Story LIII - Jeanny

Clive77

Serial Watcher
Meikes liebstes Kleidungsstück war eine Jeanshose. Slim Bootcut in dayrip Blau. Die hohe Taille versteckte ein paar überflüssige Kilos und betonte ihren trainierten Hintern. Da es eine Schlaghose war, akzentuierte sie ihre hochhackigen Schuhe - meistens braune Cowboy Stiefel. Durch den frechen Look fühlte sie sich unabhängig. Es gab ihr das Selbstbewusstsein in jeder Situation cool und gelassen zu reagieren. Jeder hatte irgendwie ein liebstes Kleidungsstück, aber Meike liebte ihre Hose so sehr, dass sie Ihr sogar einen Namen gab: Jeanny. Sie wurde zu einem Teil von Meikes Identität und fortan sah sie niemand mehr ohne diese Hose. Egal ob bei Schnee oder Sonnenschein, Jeanny war immer mit dabei.

Doch eines Tages stolperte Meike bei einem Spaziergang im Wald. Sie fiel auf die Knie, rutschte mit der Jeans über den Kies. Zuerst durchzuckte sie der Schmerz, doch als sie sah, wie es um ihre Hose stand, wurde das blutige Knie nebensächlich. Das Knie würde heilen, doch was war mit Jeanny? Sie war zerrissen, dreckig und blutig.
Zuerst dachte sie daran, dass sie wohl eine neue Hose benötigte, doch es zerriss ihr das Herz. Das konnte sie nicht tun. Diese Hose war ihr viel zu wichtig. Schnell kam sie zu dem Entschluss, dass sie lernen musste, Hosen zu flicken oder anderweitig aufzuwerten. Es würde bestimmt nicht die letzte Macke bleiben, aber das musste nicht bedeuten sich von ihr zu trennen! Im Gegenteil. Mit diesen Fehlern konnte sie Zeichen setzen, konnte zeigen, dass sie den Mut und das Selbstvertrauen hatte, selbst jetzt noch zu ihrer Jeans zu stehen. Zu sehr definierte Maike sich selbst über diese Jeans. Wer wäre sie noch ohne sie?
Zuhause setzte sie sich sofort daran ihre Jeans zu bearbeiten, googelte nach Ideen, schaute sich Youtube Videos an, bevor sie sich dazu entschied aus Jeanny eine Ripped Jeans zu machen. Das war noch im Trend, die Leute kauften sich mit Absicht Hosen mit Löchern, da würde Jeanny doch nicht gegen anstinken. Und so begann es.

Im Laufe der Zeit musste Meike immer wieder Kleinigkeiten ausbessern. Kleine Verbrennung durch Feuerwerkkörper? Kein Problem, wurde geflickt. Ein Tropfen bleichendes Chlor? Einfach mit Schleifpapier nachgerieben, schon entstand ein Used-Look. Nieten nachziehen. Knöpfe annähen. Meike tat, was notwendig war, um Jeanny am Leben zu halten. Und so wie sich die Jeans wandelte, veränderte sich auch Meike. Kleider machen ja bekanntlich Leute.

Am Anfang war Maike noch die Coole, die ihre Hose verbesserte, nachhaltig lebte und der Modeindustrie ihr Geld nicht in den Rachen schob. Sie hörte häufiger Kommentare wie „Ich würde das auch so gerne können, aber ich habe zwei linke Hände“, oder „das ist so cool, dass du dir nichts vorgeben lässt“.
Doch irgendwann, ohne, dass es für Meike einen ersichtlichen Grund gab, kippte die Stimmung. Ihre Mutter begann zu fragen, ob Maike Geldsorgen hätte. Ihre Freunde schlugen immer häufiger vor, sich doch eine neue Hose zu kaufen. Auf der Arbeit fingen die Kollegen an zu tuscheln, sobald Maike außer Hörweite war. Selbst ihr Chef bat, sich für Geschäftstermine einen Rock anzuziehen. Sie war nicht mehr die coole Rebellin, die mit ihrem Style beeindruckte. Sie wurde zu einem Sonderling, die argwöhnisch betrachtet wurde. Zweifel säten in Maikes Herz, doch sie blieb stur.

