Die 100 besten Filme der Dekade

31. Dezember 2019, Christian Westhus

Plätze 25 bis 11: (alphabetisch)


Before Midnight (2013) | R: Richard Linklater
Mike Leigh macht es (s. vorherige Seite) und auch Richard Linklater macht es: den dritten Film der Before Reihe (nach Sunrise und Sunset) schrieb er mit Hauptdarstellern Ethan Hawke und Julie Delpy zusammen. Nicht zum ersten Mal. Diese perfekt ausbalancierte, aus einem tiefen Figurenverständnis schöpfende Authentizität spürt man zu jeder Sekunde. Alle neun Jahre werfen wir einen Blick auf Jesse und Céline, erhaschen einen kurzen Blick auf ihre Beziehung. Inzwischen sind beide verheiratet, haben Kinder, geraten während eines Griechenlandurlaubs aber in einen Konflikt, der die gemeinsame Zukunft in Frage stellt. Es ist unvermeidbar, mit den ersten beiden Filmen vertraut zu sein, mit den Figuren, ihrer Vergangenheit, dem Kennenlernen ihn Wien, dem Wiedersehen in Paris und nun hier. Nur so können die enorm bissigen Dialoge und die in Fleisch und Blut übergegangenen Darstellungen ihr gewaltiges Potential entwickeln. Eigentlich ein Wunder, dass diese Filmreihe noch immer so hervorragend funktioniert.


Carol (2015) | R: Todd Haynes
Die Welt in einem Blick. Todd Haynes ist noch so ein Filmliebhaber, einer Schwärmer fürs Vergangene, fürs alte Hollywood. Und Haynes konnte schon viele bemerkenswerte und enorm intensive Filme drehen, darunter insbesondere „Dem Himmel so fern“, das Douglas Sirk-inspirierte Drama mit Julianne Moore. „Carol“ allerdings könnte Haynes‘ stilistisches Meisterstück sein. Nach dem Roman von Patricia Highsmith entführt uns Haynes in die sagenhaft schön nachgestellten und noch besser gefilmten 50er Jahre, in denen sich die verheiratete Carol Aird (Cate Blanchett) in die junge Verkäuferin Therese Belivet (Rooney Mara) verliebt. Natürlich geht es auch um die Ungerechtigkeit einer rückständigen und verschlossenen Gesellschaft, um die Stolpersteine und Rückschläge für die beiden Frauen, doch in erster Linie entfacht Haynes ein Fest der Sinne, erschafft ganze Emotionswelten zwischen sehnsüchtigen Blicken und Ungesagtem. Getragen von Carter Burwells meisterhafter Musik und der beiden sensationellen Darsteller ist „Carol“ einer der intensivsten Liebesfilme überhaupt. Ein Meisterwerk bis hin zum perfekten Ende.


Dogtooth – Kynodontas (Κυνόδοντας) (2009. In Deutschland erschienen 2011) | R: Yorgos Lanthimos
Der Film, durch den die Welt außerhalb Griechenlands Yorgos Lanthimos kennenlernte. Was für ein unglaubliches Jahrzehnt der Filmemacher hatte! Problemlos hätten vier Filme auf dieser Liste landen können, mit einem fünften in Reichweite, nur eine erfolgreiche Zweitsichtung entfernt. Die deutsche Veröffentlichung hinkte damals mal wieder etwas her, weshalb ich eine englische DVD im Regal stehen habe. Mittlerweile ist Lanthimos ein mehrfach oscarnominierter und international bekannter Regisseur, der mit Stars wie Colin Farrell, Nicole Kidman und Rachel Weisz dreht. „Dogtooth“ bleibt dennoch das Kernstück im bisherigen Schaffen, ein pechschwarzes Stück surrealen Kinos. Ein Elternpaar zieht die eigenen Kinder in der Abgeschiedenheit des eigenen Hauses auf, ohne Kontakt zur Außenwelt und mit ganz eigenen Regeln. Diese Regeln nehmen absurde Züge an, manchmal witzig, immer komisch und oft böse. Ein Beispiel: Um keine Idee von der Außenwelt zu haben, wird den Kindern erklärt, Flugzeuge, die am Himmel vorbeifliegen, seien nicht viel größer als sie erscheinen, nicht größer als eine Hand, wie Insekten in der Luft. Worte haben andere Bedeutungen, doch sie haben Bedeutung und diese ist anerzogen … mit irgendwann fatalen Konsequenzen, wenn die langsam erwachsen werdenden Kinder das körperliche Zeichen von Reife mit Gewalt erzwingen wollen. Was genau Lanthimos in diesem Kuriosum veranstaltet, sollte man selbst in Erfahrung bringen, inklusive der mittlerweile erprobten flachtonalen Darbietung der Dialoge. Ein Film wie kein zweiter.


