einem sofort kumpelhaft den Arm um die Schultern legen und zum nächsten Song mit grölen.
Ich erhob mich von meinem Platz und nickte nur stumm. Richard schaute mich aus freundlichen Augen an und wartete geduldig, bis ich mich vollends aufgerappelt hatte. Dann drehte er sich um und Tobias und ich folgten ihm durch die Tür, die hinter uns geräuschlos zu schwang und mit einem leisen, aber endgültig wirkendem Klicken ins Schloss fiel. Mir war sofort klar, dass die Tür nicht ohne weiteres geöffnet werden könnte. Richard führte uns durch die Station, die anders als der Rest des Krankenhauses weniger steril wirkte. Eher wohnlich. Die Böden in den Fluren waren mit dem typischen Linoleum ausgelegt, aber die Aufenthaltsräume waren mit hellem Laminat, großen Fenstern und gemütlichen Polstermöbeln, Beistelltischen und Lampen ausgestattet. Es gab ein großes Bücherregal, einen Fernseher, ein Regal auf dem sich die Schachteln verschiedener Gesellschaftsspiele stapelten und eine Ecke in der sich Zeichenblöcke und eine Truhe befanden, in der offensichtlich weiterer Künstlerbedarf zu finden sein würde. Die Station erinnerte mich an den Flair einer Jugendherberge. Mit Ausnahme, dass nur wenige der Menschen wirklich jung wirkten. Die Altersspanne war bunt gemischt. Die jüngste Patientin, die ich beim Rundgang gesehen habe, mochte vielleicht 19 oder 20 Jahre alt sein, eher noch jünger, der älteste hier war vermutlich ein Herr, der einen sehr langen grauen Bart, schlohweiße Haare und eine Brille mit Gläsern, dick wie Flaschenböden, trug.
Richard führte uns überall herum, vorbei an Therapieräumen, einem Ausgabetresen für Medikamente, einem Speisesaal, Büros und Zimmern von Patienten und erklärte währenddessen die Tagesstruktur: „Es ist alles sehr geregelt bei uns, hat sich als sehr sinnvoll erwiesen, da vielen unserer Patienten die Struktur abhanden gekommen ist und so erst mal wieder ein Tagesablauf etabliert werden kann.“ Ich zuckte fast unmerklich zusammen und fühlte mich ertappt, genau das könnte man auch von mir behaupten. Richard erklärte den groben Ablauf eines Tages hier und was alles erlaubt und was nicht gestattet sei. „Sag mal rauchst du?“, wandte er sich an mich. „Uhm... Ja, unter Umständen“, murmelte ich beinahe peinlich berührt. Das Rauchen war nur eine meiner unzähligen schlechten Angewohnheiten, die mich an mir störten. Als ich anfing hab ich nur auf Party oder an Kneipenabenden mit meinen Freunden mal eine gequalmt, aber je gestresster ich wurde, je schwieriger und komplizierter mein Leben und je seltener die Abende, an denen ich meine Wohnung verlassen habe, desto öfter schlich sich das Rauchen auch in meinen Alltag ein. Jetzt rauchte ich in den besonders düsteren Phasen wie ein Schlot, aß aber dafür so gut wie nichts mehr, mein Appetit war schon seit längerem nicht mehr wirklich vorhanden.
Richard warf einen schnellen Blick zu Tobias, der ihn nur ansah und kurz lächelte. Dieses Lächeln wirkte allerdings steif und etwas verrutscht im Vergleich zu seinem strahlendem Grinsen. Ich hatte die Vermutung, dass Tobias meine Antwort störte und Richard das bereits vermutet hatte, war mir allerdings nicht sicher. „Naja, rauchen kannst du hier drin nur zu den vorgegebenen Zeiten und auch nur eine festgelegte Anzahl Kippen. Bevormunden wollen wir dich natürlich nicht, du bist erwachsen, aber trotzdem können wir nicht jedes mal jemanden mit raus schicken, wenn jemand rauchen möchte. Deshalb gibt es Raucherpausen auf dem Innenhof.“ Ich nickte betreten. Damit war das Thema vom Tisch.
Es stellte sich heraus, dass Tobias und ich in einem Zimmer einquartiert wurden, was ihn offenbar sehr freute. Mir war es recht, ich mochte diesen verschrobenen Typen irgendwie und es war nach wie vor angenehm, ihm zuzuhören, wenn er mir von diesem und jenem erzählte. Es lenkte mich von meinem eigenen Befinden ab. Er schaffte es sogar immer öfter auch mal eine mehrsilbige Antwort aus mir herauszubekommen, was uns beide offenbar angenehm überraschte.
Am späten Nachmittag hatte ich einen Termin bei der stationsinternen Psychologin. Ich klopfte an ihre Tür und sie bat mich herein. Sie war eine kleine Frau, die hohe Absätze trug, dazu eine schwarze Stoffhose und eine hellblaue Chiffonbluse, die ihrem Körper schmeichelte. Sie wirkte sehr seriös, aber keineswegs kalt. Sie blickte kurz auf. „Setz dich bitte, Florian, ich bin sofort fertig.“ Ich setzte mich und während sie meine Akte zu Ende durchblätterte, betrachtete ich sie. Sie hatte eine Lesebrille mit markantem schwarzen Gestell auf der geschwungenen Nase und ihre brünetten Haare waren zu einer lockeren Hochsteckfrisur gesteckt, durch die sich die ersten grauen Strähnen zogen. Sie war vielleicht Mitte 40, hatte sich aber offenbar gut gehalten.
 

