BG Noirvember Artikel: Billy Wilders Noir-Antihelden

12. November 2020, Manuel Föhl

Der Noirvember wird schwarz. Über den November verteilt stellen wir euch einige der besten und spannendsten Werke des Film Noir vor. Die Schwarze Serie Hollywoods: Schnüffler, Mörder und Betrüger, Femmes Fatales, dunkle Schatten und Zigarettenqualm. Heute werfen wir mal einen ausführlicheren Blick auf die Antihelden von Billy Wilder, der abseits seiner Film Noir-Ausflüge eigentlich eher als Komödien-Regisseur bekannt sein dürfte.

Alles was ich will, ist gute Rollen schreiben, Filme machen, über die die Leute, wenn sie das Kino verlassen haben, noch eine Viertelstunde in der Kneipe reden können.

Wo FRAU OHNE GEWISSEN (Double Indemnity – 1944) als einer der ersten Filme einen Antihelden zeigte, scheint sich Billy Wilders Werk im Ganzen zur Analyse des Antihelden besonders zu eignen: Seine Figuren schwanken oft zwischen Sitte und Moral, Recht und Unrecht und Materialität und Gier. In der Annahme, dass der Antiheld im Film dem Film Noir entspringt, soll in diesem Artikel über den Exilanten Billy Wilder nicht nur seine Vergangenheit betrachtet werden, sondern vor allem seine beiden Werke DOUBLE INDEMNITY (bereits Hier vorgestellt) und SUNSET BOULEVARD (1950). Die Hauptfiguren der Filme, der Versicherungsbeamte Walter Neff (Fred MacMurray) und der Drehbuchautor Joe Gillis (William Holden), sollen anhand ihres moralisch-fragwürdigen Handelns als Helden der Geschichte beobachtet und ihre (Aus-)Wirkung auf den Zuschauer heraus gearbeitet werden.

Samuel alias Billy Wilder war ein Sohn jüdischer Eltern und bekam seinen mittlerweile fast ikonischen Vornamen von seiner Mutter getauft, die ihn eigentlich immer mit „Billie“ rief, was er später in Amerika „Billy“ schreiben ließ. Als der erste Weltkrieg ausbrach zog die Familie Wilder nach Wien, wo er sich mit dem späteren Hollywood-Regisseur Fred Zinnemann befreundete und sogar zeitweise gemeinsam die Schulbank drückte. Bevor er seine Filmkarriere startete verdiente er sich als Eintänzer und Zeitungsreporter sein Geld. nachdem er sich mit Kollegen bei MENSCHEN AM SONNTAG (1930) noch einer ganz anderen Sorte Film zugewandt hatte, schrieb er gemeinsam mit Erich Kästner 1931 das Drehbuch für EMIL UND DIE DETEKTIVE, die Erstverfilmung von Kästners Roman – damals noch als Samuel Wilder.

MENSCHEN AM SONNTAG hat sich nicht nur als einer der wichtigsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit einen Platz in der Filmgeschichte gesichert, sondern war gleichzeitig ein kleines Konglomerat kommender großer Namen der Branche. Es wirkten Namen mit wie Robert Siodmak und Edward G. Ulmer zwei Herren die später in Hollywood für Klassiker wie ZEUGE GESUCHT (The Phantom Lady – 1944) und DIE SCHWARZE KATZE (The Black Cat – 1934) verantwortlich waren. Doch hinter der Kamera verbarg sich auch ein Eugen Schüftan, der nicht nur dafür sorgte, dass man durch das nach ihm benannte Verfahren – Statt riesige Kulissen zu bauen, baut man nur verkleinerte Modelle – leichter Wünsche der Filmemacher realisieren konnte, sondern auch für die Bildgestaltung bei Filmen wie dem Klassiker aus dem Poetischen Realismus HAFEN IM NEBEL (Le Quai des brumes – 1938) und oscarprämiert für HAIE DER GROßSTADT (The Hustler – 1961) verantwortlich war. Und schließlich war auch Fred Zinnemann an dem Film beteiligt der abermals später in Hollywood einen Klassiker beisteuerte: ZWÖLF UHR MITTAGS (High Noon – 1952).