The Grand Budapest Hotel (2014) | R: Wes Anderson
Wes Andersons bisher bester Film. Ja, ich denke da kann ich mich festlegen, denn die größte Konkurrenz (plus „Rushmore“) kommt aus dieser Dekade. Ein bildgewaltiges, durch und durch Anderson’sches Kunstwerk, irrwitzig detailverliebt gestaltet, in seiner Farbgebung betörend und wahnsinnig unterhaltsam. Vor einem fiktiven, aber doch klar skizzierten historisch-europäischen Hintergrund erzählt Anderson die Geschichte eines Hotels, des Direktors, des Lobby Boys und einer militanten Gruppe, die die Macht über die Region an sich gerissen hat. Was ernst klingt und sicherlich nicht einfach nur Jux ist, spielt sich als unbeschreiblich amüsante Hetz- und Schnitzeljagd ab, aus dem Hotel auf einen Landsitz, auf die Skipiste und ins Gefängnis, mit dem zumeist trockenen Humor Andersons, wunderbar extravaganten Figuren und einem visueller Einfallsreichtum, der jede Leinwand sprengt. Und ja, Ralph Fiennes war praktisch nie besser.


Lady Bird (2017/18) | R: Greta Gerwig
Oh, Greta. Es ist gar nicht so einfach zu sagen bzw. zu beschreiben, was diesen Film so besonders macht, warum eine augenscheinlich simple und bodenständige Geschichte solche Wirkung erzielt, sich so groß und gewichtig anfühlt. Eigentlich ist es nur die Geschichte einer High School Schülerin kurz vorm Abschluss, die sich mit dem eigenen Image, den finanziell eingeschränkten Möglichkeiten ihrer Familie, der kulturell langweiligen Heimatstadt Sacramento, mit ihren Freund- und Liebschaften und ihren Uni-Wünschen auseinandersetzen muss, alles in lose autobiographischer Ähnlichkeit zu Gerwigs eigener Jugend. Irgendwie ist es magisch, wie Gerwig Saoirse Ronan und Laurie Metcalf zu einem der besten Tochter/Mutter Filmduos seit Ewigkeiten (überhaupt?) macht, gerade weil es lange Zeit so kompliziert und nicht wirklich rosig zwischen beiden ist. Selbst die Randfiguren, darunter Tracy Letts als Vater, Beanie Feldstein als beste Freundin, Timothée Chalamet und Lucas Hedges als romantische Interessenten, besitzen charakterliche Dimensionen und eine Lebendigkeit, die man selten sieht. Dies ist nicht direkt Gerwigs Leben, doch sie inszeniert diese Geschichte, als könnte sie jeden Augenblick nachempfinden und dieses Gefühl auf den Zuschauer übertragen.


