Filmfestivaltagebuch (aktuell: 18. Zürich Filmfestival)

Presko

Don Quijote des Forums

NOCHE DE FUEGO​

von Tatiana Huezo
In einem mexikanischen Bergdorf leben die Mütter und ihre Kinder einen ärmlichen Alltag im Würgegriff des Drogenkartelles. Männer gibt es dort kaum noch, da die meisten ins Ausland gegangen sind, um Geld zu verdienen. Die Frauen arbeiten meist auf den Mohnfeldern oder dem eigenen kleinen Stück Land. Regelmässig werden die Töchter vom Drogenkartell entführt. Deswegen schneidet Rita ihrer achtjährigen Tochter Ana die Haare ab. Und hinter dem Haus hat sie ein Loch gebuddelt, in dem sich Ana verstecken muss, sobald sich die schwarzen Geländewagen des Kartells nähern.

Ana und ihre Freundinnen nehmen das Leben auf ihre eigene Weise war. Das Verschwinden anderer Mädchen stellt für sie ein geheimnisvolles Mysterium dar. Ana ist eine aufgeweckte Schülerin und wird von ihren Lehrern sehr gelobt. Doch die Lehrer bleiben oft nicht lange an der Schule, da sie sich vor dem kartell fürchten. Mit dem Heranwachsen wird es für Rita immer schwieriger Ana an der kurzen Leine zu halten und ihre Weiblichkeit zu verdecken.

Man merkt den ersten Einstellungen sofort an, dass hier hinter den Kameras eine eigentliche Dokumentarfilmerin zugange war. Und so braucht es auch eine gewisse Zeit, bis die eigentliche Erzählung in Fahrt kommt und der Film sich von den dokumentarischen Bildern und Sequenzen zu lösen beginnt. Das bedeutet einerseits einige sehr beeindruckende Aufnahmen der Natur und Umgebung, in der der Film spielt, andererseits verlangt es den Zuschauenden auch etwas Geduld ab. Doch ist man Willens dem Film die Zeit zu geben, entwickelt er einen immer stärkeren Sog. Insbesondere die drei Mädchen, anfangs Kinder, später Jugendliche wachsen einem immer mehr ans Herz.

Die dauernde Bedrohung, jeden Moment könnte das Kartell auftauchen, und eines der Kinder entführen, tut das Übrige, um dem eine eigentümliche Spannung zu verleihen.

8/10

Trailer: Noche de Fuego


PETITE NATURE / SOFTIE​

von Samuel Theis

Der zehnjährige Johnny ist mit seiner Mutter, Sonia, seinem grösseren Bruder und seiner kleinen Schwester erst gerade in eine Sozialsiedlung im Nordosten Frankreichs gezogen. Die Situation zuhause ist schwierig, denn seine Mutter ist mit ihrer Situation ziemlich überfordert. Ihre Beziehung zu Johnny pendelt zwischen Zärtlichkeit, Zuwendung und Wut und Streit hin und her.
In der Schule fühlt sich Johnny zu seinem neuen Lehrer Jean hingezogen, da dieser auf sensible Weise die Kinder abzuholen weiss. Johnny beginnt sich immer stärker nach dessen Zuwendung zu sehnen. Nach einem heftigen Streit mit seiner Mutter, rennt er davon und steht plötzlich vor Jeans Tür.

Im ersten Moment erinnert der Film von seinem Look and Feel ein wenig an Systemsprenger, was sicher auch mit dem Hauptdarsteller und seinen langen blonden Haaren zusammenhängt. Doch im Gegensatz zu Benni ist Johnny eben gar kein harter Kerl, der seine Aggressionen nach aussen tragen würde. Im Gegenteil, in einer Szene, nachdem ihn mehrere andere Jungen gemobbt haben, schreit ihn seine Mutter an, dass er endlich härter werden und sich zu wehren lernen müsse.

Die Stärken des Films liegen auch genau in dieser Betrachtung von Johnnys Familiensituation, seiner Beziehung zu seiner Mutter und seiner kleinen Schwester. Hier gelingen ihm sehr schöne Szenen und eine komplexe, realistische Figurenzeichnung. Leider konzentriert sich der Film aber mit zunehmender Laufzeit auf Johnnys Beziehung zu seinem neuen Lehrer und hier liegt die grosse Schwachstelle des Films. Jean ist keine wirklich allzu interessante Figur und auch sein Darsteller bleibt eher blass. Zudem ist das Verhalten Johnnys, der zunehmend extremere Mittel nutzt, um seinem Lehrer nahe zu sein, ebenso wenig glaubwürdig, wie die Reaktion des Lehrers darauf. Das ist ziemlich ärgerlich, und macht den Film ein wenig kaputt. Gegen Ende geht dem Film aber auch ganz generell ein wenig die Luft aus und scheint nicht so recht zu wissen, was er jetzt genau eigentlich möchte.

Insgesamt eher enttäuschend.

6/10

THE INNOCENTS / DE USKYLDIGE​

von Eskil Vogt

Die 9-jährige Ida zieht mit ihrer Familie in einen Hochhauskomplex am Waldrand irgendwo in Norwegen. Mit ihrer älteren, autistischen Schwester Anna ist der Alltag nicht einfach, da diese in ihrer eigenen Welt gefangen scheint. Auf der Suche nach neuen Spielgefährten trifft Ida auf den Nachbarsjungen Ben. Er führt ihr vor, wie er mit seinen blossen Gedanken Objekte bewegen kann. Aisha wohnt ebenfalls in dieser Siedlung. Seit Ida und Anna's Ankunft steht sie mit Anna in einer Art telepathischem Kontakt, spürt ihre Schmerzen und hört ihre Gedanken. Schliesslich trifft sie Anna auf dem Spielplatz und Ida bemerkt, dass Anna und Aisha miteinander kommunizieren können. Es stellt sich heraus, Aisha, Ben und Anna sind irgendwie miteinander verbunden. Sie können ihre Gedanken lesen und können mit ihren Gedanken Dinge bewegen. Mit der Hilfe Aishas schafft es Anna gar, zu sprechen.
Doch dann zeigt sich immer mehr, dass Ben zu Wutausbrüchen neigt, bei denen er seine Kräfte benutzt, um anderen zu schaden. Als es in der Gruppe zwischen den Kindern zum Konflikt kommt, richtet sich seine Wut plötzlich auf Aisha, Anna und Ida.

Das Zurich Filmfestival preist den skandinavischen Film als Arthous-Horror an und tatsächlich könnte sich der Film bald einmal zu einem Horror-Geheimtip mausern. Mit einfachsten Mitteln schafft es Regisseur Eskil Vogt, eine glaubwürdige Geschichte zu erzählen, die sowohl Aspekte des Sozialdramas mit denen von Fantasy-Horror verknüpft, und an dabei die Spannungsschraube stetig weiter anzuziehen. Dabei machen die Kinderdarstelle eine gute Figur. Einzig Ben's Figur hätte noch etwas nachvollziehbarer entwickelt werden dürfen.

Dabei spielt der Film stark mit dem Bild, dass Kinder eben doch sehr grausam sein können. Eben nicht nur Ben, sondern auch Ida hat eine durchaus sadistische Seite, die im Film ein paar Mal zu tragen kommt. Entsprechend gefährlich ist es eben, wenn dann gerade Kinder in so einem jungen Alter solche Kräfte entwickeln. Auf der anderen Seite betont der Film auch die Spaltung von der Welt der Erwachsenen und der Kinder. Als die Gefahren dringender werden ist es keine Option, die Eltern um Hilfe zu bitten, sie würden den Kindern ja nicht glauben. Nein, der Film geht noch weiter, die Eltern werden evtl sogar zu einem weiteren Risiko, dem sie ausgesetzt sind. Die Eltern jedenfalls können in diesem Film den Kindern keinen Schutz bieten, stehen ihnen im Gegenteil noch im Weg, wenn sie sich schützen wollen.