„Ist es erforderlich, dass ein Regisseur auch gut schreiben kann? -Nein, aber es hilft, wenn er lesen kann!“

Unmittelbar nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten übersiedelte Wilder 1933 nach Paris, wo er sich als Ghostwriter für französische Drehbuchautoren seinen Lebensunterhalt verdiente und bei MAUVAISE GRAINE (Böse Brut – 1934) auch zum ersten Mal auf dem Regiestuhl Platz nahm. Sein Handwerk als Drehbuchautor verfeinerte er anschließend zusammen mit seinem Co-Autor Charles Brackett in Hollywood für die Komödien von Ernst Lubitsch wie BLAUBARTS ACHTE FRAU (Bluebeard’s Eighth Wife – 1938) und NINOTSCHKA (Ninotchka – 1939). Unzufriedenheit über die Adaptionen seiner Skripte, vor allem bei DAS GOLDENE TOR (Hold Back the Dawn – 1941) von Mitchell Leisen, brachte ihn schließlich endgültig selbst ins Regiefach und sein erster großer Erfolg über den Versicherungsverkäufer Walter Neff, der einer „Frau ohne Gewissen“ verfällt, war dann weniger zum Lachen, aber beim Publikum beliebt. Den endgültigen (komödiantischen Durchbruch) als Regisseur und eine Signatur bis heute verschaffte ihm die Zusammenarbeit mit seinem Drehbuchautor I.A. Diamond.

© MGM

Billy Wilders Filme strotzten nie vor Extravaganz oder technischen Spielereien – klammert man die Lichtsetzung bei seinen Noir-Ausflügen FRAU OHNE GEWISSEN und SUNSET BOULEVARD mal aus. Für ihn lenkten solch technische Experimente eher von den Figuren und dem Geschehen ab, welche für Wilder die stärksten Pfeiler in seinen Geschichten waren. Seine Filme spielten sich hauptsächlich in halbtotalen, amerikanischen oder halbnahen Einstellungen ab. Er will den Charme und Witz der Figuren nicht dem Zuschauer auf das Auge drücken, sondern in teilweise minutiös inszenierten Sequenzen vorstellen. Man denke an die viele Szenen aus EINS, ZWEI, DREI (One, Two, Three – 1961) mit dem Spiel von raumöffnenden Schwenks und Tiefenschärfe, die es Wilder und seinem Kameramann Daniel L. Frapp ermöglichten auf viele Schnitte zu verzichten und gemeinsam mit MacNamara durch die Büroräume zu sprinten. Das Tempo der Figuren und ihrer Dialoge werden nicht in Actionfilm-Manier durch Schnitte unterstützt, sondern durch die Inszenierung vor der Kamera. In diesem Fall wurde diese Leistung dann sogar mit einer Oscar-Nominierung für Frapp honoriert. Auffallend auch wie lange Wilder am Schwarzweißfilm festhielt. Er schien ein ähnlicher Verfechter dessen zu sein, wie einst Chaplin beim Stummfilm. Im Nachhinein betrachtet waren dies aber die für ihn passenden ästhetischen Entscheidungen. Wie sonst hätte beispielsweise der erste Akt in MANCHE MÖGEN’S HEISS (Some like it Hot – 1959) in Farbe als Hommage an die alten Gangsterfilme funktioniert oder man bedenke den Mehraufwand an Zeit und Material, den man bei den Dreharbeiten mit dem Make-Up von Jack Lemmon und Tony Curtis gehabt hätte.