Moonlight (2016/17) | R: Barry Jenkins
Manche Leute sagen, sie gingen nur für die großen und bildgewaltigen Filme ins Kino, denn nur für diese lohnt sich die große Leinwand, nur die effektgeladenen Blockbuster würden Kino noch sinnvoll auskosten. Filme wie „Moonlight“ erinnern mich daran, dass auch vermeintlich „kleine“ Filme eine Bildgewalt besitzen, die nur eine große Kinoleinwand (und ein offenes Publikum mit im Saal) so richtig effektiv wiedergeben kann. Gestalterisch fühlt sich „Moonlight“ ein wenig an wie „Carol“, mit Emotionswelten zwischen Blicken, Gesten und Unausgesprochenem, ist letztendlich aber doch ganz anders. Nach einem unvollendeten Theaterscript von Tarell Alvin McCraney erzählt Barry Jenkins in drei Schritten von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter von Chiron alias Little alias Black. Die Armut des instabilen Elternhauses ohne Vater, die Beziehung zu Ersatzvater Mahershala Ali, die Ahnung der eigenen Homosexualität, der Kontakt zu Klassenkamerad Kevin und schließlich die persönliche Neuerfindung als Erwachsener. Erziehung, soziale Klasse, Sexualität, Geschlecht, aber auch der eigene Körper beeinflussen Chirons Taten und Entwicklung. Jeder kleine Geste, jeder Augenaufschlag, jedes Lippenzucken, jeder Ruck in den Schultern hat hier Gewicht, bis hin zum meisterhaften und hochemotionalen Schlussakkord.


Only Lovers Left Alive (2013/14) | R: Jim Jarmusch
Eine der angenehmsten Überraschungen der Dekade, denn abgesehen von vielleicht „Dead Man“ und „Night on Earth“ konnte mich Jim Jarmusch bisher nie so völlig umhauen und begeistern. Auftritt Tilda Swinton, Tom Hiddleston und Mia Wasikowska als Vampire, Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende alt, mit einem ganz eigenen Blick auf die jeweilige Existenz, die Zeit und die Menschen. OLLA ist in gewisser Weise ein so genannter „Hang Out“ Film, ein Stimmungsfilm, der nur sekundär einen Plot und primär eine Stimmung verfolgt. Und es ist eine prächtige Stimmung, wenn Swinton ihren der Ewigkeit überdrüssig gewordenen Liebsten besucht und ihn zu besänftigen versucht, wenn beide in typisch trockener und referenzgeladener Art über künstlerische und kreative Interessen aller Art sprechen. Allein zu sehen, wie Swinton ihren Koffer für die Reise von Marokko, wo sie wohnt, nach Detroit zu Hiddleston packt, gibt dem angestaubten Vampirfilmkosmos neue Dimensionen. Detroit selbst, die zerfallende Stadt, wird zu einem eigenen Charakter, nie besser verkörpert als bei einer (natürlich) nächtlichen Autofahrt. Der ultimativ entschleunigte, lakonische und dabei zutiefst romantische Reigen ist unerhört unterhaltsam und witzig, wartet zudem mit erstklassiger Musik auf, nicht zuletzt durch Jarmuschs eigene Band SQÜRL.


Parasite – Gisaengchung (기생충) (2019) | R: Bong Joon-ho
Natürlich muss der beste Film des letzten Dekadenjahres auch auf dieser Liste zu finden sein. Der „Recency Bias“, mit dem man neudeutsch ungefestigte und zumeist übermäßig positive Ersteindrücke beschreibt, dürfte hier aber eher in die andere Richtung gehen. Rein gefühlsmäßig ist „Parasite“ ein Fall für die obersten Plätze. Stand jetzt ist es ein Meisterwerk von einem Regisseur, der schon lange zu den spannendsten Filmemachern der Gegenwart zählt. Wir kennen Bong Joon-hos „The Host“, „Memories of Murder“ und „Mother“, haben die spannenden (teils-)englischsprachigen Versuche „Snowpiercer“ und „Okja“ gesehen, doch in gewisser Weise ist „Parasite“ die Kulmination von Bongs Schaffen, seinen thematischen Kernpunkten und seinem inszenatorischen Talent. Familie Kim lebt am Existenzminimum, ehe der junge Sohn durch Zufall Kontakt zu einer Upper Class Familie erhält. Und so beginnt ein schwarzhumoristischer, mörderisch spannender und unbeschreiblich unterhaltsamer Reigen, den man kaum beschreiben kann und auch nicht sollte. „Parasite“ lebt von seinen Überraschungen, ist aber abseits seiner cleveren Handlung, seines perfekten Castings und der unübersehbaren Großmacht seines Regisseurs auch ein unmissverständlicher Wut-Kommentar über soziale Ungerechtigkeit, Klassenunterschiede, Familienbanden und mehr. Armut stinkt.