Es dürfte nicht jedermanns Geschmack sein, wenn sich Kinder, alle etwa zehn Jahre, einen teilweise doch recht brutalen Telekinese-Kampf bieten und die ein oder andere wüste Gewalttat ausüben. Insbesondere weil das Setting eben doch sehr realistisch anmutet und eben nicht so überzeichnet ist, wie etwa in einem Film wie "Omen".

7/10

Trailer: The Innocents
 

Presko

Don Quijote des Forums

THE LOST DAUGHTER​

von Maggie Gyllenhaal

Leda, gespielt von Olivia Coleman, ist eine zweifache Mutter, geschieden und Professorin. In Süditalien hat sie sich eine Ferienwohnung nahe des Strandes gemietet, um sich zu erholen und sich in Ruhe ihrer Arbeit zu widmen. Anfangs scheint alles perfekt aufzugehen. Sie wird äusserst gastfreundlich empfangen und den Strand hat sie für sich alleine. Doch dann tauchen plötzlich die junge Mutter Nina und ihre gesamte Familie auf und nehmen den ganzen Strand mehr oder weniger für sich in Beschlag und sorgen dafür, dass es mit der Ruhe vorbei ist.
Leda's Aufmerksamkeit ziehen vor allem Nina und ihre Tochter auf sich. Schnell wird klar, dass es Nina mit ihrer Mutterrolle nicht leicht hat. Die Auseinandersetzung mit den beiden weckt in Leda Erinnerungen an ihre eigene Vergangenheit als Mutter zweier Kinder. Diese Erinnerungen sind äusserst schmerzhaft und nehmen immer mehr Besitz von Leda.

The Lost Daughter ist Maggie Gyllenhaals Regiedebut, und was für eins. Also einfach hat sie es sich mit diesem Psychodrama nun nicht gerade gemacht. Auch wenn sie dabei von grossen Stars wie Olivia Coleman, Ed Harris oder Peter Sarsgaard unterstützt wird. In den 121 Minuten tauchen wir ganz schön tief in die Psyche der von Schuldgefühlen gequälten Professorin ein und leiden mit ihr mit, wenn die Anwesenheit dieser teilweise geradezu bedrohlich anmutenden Familie, sie immer mehr unter Druck setzt.

Der Film spielt dabei in zwei Zeitebenen: Der Gegenwart auf der Insel und in der Vergangenheit, als Leda eine junge Mutter war, die zwischen ihrer Rolle als Mutter und angehender Geisteswissenschaftlerin hin und hergerissen war.
Die Mutterrolle und die damit verbundenen äusseren Ansprüche an die Frauen sind es die Gyllenhaal hier unter die Lupe nimmt und seziert. Dazu baut der Film noch kleinere Mysterien auf, einerseits im Bezug auf Leda's späteres Verhalten, als auch im Bezug auf Nina's Familie.

Mit Coleman hat Gyllenhaal natürlich die perfekte Besetzung für so eine komplexe Figur gefunden, aber mindestens genauso gut ist Jessie Buckley, welche die junge Leda spielt. Mal wieder etwas mehr von Ed Harris zu sehen ist sowieso toll und auch Sarsgaard hat einen schönen, charismatischen, wenn auch nicht allzu grossen Auftritt im letzten Drittel. Erst im Nachhinein habe ich noch gesehen, dass Nina von Dakota Johnson gespielt wurde - auch sie macht ihren Job tiptop.
Ob der Film nun wirklich 121 Minuten lang hätte sein müssen, da setze ich mal ein Fragezeichen dahinter. Er hat schon seine Längen. Denn so richtig spannend ist er dann eben auch nicht. Insbesondere die Sache mit Nina's Familie nahm mir etwas zu viel Screentime in Anspruch. Dennoch für Geduldige Freunde von psychologischen Dramen und von Schauspielerkino mit Geduld - eine absolute Empfehlung.

8/10


NOURA RÊVE​

von Hinde Boujemaa

Noura möchte sich von ihrem Ehemann, Jamel, der im Gefängnis sitzt scheiden lassne, um Lassad heiraten zu können, den sie liebt. Bis zur Scheidung müssen sie ihre Beziehung geheim halten, denn auf Ehebruch stehen in Tunesien bis zu fünf Jahre Haftstrafe. Entsprechend sehnt Noura der Scheidung entgegen. Mit ihren Kindern lebt Noura in einer kleinen Wohnung und arbeitet hart, um die Familie durchzubringen. Doch dann wird Jamal überraschend begnadigt und frei gelassen. Nun muss Noura dafür sorgen, dass er nicht hinter ihre Beziehung kommt, bis die Scheidung endlich durch ist. Doch Jamal ist äusserst kontrollsüchtig und merkt schnell, dass etwas nicht stimmt.

Noura Reve ist ein recht unspektakuläres Drama über den Kampf um Selbstbestimmung einer Frau. Die grosse Stärke hat der Film in seiner Hauptdarstellerin Hend Sabri, die in Ägypten wohl ein grosser Star ist und Noura als starke, temperamentvolle Frau zeichnet. Auch die Familiendynamiken fängt der Film sehr schön ein. Dumm nur, dass das Verhalten Nouras und auch anderer Figuren mit zunehmender Laufzeit weniger nachvollziehbar werden. Hinde Boujemaa bemüht sich darum, Noura nicht als eindimensionale Heldin zu zeichnen, doch wirkt Noura in einigen Momenten einfach schon arg unsympathisch, so dass das Mitgefühl etwas flöten geht.

6/10

Trailer: Noura's Dream

BALLAD OF A WHITE COW / GHASIDEYEH GAVE SEFID​

von Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam

Mina's Ehemann wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt und exekutiert. Nun lebt Mina, noch immer trauernd, alleine mit ihrer taubstummen Tochter in einer kleinen Wohnung. Ihr Schwager und dessen Vater setzen sie ständig unter Druck, zu ihnen zu kommen und der Schwiegervater droht gar damit, das Sorgerecht über ihre Tochter anzufechten. Etwa ein Jahr nach der Hinrichtung ihres Mannes, Babak, wird sie bei den Behörden vorgeladen und man erklärt ihr, dass Babak unschuldig gewesen sei. Der wahre Mörder sei vorstellig geworden und habe alles gestanden. Man entschuldigt sich für den Fehler, stellt Mina eine Entschädigung in Aussicht und erklärt, dass es letztlich eben Gottes Wille gewesen sei, dass ihr Mann starb.
Mina will das nicht auf sich bewenden lassen und setzt alles in Bewegung, um die Behörden und insbesondere die im Fall verantwortlichen Richter zu einer offiziellen Entschuldigung zu bringen. Da taucht eines Tages plötzlich ein Mann namens Reza vor ihrer Tür auf und erklärt ihr, dass er bei Babak noch offene Schulden habe, die er nun ihr gegenüber begleichen will. In der Folge hilft er immer in verschiedenen Situationen aus und sie nähern sich einander an. Was Mina nicht weiss, Reza ist einer der drei Richter, die ihren Mann zum Tode verurteilt haben.

Ich habe es weiter oben schon geschrieben, ich mag einfach iranische Filme. Auch dieser Film hat mich schnell für sich eingenommen. Es ist eine besondere Art der Würde, mit dem viele iranische Filme, ihre oft vom Schicksal hart gebeutelten Figuren, zeichnet. So auch hier. Man fühlt sofort mit Mina mit, ohne dass man sie bemitleidet. Viel eher respektiert man ihre Kraft, mit der sie sich um ihre Tochter kümmert und für Gerechtigkeit kämpft, auch wenn jetzt die Geschichte selbst nicht wahnsinnig originell ist.
Leider gerät das Ende ein wenig aus dem Tritt. Schnell kommt es zum Unausweichlichen, auf eher plumpe Art und Weise und führt zu einem "Final", das etwas gar effekthascherisch daher kommt und dem zuvor so behutsam entwickelten Charakterdrama meiner Ansicht nach nicht so gerecht wird.