Von 1959-1966 erfanden Wilder und Diamond das Genre mit ihren Filmen zwar nicht neu, definierten es aber mit ihren Gesetzen zu etwas Eigenem. Schon in ihrer ersten Zusammenarbeit MANCHE MÖGEN’S HEISS aus dem Jahr 1959 – ein Jahr in dem die vier erfolgreichsten Filme Komödien waren – lässt sich ein immer wieder gern benutztes Motiv bei ihnen entdecken, was in der Fachliteratur oft auf Wilders Eintänzer-Vergangenheit zurückgeführt wird. Der Hang zur Verkleidung und Maskerade. Seien es Joe und Jerry in MANCHE MÖGEN’S HEISS, die Verwandlung des parteitreuen Kommunisten Otto zum Kapitalisten in EINS, ZWEI, DREI oder Jack Lemmons Nestor Partou in DAS MÄDCHEN IRMA LA DOUCE (Irma La Douce – 1963), der sich teilweise selber nicht mehr ganz sicher ist, ob er nun Lord X sei, ein Mac oder der gesetztestreue Polizist. Das Motiv der Verkleidung wird von dem Duo Wilder/Diamond oft auf die Spitze getrieben um ihre Protagonisten in die Irre zu führen oder zu ihrem Ziel zu verhelfen. Wenn dann am Ende von DAS MÄDCHEN IRMA LA DOUCE auch noch plötzlich ein scheinbar echter Lord X in der Kirche sitzt, kann man sich nicht mehr sicher sein, ob Wilder und Diamond nur mit ihrem Protagonisten Moustache Verwechslungskomödien wie im alten Griechenland spielen, oder doch auch mit dem Zuschauer selbst. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wilders und Diamonds Helden bewegten sich dabei auch immer wieder auf einem moralisch dünnen Pfad. Dient die Verkleidung Joes und Jerry beim einen nur um Monroes Sugar Kane zu erobern und beim anderen die Millionen eines Verehrers abzustauben, will Walther Matthaus Anwalt Gingrich in DER GLÜCKSPILZ (The Fortune Cookie – 1966) mit Hilfe der Maskerade des an den Rollstuhl gefesselten Jack Lemmons an das große Geld kommen. Am Ende bleibt immer zur Diskussion offen, ob der Held nun ein Held ist und Läuterung erfahren hat oder nicht. Besonders fragwürdig ist dies bei KÜSS MICH, DUMMKOPF (Kiss Me, Stupid – 1964). In der schwarzen Komödie ist am Ende eigentlich Kim Novaks Polly die menschlichste Gestalt. Zusammen fasst diesen moralischen Zwiespalt wohl am besten die Figur des Osgood in MANCHE MÖGEN’S HEISS, als Joe bzw. Daphne ihm seine wahre Identität preisgeben möchte und er dies mit einem einfach Satz abwinkt: „Nobody is perfect.“

Der Prototyp einer Handlung malt einen Bösewicht, den die Zuschauer hassen können und einen Helden zum Lieben. Der Antiheld ist weder Bösewicht, noch der Held in dunkler Rüstung. Auch sieht der Filmwissenschaftler Jens Eder im Antihelden eine Figur, der die „überdurchschnittlichen körperlichen, geistigen und moralischen Qualitäten des Helden fehlen“. Was fasziniert die Zuschauer jedoch an Wilders Antihelden, die weder das eine, noch das andere zu sein scheinen? Die Gründe dafür sind mannigfaltig.