Mit der Zeit wurden die Unsicherheiten größer und irgendwann so stark, dass Maike es nicht mehr schaffte zur Arbeit zu gehen. Die Kündigung folgte recht schnell. Ihre Freunde hatte sie auch Ewigkeiten nicht mehr gesehen, hielt nur noch online Kontakt. Jeanny derweil glich nur noch einem Flickenteppich, war bisschen zu eng an ihrer Taille, da sie zugenommen hatte. Sie saß nicht mehr so gut, der Look sah auch nicht mehr so lässig aus. Doch das war Maike egal. Sie blieb Zuhause, verließ die Wohnung kaum, solange sie ihre Jeans anbehalten konnte und vertrieb sich die Zeit mit Streamingdiensten.
Dann, an einem Montagabend, vibrierte Maikes Handy. Eine Erinnerung von Facebook: 30 Jahre Freundschaft mit Martina. Meike wischte über die Bilder, erinnerte sich an die alten Zeiten. Als sie draußen waren, als sie gelacht hatten, wie sie gemeinsam einkaufen waren, ja sogar gemeinsam Jeanny gefunden hatten. Wie sie beide Pläne für ihr Leben geschmiedet hatten, alles erreichbar schien. Nie hätte sie sich vorgestellt, dass sie später einmal wochenlang alleine in ihrer Wohnung sitzen würde. Wehmütig dachte sie an ihr altes Leben zurück.
Sie stellte sich vor ihren Spiegel und blickte sich in die Augen. Wunderte sich, wie viele Falten sich in ihrem Gesicht austobten, Schluchten tief wie der Grand Canyon. Sie hatte vergessen, dass sie inzwischen alt geworden und nicht mehr das junge Mädchen war, welches sie von ihrem Social Media Profilbild aus anlächelte. Gedankenverloren schaute sie sich das alte Foto an, betrachtete ihren wohlgeformten Körper in Jeanny. Kurz erschrak sie, schaute in den Spiegel, betrachtete das Foto erneut, dann wieder in den Spiegel. War das wirklich Jeanny? Die Jeans war so häufig geflickt worden, dass anscheinend vom ursprünglichen Stoff nichts mehr übrig geblieben war. Durch die ganzen Änderungen hatte die Hose nichts mehr mit dem Original gemeinsam. Doch wenn das auf dem Foto noch Jeanny war, was trug sie dann an ihrem Körper? Panisch riss sich Meike die Hose runter, schmiss sie in die Ecke, verließ hastig das Schlafzimmer. Ein Schrei entwich ihrem Mund, verhallte einsam zwischen den Wänden. Tränen stiegen ihr in die Augen, ihr Herz klopfte wie wild.
Wer war sie?

Ohne Zeitgefühl irrte Maike durch die Wohnung, auf der Suche nach der Antwort. Wer war sie denn, wenn Jeanny gar nicht mehr existierte? Sie hatte es sich so sehr angewöhnt, sich über die Jeans zu definieren, dass sie nicht wusste, was sie über sich denken sollte. Wenn jede einzelne Faser von Jeanny mittlerweile ausgetauscht war, war es dann noch dieselbe Hose?
War sie noch dieselbe Maike?
 

HurriMcDurr

Well-Known Member
Hose des Theseus. :ugly:
Der letzte Teil war stark - für mich liest es sich als sei Martina früh verstorben und Maike durch den Verlust unfähig sich weiterzuentwickeln und ihr eigenes Leben zu leben. Um den Hauch von Vanille zu schlagen reicht es für mich dann wiederrum nicht ganz - ich mag die Geschichte aus ähnlichen Gründen, aber auch wenn ich nicht genau sagen kann wieso, hat sich mich beim Lesen weniger gepackt.
 

CasaPietra

Well-Known Member
Kann mich Hurri nur anschließen - auch wenn ich die Geschichte insgesamt doch etwas stärker finde, als ein Hauch von Vanille :wink:
 

Rantman

Formerly known as Wurzelgnom
Ich hatte im Diskussionsthread ja geschrieben, dass mir persönlich hier zu wenig konstruktives Feedback gegeben wird. Insofern möchte ich gerne damit anfangen. Ich möchte vorwegnehmen, dass ich niemanden verletzten möchte, sondern gut gemeinte Kritik geben möchte um in Zukunft etwas besser zu machen. Und natürlich alles, was ich schreibe, immer subjektiv ist und meine persönliche Meinung darstellt.
Wer daran kein Interesse hat, kann das auch gern ignorieren.