7/10

Trailer: The Ballad of a White Cow

LA HIJA / THE DAUGHTER​

von Manuel Martín Cuenca

Abgelegen in den Bergen verstecken Javier und seine Frau Patricia die 15-jährige Irene, welche eigentlich nach einem Hafturlaub wieder in die Jugendstrafanstalt hätte zurückkehren müssen. Irene ist schwanger und Javier arbeitet in der Jugendstrafanstalt als Mentor. Da er und Patricia keine Kinder bekommen können, haben sie Irene ein Angebot gemacht: Sie verstecken sie bis nach der Geburt und geben ihr nachher Geld, damit sie irgendwo ein neues Leben beginnen kann. Dafür überlässt Irene ihnen das Baby, das sie sowieso abtreiben wollte.
Allerdings entpuppt sich Irene überraschenderweise als nicht ganz so zuverlässig, wie es Javier und seine Frau erwartet haben. Denn heimlich schleicht sich Irene eines Tages in die Stadt, um ihren Freund zu kontaktieren, der ebenfalls einsitzt. Dabei wird sie allerdings gesehen und die Behörden fangen an, in den Bergen herumzuschnüffeln.

Ja, man mag es kaum glauben, aber der ach so geniale Plan von Javier und Patricia stellt sich als nicht ganz so genial heraus und die Probleme nehmen ihren Lauf.
The Daughter ist eine Art "Slow-Burn-Thriller", der ganz langsam die Spannung aufbaut und dabei durchaus geschickt, mit Beziehungsdreiergeflecht zu spielen weiss. Mein grosses Problem mit dem Film beginnt allerdings schon bei der Prämisse. Denn dieser achso geniale Plan ist doch totaler Schwachsinn und ist total unglaubwürdig. Ich meine, selbst wenn das jetzt alles so geklappt hätte und Irene schlussendlich ohne Kind aber dafür mit Geld untergetaucht wäre, hätten doch Patricia und Javier ständig mit dem Risiko gelebt, dass sie plötzlich wieder auf der Matte steht und das Kind zurück will, die beiden erpresst oder sonstwie irgendwo was rausplappert und sie so in Probleme bringt. Und dass gerade 15-jähriges Mädchen, das auch noch gerade eine Haftstrafe absitzt, vielleicht auch nicht gerade die zuverlässigste Person für so ein heikles Unterfangen ist - na ja, das könnte man ahnen.

Das ist alles nett inszeniert, gut gespielt und das Ende ist dann auch doch noch ein wenig anders als erwartet, trotzdem eher enttäuschend.


6/10

Trailer: The Daughter


JOCKEY​

von Clint Bentley

Der Jockey Jackson ist nicht mehr gerade der Jüngste und die zahllosen Verletzungen haben seinen Körper stark in Mitleidenschaft gezogen. Kurz gesagt: Er blickt seinem Karriereende entgegen. Doch als seine Trainerin ein neues Rennpferd kauft, eröffnet sich ihm die Chance, nochmal eine richtig erfolgreiche Saison zu bestreiten. Eines Tages taucht ein junger Nachwuchsreiter bei ihm auf, Gabriel und behauptet, Jacksons Sohn zu sein. Zuerst streitet Jackson noch alles ab, doch mit der Zeit freundet er sich mit dem Gedanken, einen Sohn zu haben an und nimmt Gabriel unter seine Fittiche.

"The Wrestler" trifft auf "Nomadland", lautete mein Eindruck nachdem, der Abspann eingesetzt hatte. Die Parallelen zum Wrestler dürften schon von der Geschichte her auf der Hand liegen. Und auch Clifton Collins Jr. soll hier eine ähnliche Chance erhalten, sein ganzes Können zu präsentieren, wie damals Mickey Rourke. Jedenfalls betonte Regisseur Clint Bentley, dass eine der zentralen Motivation im Film waren, ihm eine Plattform zu geben, schauspielerisch scheinen zu können. Er ist auch absolut überzeugend, auch wenn die Rolle dann halt doch nicht ganz so beeindruckend ist, wie Rourkes Figur in The Wrestler.
Aber wieso komme ich auf Nomadland? Nun, wie bei da arbeitet auch "Jockey" viel mit Laindarstellern bzw. mit echten Jockeys oder Leuten aus dem Umfeld der Sportart. So gibt es etwa eine Szene, in der eine Gruppe von Jockeys sich minutenlang über ihre Erfahrungen austauscht, ihre Verletzungen aufzählen etc. Durchaus ganz ähnlich wie die Szene in Nomadland, wo die Amazon-Mitarbeiter ihre Situation schildern. Auch hier bestand die Herausforderung darin, diese "echten Menschen und Geschichten" mit dem Fiktiven zu verbinden, was durchaus auch gelingt, aber inhaltlich jetzt nie so relevant wird wie Nomadland.

Und die Geschichte selbst ist dann eben auch sehr simpel und verläuft in äusserst gradlinigen Bahnen. Etwas genervt war ich von den vielen Sonnenauf- und Sonnenuntergangsszenerien, die da vorkommen.

6.5/10
 

Presko

Don Quijote des Forums
Da hast du dir aber eine menge angesehen.
Wie schon die letzten Jahre habe ich mir die ganze Woche frei genommen und bin an manchen Tagen von morgens 9 bis abends 23 Uhr im Kino:clap:


MIRACLE / MIRACOL​

von Bogdan George Apetri

Eine junge Nonne (oder wie wir später erfahren Novizin) schleicht sich eines Tages aus einem rumänischen Kloster, um sich in ein Krankenhaus fahren zu lassen, wo sie eine Abtreibung vornehmen will. Auf ihrer Rückreise ins Kloster wird sie von einem Taxifahrer an einem Waldrand vergewaltigt und halb tot geschlagen.
Einige Zeit später hat ein Polizist die Ermittlungen in dem Fall aufgenommen. Ein Hauptverdächtiger sitzt in Untersuchungshaft und dem Polizisten bleiben nur noch wenige Stunden Zeit, um Beweise zu finden, bevor er seinen Hauptverdächtigen aus der Haft entlassen muss.

Miracol ist wahrscheinlich der Film des Festivals, der die meisten Fragezeichen bei mir hinterlassen hat. Ganz ehrlich, ich glaube, ich habe den Film nicht verstanden. Wie der Regisseur am Anschluss an den Film erzählte, handelt es sich bei dem Film um den zweiten Teil einer lose verbundenen Trilogie. Am dritten Film dieser Trilogie schreibt er derzeit. Inhaltlich soll der Film aber für sich alleine funktionieren. Zentrale Themen im Film sind "Gott und Religion", "der Zustand des Landes", "Gerechtigkeit" und "Zeit".
Über Religion und die Situation des Landes wird in längeren Dialogsequenzen immer wieder von neuem diskutiert. Der materielle Reichtum der Klöster und Kirchen wird der Armut im Land gegenübergestellt und der Zerfall der Sitten wird ebenfalls mehrfach beklagt. Die Frage danach, was eigentlich gerecht ist, wird weniger ausformuliert, sondern stellt sich zwangsläufig im Verlauf der Handlung. Das Thema Zeit bearbeitet der Film dramaturgisch und stilistisch. So wird Zeit beim Endtwist eine wichtige Rolle spielen. Zudem arbeitet der Film mit vielen langen Szenen ohne Schnitt, was wiederum ein bestimmtes Zeitgefühl vermitteln soll.