Wilder bietet sich ein  größerer Fundus an Attributen, die er einem solchen Antihelden zuschreiben kann. So kann die Figur in einer moralischen Zwickmühle stecken oder mit ihrem Pessimismus einen Kommentar über ihre Gesellschaft kundtun.  Die Moralvorstellung des Antihelden entspricht in den meisten Fällen nicht der Moral des Zuschauers und auch nicht der in der diegetischen Welt gängigen. Die Beurteilung darüber hängt zudem von der Position des Zuschauers und seiner sozialen Nähe zur handelnden Figur ab.  Oftmals haben die Figuren mit sozialen Problemen zu kämpfen, greifen gern mal zur Flasche oder zünden sich eine Zigarette an. Diese Dinge identifizieren Antihelden nicht nur, sondern geben dem Zuschauer einiges an Menschlichkeit preis, wodurch geschafft wird sie mit deren Egos sympathisieren zu lassen. Der Zuschauer befindet sich deshalb trotz dieser zwielichtigen Charakterisierung, seiner egoistischen Zielen und der Dinge, die er dafür tut  – im Idealfall – auf der Seite des (Anti-)Helden. Jens Eder spricht in diesem Zuge aus der Sicht des Zuschauers von einem „Wohlwollen aus überlegener Position“. Man möge den Anti-Helden anfangs verteufeln, doch kann durch eine Annäherung eine unsympathische oder uninteressante  Komponente an einer Figur verschwiegen oder ausgeglichen werden.  Des Weiteren können „ihre Normverstöße eher der Situation als ihrer Persönlichkeit angelastet werden […]“, so dass man mit ihr mitfiebern kann, mit dem Bewusstsein, dass sie trotz kleiner Hoffnungsschimmer keine Erlösung erhalten wird und ihre kleinen Fehler und Schwächen sympathisch findet.

© Paramount / Universum Film (Leonine) 

Die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild der Amerikaner und ihrer Fremdwirkung bildete für Wilder das fruchtbare Spannungsfeld, um die Figuren der Antihelden zu gestalten.  Seine Helden müssen sich immer zwischen materiellen und moralischen Werten entscheiden und nur indem sie sich am Ende auf Zweiteres festlegen, erhalten sie ihren inneren Frieden.  Doch bei zwei Figuren von Wilder endete die Transformation tragisch.  Ohne rechtzeitige Moral. Walter Neff begeht, als einer „der ersten Antihelden Hollywoods“ , Mord für eine DOUBLE INDEMNITY, Joe Gillis lässt für Geld seine Moral und Prinzipien auf dem SUNSET BOULEVARD liegen, beide zahlen am Ende mit dem Leben dafür. Der vorliegende Artikel möchte abschließend diese beiden speziellen Antihelden aus dem Oeuvre Wilders genauer untersuchen und gegenüberstellen. Sie fallen nicht gewitzt, tollpatschig mit den Füßen beispielsweise eines Jack Lemmons, durch die kritisch betrachtete amerikanische Gesellschaft, sondern folgen anfangs wie der Fisch dem Köder  und erfahren zu spät Läuterung, als die Falle bereits zugeschnappt hat. Material für Helden ist da, aber ihre Moral und zu späte Erkenntnis verleihen ihnen beide das Etikett „Anti“. Walter Neff macht den Anfang – wie auch im Film selbst.

Billy Wilders Figur des Walter Neff zählt zu den Pionieren dieses neuen Figurentypus und FRAU OHNE GEWISSEN zu einem der ersten und prägendsten Vertreter des Film Noirs. Das Motiv der Verkleidung ist bei Wilder dabei ein treuer Begleiter und macht aus einem Drehbuchautor einen Gigolo und aus einem Versicherungsvertreter einen bereits toten Mann mit Krücken.

I killed Dietrichson. Me. Walter Neff. Insurance salesman. Thirty-five years old, unmarried, no visible scars – till a while ago, that is. Yes, I killed him. I killed him for money. And for a woman. I didn’t get the money. And I didn’t get the woman. Pretty isn’t it?

Mit diesen Worten bringt Fred MacMurray die Geschichte seines Walter Neff kurz und prägnant auf den Punkt. Er erzählt seine Geschichte, „eine Reise in die Vergangenheit, in die Erinnerung und das Unterbewußtsein“ , in das Diktiergerät nicht nur an seinen Chef Barton Keyes (Edward G. Robinson), sondern auch sich selbst, um herauszufinden und zu verstehen, wie er dieses Verbrechen begehen konnte. Von Beginn an hätte er wissen können, dass er die Frau, eine manipulative Schlange, die Femme Fatale, nicht bekommen kann. Als Phyllis Dietrichson (Barbara Stanwyck) (räumlich) über ihm steht und er ihr Fußkettchen erblickt, ist dies der Moment, an dem er „moralisch, förmlich zusammenbricht“. Er ist sich bewusst, dass Phyllis böse ist und Mord eine strafbare Tat, doch lässt er sich darauf ein ihren Mann ohne sein Wissen zu versichern, um so mit dem Mord an ihm die Versicherungssumme einzustreichen.