Porträt einer jungen Frau in Flammen – Portrait de la jeune fille en feu (2019) | R: Céline Sciamma
Die Erinnerungen an diesen Film sind noch frisch, doch das werden sie womöglich auch noch in einem Jahr sein. Zu effektiv, zu groß, zu emotional oder schlicht zu gut ist das, was Céline Sciamma hier abliefert. „Porträt“ ist ihr bisher vierter Spielfilm und mindestens ein Volltreffer war in Form von „Tomboy“ dabei. Dennoch ist dieser neue Film eine wundersame und kaum zu überbewertende Großtat. Der Plot mag wahlweise seltsam oder simpel erscheinen: Es ist das Ende des 18. Jahrhunderts als eine junge Malerin zu einem Küstenanwesen gerufen wird, um die dortige junge Frau zu malen. Die Frau soll verheiratet werden, das Porträt dabei eine Art Angebotsvorschlag an die Familie des Bräutigams in Spe. Doch die Braut weigert sich, verbirgt ihr Gesicht, will sich ihrem Zwangsheirat-Schicksal nicht hingeben. So versucht die Malerin ihr Motiv zu entspannen, ihr Offenheit zu entlocken. Und natürlich finden die Frauen über Kurz oder Lang stärker zueinander. Sciamma konstruiert diese Jagd und Annäherung auf leisen Sohlen bildgewaltig und steigert das emotionale Potential ins Unermessliche. Befindet man sich nach einer guten Stunde noch in einem spannenden Kostümfilmdrama, schlägt das Herz der Protagonistinnen und der Zuschauer irgendwann bis zum Anschlag, überschlägt sich mehrfach und geht in gleich mehreren unvergesslichen Schlussszenen auf. Bis heute verschafft mir die bloße Erinnerung an manche Szene eine Gänsehaut. Ein gigantischer Film.


Scott Pilgrim vs. the World (2010) | R: Edgar Wright
Ich war ungefähr in Scotts Alter, als ich die Comic Serie als Vorbereitung für den „neuen Film vom ‚Shaun‘ Regisseur“ las. Mit Identifikation ist das immer so eine Sache: sie ist grundsätzlich nicht unbedingt nötig, ist selten wirklich exakt und selbst dann nicht wirklich von Dauer. Innerhalb dieser „ja, aber“ Logik mit dem einen oder anderen Asterisk* konnte ich mich mit Scott identifizieren, aber irgendwie auch mit Kim, mit Stephen und vielleicht sogar ein wenig mit Knives. Aber, wie gesagt, Identifikation ist nicht unbedingt nötig. Diese Figuren waren in Comic- und auch in Filmform einfach verdammt gut konstruiert, ihre Eigenheiten, ihre Macken, ihre Geheimnisse und Wünsche waren innerhalb ihrer vernetzten Gesamtheit ungemein reizvoll, wurden zudem in einem extrem unterhaltsamen und künstlerisch originellem Stil präsentiert. Man kann nur schwer übertreiben, wenn man beschreibt, wie legendär Edgar Wrights Inszenierung ist, wie sehr er nahezu die gesamte Konkurrenz aus Comic-, Action- und Jugendfilmen alt aussehen lässt. Nicht nur aufgrund von Referenzen und „Hey, 8-Bit Logo und Zelda Sounds“, sondern durch den schieren Einfallsreichtum und die kinetische Energie, die hier von jedem einzelnen Bild, Schnitt und Szenenwechsel ausgeht. „Scott Pilgrim“ war vermutlich mein persönlicher Nostalgie- und Geek-Peak. Heute, fast zehn Jahre später, sind „Retro“ und „Nostalgie“ für mich Reizbegriffe. Heute denke ich, sowohl Scott als auch Ramona (und Knives) sollten am Ende erst einmal für eine Weile Single bleiben. Täte ihnen gut. Aber an der Begeisterung für diesen Film, dessen großartige Musik ich bisher gar nicht erwähnen konnte, tut das quasi keinen Abbruch.