Was die Erzählweise und den Aufbau der Geschichte anbelangt geht der Film ziemlich eigene Wege. Er ist klar in zwei Teile unterteilt. Vor und nach dem Verbrechen, mit zwei verschiedenen Hauptfiguren. Dabei wiederholen sich aber gewisse Motive und Themen in beiden Teilen. Insbesondere nach dem ersten Teil bleiben viele Fragen offen, auf die man im zweiten Teil dann eine Antwort erwartet. Einige davon gibt es auch, oft werden sie eher nebensächlich eingestreut, anstatt sie mit dem Holzhammer zu präsentieren, was mir sehr gut gefiel. Doch viele Lücken aus dem ersten Teil bleiben offen, oder zumindest habe ich in einigen Fällen keine Antwort ausmachen können. Vieles bleibt auch im zweiten Teil bewusst lange offen. So wissen wir bis spät als Zuschauer nicht, wer denn nun eigentlich als Hauptverdächtiger in Untersuchungshaft sitzt. Ist es wirklich der Taxifahrer, den wir bei der Tat beobachtet haben oder doch jemand anderes?

So richtig zahlt sich diese ganze Geheimnistuerei aber dann eben gar nicht aus. Denn, was so an Antworten kommt, ist selten besonders überraschend, lässt auch das zuvor Gesehene nicht plötzlich in einem anderen Licht erscheinen. Und auch das Ende, das als Twist daher kommt, ist irgendwie dann halt da und so richtig hat sich mir nicht erschlossen, was es denn jetzt genau sollte.

Komischerweise würde ich trotzdem sagen, dass ich es einen durchaus interessante Filmerfahrung fand und evtl. sogar eine Zweitsichtung in betracht ziehe bzw. eine Sichtung der anderen beiden Filme aus der Trilogie. Denn der Film hat schon was und ich frage mich noch immer, ob mir da einfach was entgangen ist. Langweilig wurde er mir jedenfalls nicht.

Bewertung entfällt in diesem Fall :smile:

SILENT LAND / CICHA ZIEMIA​

von Aga Woszczyńska

Anna und Adam, polnisches Ehepaar - reich, gut aussehend, kühl - haben ein Ferienhaus mit Swimmingpool auf einer süditalienischen Insel gemietet. Als sie dort ankommen, stellen sie fest, dass der Pool nicht funktioniert und überzeugen den Vermieter, ihn reparieren zu lassen. Gerade als der junge Handwerker 1-2 Tage später seine Arbeiten am Pool erledigt hat und seine Sachen zusammenräumen will, stürzt er und verunfallt tödlich.
Zuerst behaupten Anna und Adam, den Unfall nicht mitbekommen zu haben. Doch auf den Sicherheitskameras ist zu sehen, dass sie den Unfall beobachtet haben und keine Hilfe geleistet haben. Zwar müssen sie sich bei der Polizei rechtfertigen, doch man einigt sich darauf, das ganze als Unfall auf sich bewenden zu lassen.
Anna und Adam führen ihre Ferien fort, als wäre nichts passiert. Gehen schwimmen, nehmen einen Tauchkurs, freunden sich mit einem Ehepaar von der Insel an, haben Sex etc. Doch nach und nach tun sich Risse in ihrer perfekt scheinen Fassade auf und unterdrückte Emotionen brechen sich frei.

Silent Land legt viel Wert auf Leerstellen und Unausgesprochenes. Einerseits ist es ein Film über Kommunikation oder eben Nichtkommunikation, und auf der anderen Seite ein Film über das Verhältnis von Einheimischen zu reichen Touristen und aus dem Ausland Zugezogenen sowie die damit einhergehende Abhängigkeit. Dieser Gegensatz wird noch durch den Clash der Mentalitäten unterstrichen. Während Adam und Anna kühl, distanziert und stets kontrolliert wirken, sind die Menschen, denen sie auf der Insel begegnen, offen, lebensfroh und temperamentvoll.

Insgesamt ist Silent Land ein über weite Strecken sehr ruhiger Film, der aber durch dieses Brodeln unter der Oberfläche eine gewisse Grundspannung durchgehend aufrecht hält. Es fasziniert dem Prozess zuzusehen, in dessen Verlauf diese glatte Fassade mehr und mehr bröckelt. Der Film ist zudem konstruiert und endet auf einer nicht besonders spektakulären, aber doch sehr treffend atmosphärischen Note.

7.5/10
 

Presko

Don Quijote des Forums

DRIFTING​

von Jun Li

Fai wird aus einem Hongkonger Gefängnis entlassen und kehrt zu seinen obdachlosen Freunden auf die Strasse zurück. Schon in einer der ersten Nächte taucht plötzlich die Polizei auf und räumt ohne Vorankündigung den Schlafplatz der Gruppe und sammeltihre ganzen Habseligkeiten als Müll ein. Eine Sozialarbeiterin will mit der Gruppe gegen diese Aktion vorgehen, da die Behörden eigentlich die Obdachlosen hätte im Voraus schriftlich informieren müssen. So beginnen sie eine Kampagne um auf die Situation der Obdachlosen aufmerksam zu machen. Zur selben Zeit lernt Fai einen mysteriösen jungen Obdachlosen mit einer Mundharmonika kennen. Der Mann erinnert ihn an seinen Sohn und er nimmt ihn in der Folge unter seine Fittiche.

Drifting ist vielleicht der Film dieses Festivaljahres, der mich am meisten emotional berührt hat. Ich brauchte ein paar Minuten um reinzukommen, doch sobald ich mal mit den Figuren warmgeworden bin, hatte mich der Film und mit zunehmender Laufzeit nahm er mich immer stärker für sich ein. Wirklich phänomenal ist der Hauptdarstelller Francis Ng, der den dickköpfigen aber liebenswürdigen Fai einfach genial spielt. Einerseits ist Fai ein total kaputter Typ. Drogenabhängig, säuft und trägt eine tragische Geschichte mit sich rum. Und dennoch ist er ein stolzer Kämpfer für Gerechtigkeit und strahlt damit enorm viel Würde aus. Auch die anderen Charaktere aus der Gruppe spielen eine wichtige Rolle, wobei eine der Figur ein bisschen zum Comic-Relief tendiert. Das ist schade, denn eigentlich ist es ja ein Kernthema des Filmes, den Obdachlosen ohne Mitleid zu begegnen und sie würdevoll zu zeigen. Wenn dann der eine ständig als Clown auftritt, wirkt das dem ein wenig entgegen.

Gerade im Mittelteil ist der Film teilweise wirklich sehr witzig und hat für viele Lacher gesorgt. Gegen Ende überwiegt dann aber doch der ernste Blick auf die Lage der Menschen auf der Strasse und ein System, das eben nicht bereit ist, sie genauso als Bürger anzuerkennen, wie jedes andere Mitglied der Gesellschaft.

8.5/10

Festivalteaser: Drifting

RAGING FIRE​

von Benny Chan

Ein aufrechter Polizist kriegt es mit einer brutalen Bande zu tun, die bei einem Polizeieinsatz sein Team aus Beamten aus dem Hinterhalt angreift und etwa zwanzig seiner Männer dabei umbringt. Erst später findet er dann heraus, dass die Bande aus seinen früheren Kollegen besteht. Gegen jene hat er vor Jahren in einem Prozess wegen Polizeigewalt ausgesagt, wodurch sie mehrere Jahre in den Knast gekommen sind. Nun wollen sie Rache.