Clive77

Serial Watcher
Nachdem sie fertig war, stellte sie sich mir vor: „Mein Name ist Mildred. Wir werden uns in der nächsten Zeit öfter sprechen und mal sehen, wie wir dir zusammen weiterhelfen können.“ Ein ungewöhnlicher Name, dachte ich. „Heute lernen wir uns aber erst einmal ein bisschen kennen, wenn das für dich in Ordnung ist. Es ist vermutlich alles grade sehr viel für dich, deshalb wäre es gut, wenn du dich heute ein bisschen zurechtfinden kannst und wir dann in den nächsten Tagen beginnen uns deiner Problematik zu nähern.“ Das leuchtete mir ein. Sie sah mich erwartungsvoll an, was mich etwas nervös werden ließ. „Uhm... Was wollen Sie denn über mich wissen? Sie haben doch schon meine Akte gelesen, da steht alles drin, was es über mich zu wissen gibt.“ Sie lachte freundlich. „Ich glaube nicht, dass das alles ist, was man über dich wissen kann. Ach und bitte duze mich doch, wenn es dir nichts ausmacht.“
Ich sah sie misstrauisch an. Ich glaubte nicht so recht, dass es wirklich viel über mich zu erzählen gebe. „Ich bin nur irgendein Typ, der versucht hat, sich umzubringen und nicht einmal das geschafft hat“, dachte ich bitter. „Fangen wir doch einfach mal damit an, wie du dich heute fühlst. Bist du gut angekommen?“ Ich berichtete ihr knapp von meinem bisherigen Tag. Aufwachen, Gespräche mit meinen Eltern und Ärzten, an denen ich kaum beteiligt war, die Fahrt hierher, die Einweisung und das Kennenlernen mit Tobias, die Stunden danach lag ich eigentlich nur auf meinem Bett, während Tobias seine Sachen auspackte und munter redete. Als Ich Tobias Namen erwähnte, horchte sie interessiert auf.
„Tobias und du, ihr habt euch kennengelernt?“ „Ja, das war ziemlich schräg. Er hat mit mir gewettet, noch bevor er sich überhaupt vorgestellt hat.“ „Was habt ihr denn gewettet?“, fragte sie argwöhnisch. Ich wurde rot. „Naja... Wir haben darum gewettet, wer von uns beiden.... Uhm... Also wer von uns beiden eher wieder hier raus kommt“, druckste ich peinlich berührt. „Ich halte nicht viel davon, den Genesungsvorgang zu forcieren und mit Druck voranzutreiben“, sagte sie kritisch und schürzte die Lippen. Ich erklärte ihr hastig, dass ich es nicht so aufgefasst hatte und ich es sogar tatsächlich als motivierend empfand. Sie faltete die Hände. „Wenn das so ist, dann würde ich den Dingen gerne ihren Lauf lassen und sehen wie es sich entwickelt. Vielleicht können du und Tobias beide voneinander profitieren.“ Die Sitzung verlief tatsächlich recht angenehm, was mich nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Psychologen verwunderte.
Die Tage vergingen und ich lebte mich seltsamerweise gut ein. Ich stand sogar bereitwillig am Morgen auf und meine Stimmung verdüsterte sich nicht mehr je länger ich wach war, wie sonst immer. Ich war noch immer weit davon entfernt, mich gut zu fühlen, aber meine Gedanken hörten auf zu rasen. Sie verschmolzen vielmehr zu einer einzigen homogenen Masse, aus der es schwierig wurde einen einzelnen zu extrahieren und zu fassen zu bekommen. Die dunkle Wolke, die wie ein Damolkesschwert über mir hing, löste sich nach und nach auf. Ich begann festzustellen, wie ich stabiler wurde. Die Abwärtsspirale aus Selbsthass und -vorwürfen drehte sich immer langsamer und ich begann zaghaft zu hoffen, dass sie irgendwann vielleicht ganz stoppen könnte. Ich erreichte ein Plateau, auf dem ich festen Halt fand.