Der seidene Faden – Phantom Thread (2017/18) | R: Paul Thomas Anderson
Immer wenn man denkt, Paul Thomas Anderson könne nicht besser werden, kommt er mit einem neuen Film daher. Dies ist natürlich eine kaum haltbare Aussage, die durch diese Liste direkt widerlegt wird, doch sie fühlt sich richtig an. Denn was für ein sensationell inszenierter, inhaltlich konstruierter und gespielter Film „Der seidene Faden“ doch ist! Und welch Wandlungsfähigkeit Anderson dabei erneut demonstriert! Nach der 70er Jahre/Hippie Krimi Thomas Pynchon Adaption „Inherent Vice“ versetzt uns Anderson nun in die Modeszene Londons der 1950er Jahre. Der sensationelle Daniel Day-Lewis als Modeschöpfer Woodcock (!) ist ein von seiner Arbeit besessener Alpha, aber auch ein „Hungry Boy“ und gerät dabei an Restaurantbedienung Alma (Vickie Krieps). Was romantisch anmutet (und es auch ist), entwickelt sich eben nicht zu einem simplen Beziehungsthriller über einen mächtigen Mann und seine junge Freundin, die gar nicht weiß, in was für eine Sache sie geraten ist. Andersons Script ist cleverer, eleganter, mutiger und vor allem dorniger. Was hier zwischen Schneiderei, Modeschauen und Kochszenen passiert entwickelt einen unermesslichen Reiz und eine starke Faszination. Es ist ein einziger Genuss, wie ein gutes Omelette mit Pilzen, diesen komplexen Figuren und ihren erstklassigen Darstellern zuzusehen.


Short Term 12: Stille Helden – Short Term 12 (2013) | R: Destin Daniel Cretton
Diese Besetzung: Brie Larson, Rami Malek, LaKeith Stanfield, Kaitlyn Dever, alle noch relativ am Anfang ihrer Karriere, nicht vollkommen unbekannt, aber noch relativ neutrale Gesichter für einen Film, der gar keine Stars braucht. Grace (Larson) ist Gruppenleiterin eines Wohnheims für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche. Grace, die selbst aus dem Foster System kommt, will den häufig verwirrten, verängstigten oder wütenden Kids eine Perspektive und eine sichere Basis geben, doch vielleicht muss sie erst sich selbst heilen, ehe sie Problemfällen wie Jayden (Dever) helfen kann. Autor und Regisseur Destin Daniel Cretton führt gekonnt durch die hochkomplexen und hyperempfindlichen Verästelungen innerhalb der Gruppe. Das mag – einmal mehr – simpel klingen, doch die dramatischen Wahrheiten und die emotionale Reife, mit der sie präsentiert werden, machen „Short Term 12“ zu einem der größten „kleinen“ Filme.


The Tree of Life (2011) | R: Terrence Malick
Terrence Malick ist ein Unikat. Das ist er mit seinen inhaltlichen und inszenatorischen Vorlieben ohnehin, doch zunächst drehte er lediglich vier Filme in ebenso vielen Jahrzehnten, dann aber, angefangen bei diesem, fünf (einhalb) weitere in nur zehn Jahren. Die Qualität ließ irgendwann etwas nach, doch „The Tree of Life“ ist noch der erhabene Malick in annähernder Perfektion. Diesen Stil muss man mögen, den fast völligen Verzicht auf natürliche Dialoge, die schwelgerischen Voice Over Kommentare, die frei assoziative Montage, die esoterisch-religiöse Bild- und Symbolsprache und die unter Emmanuel Lubezki noch weiter treibende und suchende Kamera, geleitet von betörend ausgewählter Musik. Ich persönlich liebe diesen Stil … wenn er funktioniert, was er hier tut, wenn Malick eine Kindheits- und Familiengeschichte aus den 50er Jahren mit dem Urknall, der Entstehung der Welt und der prähistorischen Zeit der Dinosaurier verknüpft. Malick will viel und droht ein ums andere Mal den Bogen zu überspannen, bleibt jedoch bis zuletzt standhaft. Der audiovisuelle Rausch der Inszenierung ist alleine schon ein Höhepunkt der Dekade.