Einen richtigen Actionkracher habe ich mir gestern dann auch noch zu Gemüte geführt. Es handelt sich dabei um Benny Chan's letzte Regiearbeit vor seinem Tod. Gegeneinander an treten Donnie Yen und Nicholas Tse.
Ja, was soll ich sagen, vielleicht bin ich der Falsche, um den Film zu bewerten, da ich kein Riesenfan des asiatischen Actionkinos bin.
Raging Fire hat definitiv ein paar extrem spektakuläre und grosse Setpieces. Insbesondere eine Massenschlägerei/schiesserei etwa gegen Ende des ersten Filmdrittels hat es wirklich wirklich in sich. In den späteren Actionszenen kommen manchmal aber auch eher mittelmässige CGI-Effekte zum Einsatz, die den Gesamteindruck ebenso etwas trüben, wie die eine oder andere überdrehte Actionsituation, die eben ohne CGI auch gar nicht machbar gewesen wäre. Vor allem ist das schade, da es diese Übertreibungen gar nicht gebraucht hätte. Der Film wäre auch so schon spektakulär genug gewesen.
Die Story ist total banane. Man versucht irgendwie so ne Art Auseinandersetzung mit Polizeigewalt, in der wohl Graubereiche ausgelotet werden sollen. Aber das funktioniert meiner Ansicht überhaupt nicht, weil das alles viel zu platt ist. Auch die generelle Inszenierung ist wirklich Holzhammer-at-its-best. Wie der Score etwa teilweise Sätze unterstreicht, um auch wirklich darauf hinzuweise, dass da grad was Wichtiges gesagt wurde, brachte mich mehr als einmal dazu, meine Augen zu verdrehen.

Was auch krass ist, wie der Film sich bei anderen Filmen bedient. Womöglich ist das aber umgekehrt oft genauso und ich kenne diese Filme einfach nicht. Aber da wird bei The Dark Knight (Joker, der im Polizeirevier einsitzt, dabei aber einen fiesen Masterplan verfolgt), und The Heat (Strassenschiesserei) so frech geklaut, das ist schon dreist.

Und am Ende übertreibt es der Film einfach völlig mit sienem Pathos, das habe ich dann echt kaum noch ertragen.

Ne, mein Cup of Tea war das nicht grade. Die starke Action hats aber rausgerissen.

6/10

Trailer: Raging Fire
 

Revolvermann

Well-Known Member
Nice dass du hier so viele Filme ausführlich vorstellst, Presko.
Ist einiges bei, was ich ohnehin noch schauen wollte aber natürlich bisher noch nicht konnte.
 
Zuletzt bearbeitet:

McKenzie

Unchained
Find ich auch. Mag nicht alles immer mein Fall sein bzw. schau ich generell momentan leider fast gar nichts, aber ist ein schöner Überblick über Projekte, die sonst weniger Aufmerksamkeit bekommen.
 

Mr.Anderson

Kleriker
Finde ich auch! Obwohl mich die meisten der hier über die Jahre vorgestellten Filme absolut nicht interessieren, bin ich doch immer sehr interessiert an deinem Filmtagebuch. Und siehe da, jetzt ist endlich mal auch eine anspruchsvolle Empfehlung für mich dabei gewesen: Raging Fire. :ugly:
 

Presko

Don Quijote des Forums
Danke fürs nette Feedback, Leute.:squint:
Für mich macht es eben auch voll Sinn, die Sachen hier zu schreiben. Denn es sind halt schon echt viele Filme und man läuft da etwas Gefahr, dass man dem einzelnen Film etwas die Chance nimmt, nachwirken zu können. Daher ists dann gut, sich im Nachhinein nochmal etwas intensiver mit den Filmen auseinanderzusetzen, und da ist das Schreiben halt das ideale Mittel.

STREAMS​

von Mehdi Hmili

Moumen träumt von einer Zukunft als Profitorhüter und steht kurz vor einem wichtigen Karriereschritt zu einem neuen Verein. Doch bevor er seine Unterschrift unter den Vertrag setzen kann, gerät sein Leben völlig aus der Bahn. Seine Mutter, Amel, wird, nachdem ein Mann versucht hat, sie zu vergewaltigen, wegen Ehebruch Gefängnis verurteilt. Moumen ist verzweifelt, da sein alkoholkranker Vater nicht bereit ist, seiner Mutter zu helfen. Bei einer Schlägerei verletzt Moumen einen Mannschaftskameraden schwer und muss daraufhin selbst untertauchen.
Sechs Monate später wird Amel aus dem Gefängnis entlassen. Von ihrem alten Umfeld verstossen muss sie sich ein neues Leben aufbauen. Gleichzeitig macht sie sich auf die Suche nach ihrem Sohn, der in der Zwischenzeit immer tiefer in illegale Aktivitäten abgerutscht ist.

Streams verfolgt im folgenden Parallel die Geschichte der Mutter und die Geschichte von Moumen, wobei der Fokus auf der Geschichte Amel's liegt. Ihre Suche nach Moumen, ihr neues Leben, die Auseinandersetzung mit ihrem alten Leben, eine neue Liebe etc. Da gibt es vieles abzuarbeiten. Dasselbe gilt für den Erzählstrang um ihren Sohn, der sich immer tiefer in die Scheisse reitet, in dem er sich mit zwielichtigen und gefährlichen Leuten anlegt. Leider gelingt es Mehdi nicht, die beiden Erzählstränge sinnvoll zu verbinden, im Gegenteil eher stehen sie einander im Weg. Der Film hätte besser funktioniert, hätte sich Mehdi stärker auf einen Strang konzentriert. Auch die Dramaturgie und insbesondere das Erzähltempo funktioniert nicht so richtig. Mal denkt man etwa im letzten Drittel, jetzt ziehe die Geschichte richtig an und dann wird sie plötzlich von einer ewig langen Karaoke und Tanzszene ausgebremst. Und dann in den letzten Minuten knallt es plötzlich so richtig und die Ereignisse überschlagen sich - zumindest im einen Erzählstrang. Auch die Szenenübergänge fühlen sich manchmal recht merkwürdig an, so als würde etwas fehlen. Simpler ausgedrückt, der Film wird mit zunehmender Laufzeit ein ziemliches Durcheinander. Gerade im Erzählstrang um Moumens Verbrecherkarriere ist es überhaupt sehr schwer, überhaupt zu verstehen, was da genau vor sich geht. Da tauchen ständig neue Parteien und Figuren auf, über die wir eigentlich nicht viel erfahren. Dann gibt es noch einen wichtigen besten Freund und eine Freundin, aber die sind halt einfach da, ohne dass wir als Zuschauende gross was über sie erfahren.

Insgesamt ein solider Beginn und eine sehr schöne Idee, aber leider schafft es der Film nicht, seine komplexe Geschichte in eine kohärente Erzählung umzuwandeln.

5/10

Trailer: Streams

HIVE​

von Blerta Basholli

Nach dem schrecklichen Massaker im März 1999 im kosovarischen Dorf Krusha e Madhe ist Fahrje's Ehemann vermisst gemeldet. Damit ist sie eine von rund einem Dutzend Frauen, deren Ehemänner verschwunden sind. In dem stark patriarchalisch geprägten Dorf wird von den Frauen erwartet, dass sie auf die Rückkehr ihrer Männer warten, solange die Möglichkeit besteht, dass sie noch leben. Selber Arbeit zu suchen würde als Respektlosigkeit aufgefasst. So kommt es dann auch, dass Fahrje von den Männern im Dorf angefeindet wird, als sie das Angebot eines Hilfsprogramms annimmt, die Fahrschule zu machen, um selbständiger zu werden. In einem nahegelegenen Supermarkt erhalten sie die Möglichkeit, ihre hausgemachten Saucen (Ajvar) zu verkaufen. Anfangs ist Fahrje fast alleine, als sie das Angebot annimmt und mit der Produktion gegen die Widerstände aus dem Dorf und der eigenen Familie damit beginnt. Doch nach und nach gesellen sich ihr andere Frauen hinzu.