 „I fought it [the idea of murder], only I guess I didn’t fight it hard enough.“ .

Die Anziehungskraft, die Phyllis auf ihn hat, ist zu stark. Dabei übernimmt er sogar zeitweise die Kontrolle, als er in seiner Wohnung Phyllis seinen Plan wie eine mathematische Formel präsentiert. Nachdem sie ihn verlassen hat, steht die Kamera unter seiner Augenhöhe (Bild im Anhang!). Er oben auf, aber auch einsam, in seinem kargen, unpersönlichen Appartement, das bisher nur Neffs Liebe für Versicherungsstatistiken kannte.  Der Kontrollverlust über seinen Emotionen ist es schließlich, der ihn dominiert und ins Verderben führt.  Er konnte sich gute Chancen ausrechnen, dass er es schafft von seiner Firma die doppelte Versicherungssumme zu ergaunern. Unerwähnt bleibt dabei, was Neff mit seinem Teil der Summe für den vorgetäuschten Unfalltod anfangen will. Es liegt somit anfangs nahe, dass er mehr seine Firma, das System, testen möchte , als nur das Geld oder eine Frau zu bekommen,  auch wenn der Motor für Neffs Handeln erst mit dem Auftreten von Phyllis richtig in Gang gesetzt wird. Neff selbst gibt zu, dass er schon seit Jahren darüber nachgedacht hat und es zu seinem Job gehört, alle Eventualitäten eines Betrugs theoretisch durchzuspielen.  Das Beförderungsangebot seitens Keyes an Neff zeigt auch, dass er bisher sehr erfolgreich in seinem Metier war, dies ihm aber mittlerweile nicht mehr reicht und er aus diesen Bahnen ausbrechen möchte. Er will das System austricksen. Ein Hauptmotiv Neffs scheint demnach zweifellos die Selbstbefreiung, so argumentiert auch Stefan Durrer. Diese Befreiung scheint für ihn schließlich nur noch durch Mord möglich, dem Mord an Phyllis Dietrichsons Mann und schließlich an ihr selbst. Keyes auszutricksen, das Versicherungsgeld zu bekommen und dabei nicht erwischt zu werden, gerät dabei mehr und mehr in den Hintergrund.  Billy Wilder selbst will den Fokus auf Neffs Beziehung mit Keyes gelegt haben und sah die Affäre mit Dietrichson eher als Zusatz an.  Den daraus gezogenen Schluss von James Maxfield, der darin eine homosexuelle Beziehung bzw. Anziehung seitens Keyes sieht, ist diskutierbar , da Männerfreundschaften in Billy Wilders Oeuvre immer wieder eine Rolle spielen, ohne explizit einen homosexuellen Hintergrund zu propagieren.