Die Tage und Wochen waren sehr strukturiert und ich hatte selten Zeit mich meinen Gedanken zu widmen. Das bisschen Freizeit, das ich hatte, verbrachte ich mit Tobi. Er feixte immer mal wieder über unsere Wette, aber er wuchs mir langsam ans Herz und ich ertappte mich sogar dabei, wie ich über seine Witze lachte und mich zu der ein oder anderen sarkastischen Aussage hinreißen ließ. Ich wurde fast zuversichtlich, dass ich nicht sogar eventuell gewinnen könnte.
Tobias verschwand hin und wieder und war für einige Stunden unauffindbar. Auf meine Nachfrage, nachdem er wieder für 3 Stunden weg war, lächelte er nur müde und ließ sich mit wackeligen Beinen auf sein Bett fallen. Ich betrachtete ihn das erste Mal seit unserer Ankunft wieder richtig. Er wirkte noch kränklicher und blasser als bei unserem Kennenlernen. Die Schatten unter seinen Augen waren noch dunkler und seine Wangen wirkten seltsam hohl. Er wirkte fast durchsichtig, als gehörte er gar nicht zu dieser Welt. Ich war schockiert. Einerseits darüber, wie seine sonst so fröhliche und warme Ausstrahlung darüber hinwegtäuschen konnte und andererseits über mich selbst. „Wie konnte ich nur so selbstzentriert sein und nicht bemerken, wie es ihm geht?“, dachte ich betreten und schuldbewusst. „Hey, Tobi. Also, äh, wenn du reden willst oder so, also dann kannst du das gerne mit mir...Also wenn es nicht komisch für dich ist, meine ich“, stotterte ich hervor. Ich war es nicht gewohnt so etwas zu sagen und es auch tatsächlich zu meinen. Aber ich mochte ihn und ich wollte helfen. Über diesen Gedanken schlief ich ein.
Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fühlte ich mich anders. Irgendwie fühlte sich die Welt kälter an. Ich wandte den Kopf um und blickte auf das akkurat gemachte Bett, aus dem mir nicht wie sonst üblich Tobias Grinsen entgegen leuchtete. Ich fuhr hoch. Ich hörte ein aufgeregtes Gewirr aus Stimmen auf dem Flur und schlappte träge zur Tür mit der Ahnung, dass Tobias bestimmt schon auf den Beinen und Teil des Stimmengemurmels war. Ich streckte den Kopf aus der Tür und erschrak.
Die gesamte Station war in heller Aufruhr und versammelte sich um das Gemeinschaftsbad der Männer. Sogar Richard schien erschüttert und in seinen Augenwinkeln schimmerte es verdächtig. Niemand kümmerte sich darum das Chaos in den Griff zu bekommen. Meine Gliedmaßen fühlten sich kalt an und ich tappte in Richtung des Bades. Mein Kopf war wie leer gefegt. Es fühlte sich an, als drehte sich die Welt langsamer. Eine Trage wurde in den Flur geschoben. Ein weißes Laken war über einen Körper gebreitet. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Richard bemerkte mich und kam mit erhobenen Händen auf mich zu, fasste mich sanft an den Schultern und sah mir eindringlich in die Augen. Er begann zu sprechen, aber ich hörte ihn nicht.Es klingelte in meinen Ohren. Ich wusste bereits, was er versuchte mir zu sagen.
Ich stürzte zurück ins Schlafzimmer. Es konnte nicht sein. Tausend Gedanken auf einmal brachen auf mich ein und mein Blick flackerte hektisch durchs Zimmer. Auf Tobias Kopfende lag ein weißer Umschlag, der mir zuvor nicht aufgefallen war. Mit zittrigen Fingern öffnete ich den Umschlag und zog fahrig ein Blatt Papier heraus. Es standen genau zwei Sätze darauf:

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich vor dir hier rauskomme. Bitte, lebe für uns beide weiter.“

Darunter eine filigrane Unterschrift, Tobias Nehmel. Klar und deutlich. Die Welt blieb stehen.

Tobias Nehmel war 23 als man ihn tot im Badezimmer der psychiatischen Station des St. Marien Krankenhauses auffand. Er hatte sich mithilfe eines Duschvorhangs selbst das Leben genommen.
Herr Nehmel war bereits seit seinem 14. Lebensjahr aufgrund der Diagnose eines bösartigen Lungenkarzinoms in medizinischer und psychologischer Behandlung. Der Krebs war mehrere Male in Remission, eine langfristige Abwesenheit konnte allerdings nicht erzielt werden. Es wurden Metastasen in Leber, Bauchspeicheldrüse und Darm gefunden, die die Chance auf Heilung revidierten.
 

MamoChan

Well-Known Member
Eine solide Geschichte ohne große Überraschungen. Der Schreibstil war ehrlich gesagt nicht so meins. Vermutlich hat der Autor diese triste Erzählweise bewusst gewählt, vielleicht um die innere Leere und Trostlosigkeits von Florian wiederzuspiegeln, aber ich empfand den Schriebstil als wirklich anstrengend zu lesen, gerade weil er so trist und teilnahmslos, manchmal auch langweilig, wirkte. Hier und da kam mir die Geschichte auch bedeutend zu lang vor. Das Thema "Wette" wurde ganz gut eingearbeitet, und der Leser weiß schon an dieser Stelle, wie die Geschichte dann enden wird. Wie gesagt, solide, aber irgendwie fehlt mir dabei etwas.
 

Rhodoss

Well-Known Member
Schließe mich mamochan an. Gute Geschichte, aber irgendwie fehlt da was. Ich kann nicht mal sagen was. Der schreibstil ist aber in meinen Augen, voll in Ordnung. Ich konnte alles flüssig und leicht verständlich lesen. Nur der Anfang war etwas verwirrende. Erst im Auto, dann im Krankenhaus, dann wieder im Auto...
 

Sittich

Well-Known Member
Bei dieser Geschichte habe ich zwischendurch mit dem gleichen Ende wie bei "Freunde" gerechnet, aber Tobias hat sich dann doch als real erwiesen. :squint: Aber beide Geschichten eint das bittere Ende.

Das Thema ist gut getroffen. Der Titel hat auch was. Die Kritik von Mamochan und Rhodoss kann ich nachvollziehen, ein bisschen fad ist die Handlung schon. Vielleicht, weil man sich selbst den Ablauf in einer solchen Anstalt recht gut vorstellen kann und dazu als besonderer Handlungsaspekt nur der Tobias-Part kommt, von dem man am Ende aber auch nicht weiß, wie er sich auf Florian auswirken wird. Ist schwer auszudrücken. Ein bisschen Kürzung hätte der Geschichte vermutlich nicht geschadet.

Dennoch sehr realitätsnahe geschildert (behaupte ich mal) und insgesamt gut gemacht.
 