Hive beruht auf der wahren Geschichte von Fahrije Hoti, die nach dem Tod ihres Ehemannes ihr eigenes Unternehmen aufgebaut hat und inzwischen ihr Ajvar auf der ganzen Welt verkauft. Hive hat sich in der Zwischenzeit zu einem regelrechten Festivalliebling entwickelt. Am Sundance staubte er gleich drei Preise ab. Es ist eine schöne, ermutigende Geschichte über Trauer und Emanzipation. Und insbesondere war es rührend mitzubekommen, wie insbesondere die albanisch-kosovarischen Kinobesucher von dem Film tief berührt waren. Ich glaube, der Film erhält eine ganz andere Bedeutung, wenn man selber kosovarische Wurzeln hat - so zumindest mein Eindruck nach dem Screening.
Wie gesagt, es ist ein schöner Film mit einer echt starken Hauptdarstellerin, der jetzt aber das Kino auch nicht neu erfindet. Aber halt einfach enorm sympathisch daherkommt und das Herz am richtigen Fleck hat.

7.5/10

Trailer: Hive


MAIXABEL​

von Icíar Bollaín

Im Jahr 2000 wird der Politiker Juan María Jaúregui von Anhängern der baskischen Untergrundorganisation ETA kaltblütig ermordet. Seine Witwe Maixabel Lasa führt die Arbeit ihres Ehemanns fort und setzt sich politisch für einen Friedensprozess ein.
Elf Jahre später kommt es zu einer Art Aussöhnungsprozess, wo ehemalige ETA-Anhänger Angehörige ihrer Opfer zu einer begleiteten Aussprache einlden können, um sie persönlich um Verzeihung zu bitten. Einer der erste Männer, die diese Möglichkeit in Anspruch nehmen, ist einer der drei Attentäter von Maixabel's Ehemann.

Maixabel ist eine berührende Geschichte um Trauer, Schuld und Vergebung. Die Erzählung folgt zwei Figuren: Zum einen Maixabel und ihrer inzwischen erwachsenen Tochter, die nach dem Mord an ihrem Vater in ständiger Sorge um ihrer engagierte Mutter lebt. Der zweite Strang folgt Etxezarreta, einem der Attentäter, der erst äusserst skeptisch diesem Versöhnungsprozess gegenüber steht. Erst als einer seiner damaligen Kollegen sich mit Maixabel trifft, öffnet auch er sich langsam dem Prozess.

Die Story ist eigentlich recht gradlinig. Spannend fand ich insbesondere die Perspektive auf die ehemaligen ETA-Attentäter, die nun im Gefängnis sind und hin- und hergerissen sind zwischen Loyalität und Wut gegenüber der ETA, sowie zwischen Schuldgefühlen und Rechtfertigung der eigenen Taten.
Die andere spannende Perspektive fand ich jene auf Maixabels Tochter, die eigentlich nur eine Nebenfigur ist, aber fast stärker noch als Maixabel selbst ihre Situation zu vermitteln vermag. Mir war es auch bis zu dem Film nicht mehr bewusst, dass die ETA noch so lange gewütet hat.

Ähnlich wie Hive erzählt der Film jetzt nicht wahnsinnig viel neues und verläuft auch in recht bekannten Bahnen, ist aber einfach in seiner Aussage grundsympathisch.

7.5/10

Trailer: Maixabel

https://www.imdb.com/name/nm12331486?ref_=tt_cl_i_3
 

Presko

Don Quijote des Forums
Neues Jahr, neues Glück. Wieder hat das Zürich Filmfestival begonnen und ich hänge die nächsten Tage morgens bis abends im Kino und berichte gerne ungefragt hier von meinen Erfahrungen :smile:

FOUDRE (DT. DONNER)​

Bei Foudre handelt es sich um einen Wettbewerbsbeitrag aus der französischen Schweiz von der Regiedebütantin Carmen Jaquier, und Mann, schaut der Film gut aus. Die Bilder sind teilweise wirklich eine Wucht, die Kameraeinstellungen, die Landschaft - top.
Aber worum gehts? Der Film spielt in den Schweizer Alpen um 1900 herum. Elisabeth wurde als zweites Mädchen in der Familie vom Vater als Kind ins Kloster geschickt, wo sie für die Familie beten solle, wie er ihr mit auf den Weg gab. Nun ist Elisabeth 17, ihre Schwester Innocent ist ums Leben gekommen, und nun wird Elisabeth nach Hause geschickt um ihre Eltern und ihre zwei kleinen Schwestern zu unterstützen. Bald stellt sie fest, dass Innocent und ihr Tod zuhause tabuisiert wird. Irgendwann erfährt sie den Grund dafür. Innocent soll dem Teufel verfallen sein und gilt fortan als verlorene Seele. Eines Tages findet Elisabeth Innocent's Tagebuch, in welchem ihre Schwester von ihrem sexuellen Erwachen schreibt.

Sexuelles Erwachen, Liebe über die Grenzen gesellschaftlicher Konventionen hinweg versus religiöse und patrachalgeprägte Sittengemeinschaft - so konnte man den Subtext vielleicht am treffendsten zusammenfassen. Nachdem der Film zuende war, sass ich dann etwas ratlos im Kinosessel. Hätte man mich nach den ersten dreissig bis 45 Minuten nach meiner Meinung gefragt, ich hätte Foudre als einen der wahrscheinlich besten Schweizer Filme überhaupt beschrieben. Atmosphärisch, interessante Geschichte, grossartige Kameraarbeit. Doch dann kippte irgendwann das fragile Gleichgewicht aus historischem Gesellschaftsdrama und expressionistischem Kunstfilm. Zu dominant wurden mir die bedeutungsschwangeren Kunstfilmmätzchen, welche das sexuelle Erwachen Elisabeth's unterstreichen sollen, wie wenn sie etwa mit einem von der decke hängendes Stück Fleisch rumschmust, oder im Fieberwahn anfängt zu masturbieren. Figurenzeichnung und Erzählungen litten sehr darunter. Dennoch gelingen Carmen Jaquier weitere eindrückliche Szenen wie etwa das malerische Schlussbild. Ich bin sehr gespannt, was die junge Regisseurin als Nächstes vorhat.

7/10

Clip

THE MENU​

Ralph Finnes spielt einen berühmten Star-Küchenchef, der ein Luxus-Restaurant auf einer abgelegenen Insel führt. Für einen ganz besonderen gastronomischen Abend hat er verschiedene prominente und wohlhabende Persönlichkeiten auf die Insel eingeladen. Darunter auch Anya Taylor-Joy und Nicholas Hoult. Doch alsbald stellt sich heraus, dass es an diesem Abend nicht nur um leckere Speisen und besondere Gourmeterfahrungen geht, sondern auch um eine ganz persönliche Abrechnung mit einer bestimmten Klasse Mensch.

Ich kann es schnell machen, The Menu bietet ziemlich genau das, was der Trailer vermuten lässt. Einen wenig subtilen Satire-Thriller, der böse und unterhaltsam ist, den ihm zugrundeliegenden Witz aber auch so ziemlich totreitet. Am Ende geht dem Ganzen doch spürbar die Luft aus. Ein wenig so, als wenn man bei einem fünf-Gänge-Menü viermal denselben Gang aufgetischt bekommt. Das ist gut gespielt, schnörkellos und stimmungsvoll inszeniert, aber eben auch relativ überraschungsarm und vorhersehbar. Und ja, insbesondere Nicholas Hoult's Figur nervt mit der Zeit etwas.

Trailer

6.5/10

CLOSE​

Close ist ein belgisches Drama von Lukas Dhont, das bereits in Cannes ausgezeichnet wurde und auch bei mir emotional voll ins Schwarze traf. Der Film handelt von der Freundschaft der beiden Jungen, Léo und Rémi. Die beiden 13-jährigen Jungen sind schier unzertrennlich und kommen gemeinsam neu in die Oberstufe. Dort beginnen sich alsbald andere Jugendliche über die ungwohnt enge Verbindung der beiden lustig zu machen. Ob sie ein Paar seien, werden sie etwa gefragt. Gerade Léo nervt sich furchtbar darüber und beginnt nach und nach immer ein bisschen mehr auf Distanz zu Rémi zu gehen. Rémi kommt mit dem zurückweisenden Verhalten Léo's nur schwer zurecht, was tragische Konszequenzen nach sich zieht.