Neff als Antiheld der Geschichte gibt dabei in der Rolle als Erzähler zwar seine Sicht vor, doch bleibt er trotzdem nicht von Schuld und Verantwortung am Verbrechen frei.  Da er aber dem Zuschauer sein Handeln als eine Art letzte Beichte erzählt, wird dieser zu einer Art Verbündetem.  Durch sein charmantes Auftreten (geschuldet auch Billy Wilders cleverem Castings eines All-American Guys), seiner lebenserfahrenen Sprache  und seiner Intelligenz – schließlich stammt der (fast erfolgreiche) Plan von ihm – erweckt er auch eine gewisse Empathie beim Zuschauer, was zeitweise dazu führt, dass man ihm einen positiven Ausgang wünscht. Eders bereits erwähnte Argumentation, dass dem Antihelden die „überdurchschnittlichen körperlichen, geistigen und moralischen Qualitäten des Helden fehlen“  würden, kann man Neff nicht unterstellen. Doch schließlich steht dem das Abwerfen vieler Werte gegenüber, wie seine Affäre mit einer verheirateten Frau und dem Mord. Weitere Schwächen zeigt er in seiner Beziehung zu Phyllis. Selten handelt er in ihrer Anwesenheit in vollem Bewusstsein. Er lässt sich beeinflussen und manipulieren. Selbst als er glaubt einen Ausweg zu kennen, hat sie schon andere Pläne für ihn geschmiedet.  Er wird Opfer seiner Ziele  und kontrolliert von einer Femme Fatale.  Einer Kontrolle, aus der er sich schließlich am Ende nur durch einen weiteren Mord befreien kann, den ihm aber niemand mehr Übel nehmen wird.

© Paramount Pictures

But before you hear it all distorted and blown out of proportion, before those Hollywood columnists get their hands on it, maybe you’d like to hear the facts, the whole truth. If so, you’ve come to the right party. You see, the body of a young man was found floating in the pool of her mansion – with two shots in his back and one in his stomach. Nobody important, really. Just a movie writer with a couple of ‚B‘ pictures to his credit. The poor dope!

Joe Gillis ist tot. „[…] as dead as a door nail“  wie Charles Dickens Marley und laut Gillis Agenten Gillis Drehbuch. Die Bestrafung des Anti-Helden ist damit schon abgehandelt und gesichert. Gillis, so erzählt er selbst als Voice Over-Stimme, findet seinen Weg ins Verderben durch seine Erfolglosigkeit. Als Lügen bei seinem Produzenten  auch nicht mehr hilft, flüchtet er vor den Versicherungsbeamten, die sein Auto konfiszieren wollen. Gillis macht keinen Hehl um seinen Hang zur Lüge, führt dieser ihn schließlich auch in die Fänge von Norma Desmond (Gloria Swanson), der er ein gutes Drehbuch postuliert. Er verpflichtet sich ihr, da er sich selbst Talentlosigkeit zuspricht („Apparently I just didn’t have what it takes […]“)  und Geld benötigt. Bei ihm steht somit zu Beginn vor allen Dingen das Geld bzw. Materielle im Vordergrund. Er lässt sich kaufen. Er nimmt dabei von Anfang an Norma nicht ernst  und macht sich unterschwellig über ihr Drehbuch lustig. Egoistisch zieht er seine Vorteile aus Norma. Nicht aus Liebe oder Anziehung lebt er bei ihr, sondern aus Faulheit. Allerdings verliert er seine Identität, indem er ein Ersatzhaustier für Norma wird und sich sogar von ihr einkleiden lässt.  Die Bezahlung besteht nämlich nur aus Schmuck und Kleidern, wodurch er schließlich sein Auto, den ursprünglichen Versteckgrund in Normas Villa, doch noch verliert. Der Verlust des Autos, das auch seine Männlichkeit und Unabhängigkeit symbolisierte, bindet ihn nur mehr an Norma.  Wie für Neff eröffnet sich auch für Gillis scheinbar ein Ausweg, als er an Sylvester den Fängen von Norma entkommen kann, doch bringen ihn seine Schuldgefühle und Mitleid aufgrund ihres Selbstmordversuches wieder zurück und er geht mit ihr fortan eine einseitige Liebesaffäre ein. Er schreibt nun nicht mehr, sondern fungiert nur noch als Lebenspartner von Norma. Das zufällige Treffen mit seinem Freund Artie Green (Jack Webb) und Betty Schaefer (Nancy Olson) in einem Laden unterstreicht dabei, wie sehr er sich selbst dabei verabscheut.  Im weiteren Verlauf des Films versucht er wieder an seiner eigenen Karriere zu arbeiten, indem er an Abenden und Nächten mit Betty Schaefer zusammen an einem Drehbuch arbeitet. Er schafft es, zumindest in der Nacht, aus seiner Gigolo-Rolle am Tag zu treten. Nur durch das Spielen der einen Identität kann er aber die andere aufrechterhalten.  Denn er möchte trotz der Beziehung zu Betty weiterhin nicht auf materielle Luxusgüter verzichten.  Erst später erkennt er, dass er ein Opportunist ist, sich an den Höchstbietenden verkauft hat und nunmehr nichts tun kann und will für Geld.  Am Ende will er nicht nur sein Gigolo-Dasein beenden, sondern auch seine Karriere als kreativer Autor. Doch lässt er damit nicht nur seine Berufung und Norma fallen, sondern auch Betty, die versucht hatte, ihn wieder auf die richtige Spur zu bringen.  Er kann auf diese Weise zwar seine Rechtschaffenheit wiederfinden, doch verweigert er sich so auch seiner selbst.  Gillis bezahlt schließlich mit seinem Leben. Aus dem Zeugen von Normas Wahnsinn wird schließlich das Opfer dessen.