Wie der Wind sich hebt – Kaze Tachinu (風立ちぬ) (2013) | R: Hayao Miyazaki
Angeblich arbeitet Hayao Miyazaki nun doch an einem neuen Film. Als „Wie der Wind sich hebt“ erschien, erklärte ihn der wohl beste Animationsregisseur aller Zeiten zum filmischen Endpunkt seiner Karriere. Es wirkte gleichermaßen glaubwürdig und passend. Die leicht abstrahierte Biographie von Flugzeugdesigner Jiro Horikoshi ist ein komplexes und vielschichtiges Werk, in welchem Miyazaki den „verfluchten Traum“ des Flugzeugsdesigns mit all seinen zerstörerischen Facetten durchleuchtet und – ohne es jemals plump auszusprechen – auf Kunstschaffung im Allgemeinen bezieht. Nicht nur da Fliegerei vermutlich das Kernmotiv in Miyazakis Schaffen ist, sind Jiros fliegende „Pyramiden“ irgendwie auch Miyazakis Filme. Es ist ein ungewöhnlicher und auch oft unangenehmer Film, der Grauzonen ausleuchtet und keine einfachen Antworten bietet. Es ist aber auch ein technisches Meisterwerk, ein Film, in dem Miyazaki zum angeblichen Abschied seiner Karriere noch einmal seine schier unerreichbare Genialität als Geschichtenerzähler und visueller Gestalter auslebt. Ein unvorstellbar schöner und kraftvoller Film, ein lebendiger Film, nicht zuletzt durch den grandiosen Einsatz der a-capella Toneffekte.


The Wolf of Wall Street (2013/14) | R: Martin Scorsese
Wie hieß es noch ein paar Seiten zuvor? Nuancierte bis neutrale Darstellungen ohne explizite Aussage oder erhobenen Zeigefinger sorgen mancherorts für Schwierigkeiten beim Publikum. So war es teilweise auch hier. Und klar, Jordan Belfort hat dieser Film sicherlich nicht geschadet, doch die Gewichtung insbesondere der Schlussszenen sollte dennoch unmissverständlich sein. Scorsese drehte einen derart ungehemmten und berauschten Film, als sei er ein 20-jähriger Harmony Korine („Spring Breakers“) mit ausgefeilterem Stil und Budget. Dabei kommt Socrsese gar nicht auf die Idee, die finanziellen Machenschaften und die damit verbundenen Exzesse von Belfort und seinem Team in ein kritisches Licht zu tauchen. Belfort ist unsere Perspektivfigur und über ihn tauchen wir in diese Welt aus Geld, Betrug, Drogen und Sex ein. Belfort fühlte sich wie der König der Welt, warum also plump behaupten es wäre nicht so?! Dabei ist dieser dreistündige und doch gnadenlos mitreißende, fesselnde und unterhaltsame Film dennoch von Beginn an glasklar darin, wie man die Vorgänge bewerten sollte, sofern man die Verlockung von Belforts Welt durchschauen kann. Oder will. Ein Anschlag auf alle Sinne, mit einer großartigen Besetzung, allen voran ein wie aufgedrehter Leonardo DiCaprio. Die Szene mit dem Lamborghini ist alleine schon Grund genug, diesen Film anzusehen.

Einleitung | Plätze 100 bis 86 | 85 bis 71 | 70 bis 56 | 55 bis 41 | 40 bis 26 | 25 bis 11 | Top 10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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