Die grosse Stärke von Close ist die Konzentration auf das Wesentliche. Die beiden Jungen und ihre Freundschaft. Andere unnötige Konflikte oder Nebenhandlungsstränge werden nicht aufgetan. Stattdessen beobachtet der Film mit grosser Sensibilität und psychologischer Präzision seine Protagonisten und wie sich ihre Freundschaft und damit auch ihr Leben durch die neuen Einflüsse zu verändern beginnt und welche Folgen, das nach sich zieht.

Das ist grossartig gespielt und entfaltet wirklich eine enorme emotionale Wucht. Vielleicht hätte man in die zweite Hälfte etwas straffen können, da der zentrale Konflikt etwas zu sehr in die Länge gezogen bzw. darum herum getänzelt wird, bis endlich die lang erwartete Klimax dann endlich kommt.

Nichtsdestotroz für mich ein absolutes Highlight.

9/10

https://www.youtube.com/watch?v=6EJGnU2AmV4
 

Presko

Don Quijote des Forums
Und ein weiterer bunter Strauss verschiedenster Filme: Ein spanischer Gefängnisthriller, Netflix' neuer True-Crime-Streich mit Starbesetzung, Pfirsichpflücken und Familienstreitigkeiten unter katalonischer Sonne und ein etwas sperriger Fiebertraum aus Kolumbien.


MODELO 77 (engl. PRISON 77)

Der spanische Erfolgsregisseur Alberto Rodríguez widmet sich in seinem neuen Film den Zuständen in den spanischen Gefängnissen der 70er Jahre und den daraus resultierten Gefängnisaufständen. Während sich das Land nach dem Ende des Franco-Regimes in einem Demokratisierungsprozess befindet, herrschen in den Gefängnissen weiterhin Gewalt und Willkür vor. Einer, der dies am eigenen Leib erfährt, ist der junge Buchhalter Manuel, der obwohl das Verfahren noch hängig ist, wegen Diebstahl eingesperrt wird und dem eine jahrelange Haftstrafe droht. Innert kürzester Zeit macht er Bekanntschaft mit der Gewaltbereitschaft des Gefängnispersonals. Als er den Versuch unternimmt, seine ihm zustehenden Rechte einzufordern, antworten diese nämlich mit dem Schlagstock.

Im Knast schliesst er sich nach einigem Zögern einer Gruppe Inhaftierter an, welche sich zusammengetan haben, um einerseits gegen die Zustände in den spanischen Gefängnissen zu protestieren und des Weiteren um Amnestie für die unter dem Franco-Regime Verhafteten zu erwirken. Zuerst noch eine kleine Gruppe, die im Geheimen Flugblätter verfasst, schliessen sich bald immer mehr Inhaftierte verschiedener Gefängnisse der COPEL (Coordinadora de Presos en Lucha) an und beginnen mit Aufständen und Protestaktionen für ihre Sache zu kämpfen. Doch der Gefängnisapparat reagiert mit immer stärkeren Repressalien.

Gefängnisthriller, Drama und Geschichtsstunde – das tönt doch gut, oder? Und tatsächlich funktioniert das auch weitestgehend sehr gut. Thema, Schauspieler und Inszenierung geben keinen Grund zu klagen. Teilweise ist das Gezeigte auch recht hart und am Ende zeigt der Film noch einige Originalaufnahmen der COPEL-Aktionen, was nochmal ordentlich unter die Haut geht. Ganz an die grossen Klassiker, ich nenn da jetzt mal Die Verurteilten oder Im Namen des Vaters kommt der Film dann aber nicht ran. Einerseits bleiben trotz der starken Schauspieler (es gibt nur eine grössere Frauenfigur im ganzen Film) die Figuren recht blass. Javier Gutiérrez als José Pino, dem dandyhaften Zellennachbar von Manuel, dessen Vertrauen er sich erst einmal erarbeiten muss, hat da vielleicht noch die spannendste Figurenzeichnung abbekommen. Die sadistischen Wärter erhalten gar keine weitere Charakterisierung als eben gewalttätig zu esin.
Zudem vertut der Film die Chance, etwas mehr aus den historischen Aspekten seines Stoffes rauszuholen und ein wenig mehr von der sich in einem spannenden gesellschaftlichen und politischen Wandel befindlichen spanischen Gesellschaft zu erzählen. Stattdessen wiederholt der Film in meinen Augen etwas zu oft, den wiederkehrenden Loop aus Widerstand, Hoffnung auf Besserung und brutalen Repressalien.

Dennoch, ein starker Gefängnisthriller, hart, dramatisch und spannend.

7.5/10



LOS REYES DEL MUNDO (engl. The KINGS OF THE WORLD)

Kolumbien ist ein wahnsinnig spannendes Land und deswegen so gut geeignet als Handlungsort für Filme. Laura Mora hat das bereits eindrücklich mit dem Rache- und Liebesdrama MATAR A JESÚS unter Beweis gestellt. In ihrem neuen Film erzählt sie von den fünf Freunden Rá, Culebro, Sere, Winny und Nano, die sich auf den Strassen Medellins herumtreiben. Rá fühlt sich verantwortlich für seine jüngeren Freunde und als er erfährt, dass ihm endlich das Stück Land zugesprochen wurde, das einst seiner Grossmutter weggenommen wurde, will er sich dort mit seinen Freunden niederlassen. Ein freies, selbstbestimmtes und würdiges Leben so der Traum der jungen Männer. Doch dafür müssen sie zuerst mit den entsprechenden Papieren bei den Behörden aufmarschieren. Also machen sie sich auf eine lange Reise durchs kolumbianische Hinterland. Was als Reise der Hoffnung beginnt, verwandelt sich allerdings alsbald für die Freunde in einen zermürbenden Albtraum.

Los Reyes del Mundo beginnt dynamisch, flirrend vor Energie auf den Strassen Medellins, wo die jungen Männer in Strassenkämpfen mit Macheten aufeinander losgehen, saufen, tanzen und nach einer Unterkunft für die nächste Nacht suchen. Auch ihre Reise beginnt aufregend. Der Regisseurin gelingen atemberaubende Bilder, wie sie sich etwa mit ihren Fahrrädern von Lastwagen einen Berg hochziehen lassen und danach in waghalsiger Geschwindigkeit auf der anderen Seite hinunterrasen und dabei dem entgegenkommenden Verkehr ausweichen.

Irgendwann treffen die Fünf irgendwo im Hinterland auf eine Art Bordell, das von einer Gruppe alter Frauen geführt wird, welche die Jungs liebevoll bei sich aufnehmen und rundum verwöhnen. Einer der Jungen fragt noch, warum sie eigentlich nicht einfach hier blieben. Eine Idee, die im Rückblick klüger gewesen wäre. Denn von dem Moment an, als sie von dort wieder aufbrechen, beginnen die Probleme. Was atemlos begonnen hat, verwandelt sich nun in eine zähe und nicht minder karge Odysee mit viel surrealen Elementen. Auch für den Zuschauer wird es zunehmender anstrengend, dem Geschehen zu folgen. Zwar machen die jungen Schauspieler ihre Sache wirklich hervorragend und man spürt förmlich die tiefe Verbindung zwischen ihnen, dennoch lässt einen das weitere Geschehen recht kalt. Zwar gelingen Laura Mora immer wieder beeindruckende Bilder, dennoch so richtig nahe will einem das nicht gehen. Das Ende fühlt sich zudem irgendwie überstürzt an, als ob einem grad nichts besseres in den Sinn gekommen wäre, und man halt einfach irgendeinen Schluss brauchte.