Gillis und Neff werden beide von ihrem weiblichen Gegenpart an- bzw. erschossen und reinigen ihr Gewissen durch die Erzählung aus ihrer Sicht, in Form eines Geständnisses. Gillis ist tot und dadurch bestraft, während Walter Neff noch verwundet vor seinem Diktiergerät sitzt. Bei beiden geht die Schuld ihres Handelns (unter anderem) auf den Einfluss einer Frau zurück  und einer gewissen materiellen Gier. Anders als Gillis steht Walter Neff dabei mit beiden Beinen erfolgreich in seinem Beruf. Gillis Talent dagegen wird von der Gesellschaft nicht erkannt und abgelehnt.  Er verkauft sich an andere, aber hasst und verachtet sich selbst dafür. Beide zeigen am Ende Reue und begehen noch eine letzte gute Tat. Neff indem er Nino Zachetti (Byron Barr) entlastet, den eigentlich nun Hauptverdächtigen, zu Lola Dietrichson (Jean Heather) schickt und ihm von den Lügen Phyllis erzählt, Gillis indem er Betty wegschickt um ihr eine bessere Zukunft mit Artie zu ermöglichen.

Wilder schaffte es mit den beiden Filmen mit einer Antihelden-Figur als Protagonist den Zuschauer zeitweise für sich zu gewinnen. Im Falle von Walter Neff und Joe Gillis befindet sich die Hauptfigur immer fernab von Sitte und Moral, wie es die eigentliche Gesellschaft vorschreibt. Gleichzeitig verleiht ihnen das aber auch eine Menschlichkeit, die es dem Zuschauer ermöglich sich mit ihm zu identifizieren und näher zu fühlen, als beispielsweise einem makellosen Helden. Das Modell des Antihelden im Film Noir fand in den 50er Jahren als „genreübegreifendes Stilphänomen“  mit Schauspielern wie Marlon Brando und James Dean und im Zuge der New Hollywood Bewegung nicht nur Nachahmer und Anklang in anderen Genres und Gattungen des Films, sondern griff auch auf die Literatur über, wenn man an J.D. Salingers umstrittenen Roman „Der Fänger im Roggen“ denkt, den Billy Wilder ursprünglich auch für das Kino adaptieren wollte , in dem die Hauptfigur Holden Caufield mit sich und seiner Gesellschaft während des Erwachsenwerdens kämpft und sich kritisch damit auseinandersetzt.

Billy Wilder ist heute bekannt als der Regisseur beliebter und oft zitierter Komödien aus dem Hollywood der 50er und 60er Jahre. Dabei versteckt sich dahinter der einst junge Österreicher Samuel Wilder, der einst den Kuchenladen seiner Familie nicht weiterführen wollte, sondern in die Welt auszog um den Zuschauern das Lachen zu zeigen…oder das Fürchten?

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