Für mich sind bei der Bewertung einer Kurzgeschichte folgende Punkte relevant:

- Inhaltliche Umsetzung / Interne Logik
- Idee / Bedeutung & Interpretation
- Sprache / Stil



Idee:
Ein philosophischer Ansatz.
Wie einige vielleicht wissen, tauscht der Mensch permanent seine Zellen aus. Ganz grob kann man sagen, dass sich der menschliche Körper nach 10 Jahren rundum erneuert hat. Das bedeutet, dass ein Mensch nach etwa 10 Jahren auf atomarer Ebene eine andere Person ist, eine Kopie oder Clon von sich. Ein Mensch, der 10 Jahre im Koma liegt und dann aufwacht, fühlt sich so wie vorher, ist aber biologisch aus anderen Bestandteilen zusammen gesetzt. Daraus lässt sich die Frage ableiten, was eine Person ausmacht. Ist man noch die selbe Person? Oder eine andere Person mit den Erinnerungen der alten Person? Diese philosophische Frage verständlich rüber zu bringen, ist nicht einfach. Dies dann abstrakt auf eine Hose herunterzubrechen und zu fragen, ob eine Hose, die man immer wieder geflickt hat, noch dieselbe Hose ist, ist da deutlich zugänglicher und verbindet damit auch gekonnt die Aufgabenstellung des Wettbewerbs.
Die Geschichte lädt also dazu ein, sich Gedanken zu machen, darüber zu diskutieren. Es ist keine klassische Geschichte mit Anfang, Spannungsbogen und klarem Ende. Sie bricht sogar ab, ohne eine Antwort zu geben. Es wird Leser geben, die damit nichts anfangen können.
Ich persönlich mag den Ansatz aber sehr gerne. 8/10

Inhaltliche Umsetzung / Interne Logik:
Hurri meinte, es fühlt sich so an als würde Meike den Verlust von Martina nicht verkraften. Ich mag die Idee. Finde aber persönlich, dass die Geschichte mir dafür zu wenig Indizien bietet. Die Geschichte liest sich nicht so, als würde es um Meike gehen, die eine Wandlung durchmacht. Es ließt sich als würde es um die Hose gehen (und daher ist der Name auch der Titel der Geschichte) und welche Wandlung die Hose durchmacht und welche Auswirkungen dies auf Meike hat. Das ist ein winziger, aber feiner Unterschied.
Die Protagonistin selbst wird dadurch mehr zu einem Zweckmittel. Klar, jeder Mensch hat Kleidung, die im Schrank verrottet und andere Stücke, die wir regelmäßig tragen. Meike geht da ins Extreme. So sehr, dass die Kleidung ein Teil von ihr wird. Sich die Persönlichkeit mit dem Aussehen und Zustand der Hose wandelt. Das offene Ende ist hier Stärke und Schwäche zugleich. Es fehlt ein Abschluss für Meike. So, wie die Geschichte ist, ist Meike eigentlich eine Nebenfigur.
Klar, man könnte ganz einfach einen weiteren Absatz hinzufügen, in dem sie nun in den Laden geht, neue Hosen kauft, einen neuen Lebensabschnitt beginnt. Vielleicht trifft sie beim Einkaufen sogar noch einen hübschen Verkäufer. Happy End, zack. Dadurch würde der Fokus wieder stärker auf Meike liegen. Die Geschichte einen runden Abschluss bekommen. Doch dabei würde die philosophische Frage in den Hintergrund rücken und der/die Autor hat ja ganz bewusst die Frage an den Schluss der Geschichte gesetzt.
Damit wird die Entscheidung gefällt, was im Fokus ist. Die Frage ist wichtiger als ein runder Abschluss für Meike.
Es fühlt sich so an, als würde etwas fehlen. Als wären die Beschreibungen und ihr Lebenswandel irrelevant.
Das lässt zumindest mich mit dem Wunsch zurück, mehr zu erfahren. Ich habe das Gefühl, dass noch etwas kommen müsste. Das macht es auch unheimlich schwer, den Inhalt zu bewerten. Einerseits erreicht die Geschichte genau das, was der/die Autor gewollt hat. Andererseits fehlt halt das, was man als Leser typischer weise möchte: Ein Closure für die Protagonistin. Daher kann ich hier nur eine mittlere Bewertung geben, auch wenn das Potential nach oben eindeutig da ist: 5/10