Joker1986

0711er
Die Geschichte hat mir gefallen unter anderem, weil ich selbst erst einen Freund vor ein paar Wochen aus der Klapse abholen musste/durfte nachdem es ihm mal wieder schlechter ging.
Inhaltlich kommt die gut an das ran, was ich so von ihm gehört habe.
Was man vielleicht noch erwähnen sollte ist, dass so eine Klapse für depressive nicht der ideale Ort ist, da man bei den ganzen verrückten da, selber noch bescheuert wird.
Weil depressiv ist nicht zu vergleichen mit den Irren die da sonst so rumspringen :whistling:
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Eine ordentliche Geschichte, die sauber geschrieben ist (es fehlt nur hier und dort ein Komma) und das Thema gut umsetzt.
Ich muss mich aber leider auch meinen Vorrednern anschließen, dass die Story etwas fad ist, was meiner Vermutung nach nicht nur an dem Thema "Depression", sondern auch an dem Schreibstil liegt. Nicht, dass er schlecht wäre, es ist nur so, dass hier teilweise mehrere kurze oder mittellange Sätze hintereinander stehen, wie zum Beispiel:
Seit Beginn der Fahrt hatte ich mich nicht gerührt. Wir waren auf dem Weg ins Krankenhaus.

Es hatte begonnen zu regnen und die Tropfen klopften auf das Dach des
Wagens. Dieses Geräusch hatte mich schon als Kind beruhigt. Ich mochte
Regen schon immer.
Vielleicht wäre der Text etwas harmonischer, wenn es mehr Abwechslung zwischen kurzen und langen Sätzen gäbe.

Diese Formulierung
elterliche Inquisition
finde ich toll. Aber meiner Meinung nach war es in dem Zusammenhang nicht wirklich treffend. Ihr Sohn leidet an Depressionen und hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Natürlich sind sie da beunruhigt und wollen helfen. Sie haben nicht vor, ihn zu foltern und öffentlich zu verbrennen :wink:
Das ist ja auch so eine Sache - nach einem Selbstmord wird dem sozialen Umfeld oft vorgeworfen, dass sich niemand für die Probleme des Verstorbenen interessiert hätte, dass die Anzeichen da wären, dass die Gesellschaft schuld ist etc. Aber das stimmt meistens gar nicht - die Suizidgefährdeten schotten sich oft selbst von der Welt ab und empfinden es als Belastung (oder in diesem Fall "Inquisition"), wenn jemand mit ihnen darüber reden will. "Das ist mein Leben, mischt euch nicht ein!"
Leider wollen sich viele gar nicht helfen lassen und blocken jeden Versuch ab. Sie werden nicht "von der Gesellschaft verstossen", sondern schließen sich selbst aus (was aber kein Vorwurf sein soll) und ziehen eine klare Grenze zwischen sich und dem Rest der Gesellschaft. Oft versinken sie auch zu sehr in Selbstmitleid und sind blind für die Probleme ihrer Verwandten, Freunde, Kollegen, Nachbarn. Das klingt nach viel Kritik, aber mir ist klar, dass sie meistens nichts dafür können, weil die Depressionen durch Hormonstörungen oder genetische Veranlagung ausgelöst werden.
Ist ein schwieriges Thema.

Insgesamt eine ordentliche Geschichte, wie gesagt.
Sittich schrieb:
Bei dieser Geschichte habe ich zwischendurch mit dem gleichen Ende wie bei "Freunde" gerechnet, aber Tobias hat sich dann doch als real erwiesen. :squint: Aber beide Geschichten eint das bittere Ende.
Spoiler! :cursing: :wink:
 

Clive77

Serial Watcher
Sehe es hier ähnlich wie Tyler. Die Geschichte ist nicht schlecht und mit Blick auf das Thema vermutlich bewusst etwas trist geschrieben. Ich musste mich allerdings bis zum Ende durchkämpfen, wobei ich schon ahnte, worauf es da hinausläuft.
Das Thema "Wette" ist allerdings gut integriert. Der Text hätte meiner Meinung nach ein paar ordentliche Absätze vertragen können und der Hinweis von Tyler mit den Sätzen wäre auch eine Empfehlung meinerseits.
 
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