Sprache:
Zum Stil kann ich hier gar nicht so viel sagen. Nichts, was mich stört, aber auch nichts, was mich aus den Socken haut. Solide, guter Durchschnitt.
5/10


Fazit: 18/30 Punkten
Die Geschichte spielt mit einer großartigen Idee. Der Fokus auf diese Idee lässt dabei die eigentliche Geschichte in den Hintergrund rücken.
Das ist mit Sicherheit eine bewusste Entscheidung, die aber entsprechende Konsequenzen hat. Ich habe das Gefühl, dass man hier noch mehr rausholen könnte, bin mir aber nicht sicher, wie man da eine gute Balance finden kann. Schwierig. Aber insgesamt zufriedenstellend gemacht.
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Eine kleine, aber gute Geschichte, die mich an "Der Mantel" von Hubert Selby erinnerte (übrigens sehr empfehlenswert).
Ordentlich geschrieben mit einer interessanten Idee und Hauptfigur (Sonderlinge und Eigenbrötler mag ich ja sowieso). Ich finde nur, dass die Story etwas ausführlicher sein könnte, weil die Entwicklung von Maike ein wenig überhastet kommt, aber ansonsten ein guter Beitrag.
 

MamoChan

Well-Known Member
Ich mag diese Geschichte. Vielleicht etwas kurz, aber sie las sich sehr gut und ich war, im Gegensatz zu anderen Beiträgen dieser Runde, sofort in der Geschichte drin.
Die Umsetzung des Themas "etwas tragen" war schön gelöst. Auch sehr schön, wie gezeigt wurde, dass man Dinge, die man liebt nicht mit Gewalt festhalten kann. Diese Geschichte ist mein Favorit.
 

Sittich

Well-Known Member
Ich sehe das wie Mamochan. Eine kleine, feine Geschichte. In der trotzdem genug drin steckt, um einen Rantman philosophieren zu lassen :wink:. Mir fällt derweil auf, dass sich nicht nur Maikes Hose verändert, sondern auch Meikes Name. :whistling:

Sprachlich hat es mir auch gefallen. Nur über die Formulierung
Zweifel säten in Maikes Herz, doch sie blieb stur
sollte man nochmal nachdenken. Was genau säen die Zweifel?
 

Rantman

Formerly known as Wurzelgnom
Die Geschichte ist von mir. Daher philosophiere ich ja so viel darüber :smile:
Danke für euer aller Feedback.

Habe versucht meine Kritik so zu schreiben, dass nicht offensichtlich ist, dass es meine ist :smile:

Bin aber im Grunde, wie in der Kritik zu lesen, hin und her gerissen. Ich weiß nicht, ob ich das Ende so offen lassen sollte oder doch eher ein klassisches rundes Ende geben sollte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Fokus der Geschichte auf der philosophischen Frage setzen soll oder doch eher auf Meike, dann bräuchte es aber einen anderen Abschluss.

Bin da sehr neugierig und wenn mir noch jemand Feedback dazu geben möchte, sehr dankbar.
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Das offene Ende finde ich schon passend. Würde nur die Entwicklung von Meike in der zweiten Hälfte etwas ausführlicher behandeln.
Mir ist gerade aufgefallen, dass Meike später Maike heißt. Und am Ende wieder Meike :squint:
 

vampireMiyu

Well-Known Member
Habe es dir ja bereits mündlich gesagt, aber ich mag die Idee der Geschichte sehr gerne! Es hat was philosophisches, ist knackig und finde das offene Ende ebenfalls besser. Da bleibt der Fokus mehr auf dem Philosophischen Aspekt, statt auf Meike, was ich sehr viel interessanter finde. Gedankenspiele sind immer spannend, aber eine Geschichte über eine Frau, deren Leben einfach gescheitert ist und vielleicht (hoffentlich) wieder in den Griff kriegt, ist doch deutlich häufiger und gerät auch gerne schnell wieder in Vergessenheit, wenn nicht extrem gut umgesetzt.
 
Oben