Eine sperrige und wenig hoffnungsvolle Odyssee durch ein Land, das geprägt ist von Armut, Gewalt und politischer Willkür.

6.5/10


ALCARRÀS​

Alcarras entführt die Zuschauer:innen ins sonnige Katalonien, wo im titelgebenden Örtchen die Familie Solé daran ist, die letzte Ernte einzufahren, bevor sie ihr Land und damit die Plantage aufgeben müssen. Anstelle von Pfirsichbäumen sollen hier in Zukunft Solarpaneele gebaut werden. Nun tun sie sich zusammen, um noch einen möglichst hohen Ertrag aus dieser letzten Ernte herauszuholen. Doch unter dem Druck brechen diverse Konflikte zwischen den einzelnen Familienmitglieder auf.

Der Film von Carla Simón besticht mit einer herrlich leichten Natürlichkeit, bei der ständig eine sanfte Melancholie mitschwingt. Man schaut der Familie und ihren einzelnen Mitglieder einfach gerne zu, wie sie miteinander streiten, sich zusammenraufen und feiern und sich wieder streiten. Gleichsam romantisiert der Film aber die Zustände auch nicht. Simón thematisiert das Ringen der von der Landwirtschaft lebenden Menschen um seine Existenz, die Preiskämpfe zwischen den Bauern und ihren Grossabnehmern, wie auch die Thematik der Gastarbeiter und Migration. Das gelingt ihr aber eben mit dieser besonderen Leichtigkeit, die den Film auszeichnet. Allerdings geht diese Leichtigkeit ein wenig auf Kosten der Emotionen. So plätscher der Film am Ende recht unspektakulär und undramatisch aus, ohne emotionalen Nachhall zu hinterlassen.

7/10

Trailer


THE GOOD NURSE

Netflix' ambitioniertes True-Crime-Drama mit Starbesetzung scheitert, so viel vorne Weg, in erster Linie an einem mässigen Skript, das zu viel auf einmal will.

Hautpfigur ist die Pflegefachfrau Amy Loughren (Jessica Chastain), eine vorbildliche Krankenschwester, wie uns der Film in den ersten Szenen deutlich zu verstehen gibt, die sich ihren Patient:innen mit grösster Hingabe widmet. Doch sie ist nicht nur Pflegefachfrau sondern auch alleinerziehende Mutter und Herzkrank. So Herzkrank, dass sie in einigen Monaten ein Spenderherz braucht, wenn sie überleben will. Weil Amy nicht krankenversichert ist, bzw. erst in in einigen Monaten über ihren Arbeitgeber versichert wird, hält sie ihre Erkrankung geheim, um nicht gefeuert zu werden. Dann taucht bei der Arbeit ein neuer Pfleger auf: Charles Cullen (Eddie Redmayne) und gewinnt ihr Vertrauen. Als sie ihm von ihrer Krankheit erzählt, verspricht er ihr, sie, wo er kann, zu unterstützen. Eine tiefe Freundschaft nimmt ihren Lauf.

Auch als sich erste unerklärliche Todesfälle auf ihrer Station ereignen, hegt Amy noch keinen Verdacht. Doch der Tod einer alten Patientin ruft dann doch die Polizei auf den Plan. Zwei Detectives (Nnamdi Asomugha und Noah Emmerich) merken schnell, dass irgendwas nicht stimmt, und das Spital versucht, irgendwas zu vertuschen. Als sie dann auch noch erfahren, dass einer der Pfleger im Krankenhaus, Cullen, schon einmal bei der Polizei auffällig geworden ist, geraten sie auf die Spur eines der grössten (anhand der Zahl seiner Mordopfer) Serienmörder der amerikanischen Kriminalgeschichte, und nur mit Amy's Hilfe sind sie in der Lage, Charles Cullens Mordserie zu stoppen.

Das Skript, mit dem Regisseur Tobias Lindholm zu arbeiten hatte, ist ambitioniert, zu ambitioniert. Familiendrama, Psychogramm, Thriller und Kritik an den Spitalinstitutionen (Letzteres hat Dr. Death besser gemacht), welche laut dem Film Cullens Mordserie überhaupt erst ermöglicht haben sollen. So richtig gelingen tut nur wenig davon. Das Familiendrama um Amy's zerrütteten Familienverhältnisse ist zu klischeehaft. Die Nachzeichnung der Polizeiarbeit und die damit einhergehende Kritik an den Spitälern sind einfach nicht interessant erzählt.

Der Film teilt sich die meiste Zeit in zwei Erzählstränge, jenen rund um Amy, und den der Polizisten. Dabei kommt die Polizeiarbeit wenig glaubwürdig daher. Fast schon wie durch Geisterhand werden die beiden Polizisten vom Schicksal mit Hinweisen gefüttert. So fragen sie etwa bei einem früheren Arbeitgeber Cullens nach dessen Personalakte und zufälligerweise klebt an eben dieser ein Post-it, auf dem der Name eines Medikaments steht, mit dem Cullen, wie sich später herausstellt, unter anderem seine Opfer vergiftet hat. Oder die HR-Frau des Krankenhauses, welche bei den Befragungen des Personals anwesend sein muss, damit diese nicht zu viel ausplaudern, wird genau so lange aus dem Raum gerufen, wie nötig ist, damit die Polizisten Amy rasch einen Papier zeigen können, aus dem Amy dann innerhalb von Sekunden ablesen kann, dass dem Opfer vor seinem Tod Insulin verabreicht worden sein muss. Die Polizeiarbeit wird nicht als langsames Herantasten an die Wahrheit gezeigt, in dessen Verlauf die Cops nach und nach auf Widersprüche und immer mehr und erschreckendere Erkenntnisse stossen. Eher ist es so. Sie werden gerufen. Sind zuerst noch irritiert, wieso man sie ruft, nur weil eine alte Patientin in einem Spital verstorben ist. Dann werden sie misstrauisch. Merken, das Spital hält Informationen zurück, und ein paar Szenen später steht für sie eigentlich fast schon fest: Es war Mord. Cullen wars. Der Spital tut alles, um die Sache zu vertuschen.

Das hört sich jetzt vielleicht auch alles schlimmer an, als es ist. Der Film unterhält, ist gut inszeniert, gut gespielt und hat auch gerade im letzten Drittel wirklich ein paar starke Momente. Nur fallen da dann halt solche Drehbuchmängel umso mehr ins Gewicht und ärgern.

Insgesamt erfährt man übrigens recht wenig über den eigentlichen Fall und über Charles Cullen, und das ist schon recht schade. Ich habe nur kurz einige Artikel zur Geschichte des Falls überflogen und das ist schon echt verrückt. Der Typ hat etwa seit seiner Kindheit scheinbar ständig versucht, sich das Leben zu nehmen.

Als Fazit würd ich sagen, wenn der mal auf Netflix läuft und man True-Crime mag, kann man sich den gut geben. Ein Kinoticket würde ich dafür aber nicht kaufen.

6/10

Trailer
 

Presko

Don Quijote des Forums
Was treibt eigentlich Zooey Deschanel? Sie klimpert zusammen mit Casey Affleck und Walton Goggins im Indie-Musik-Märchen Dreamin' Wild. Weniger harmonisch gehts in R.M.N. zu, einem Film, der grassierender Fremdenfeindlichkeit in Transilvanien handelt. Dann gibts noch einen homosexuellen Drillseargent im österreichischen Bundesheer und eine verzweifelte Mutter, die mit ihrer schlagefertigen Freundin durch Teheran irrt.

R.M.N.

Matthias kehrt im Winter kurz vor Weihnachten in sein Heimatdorf irgendwo in Transsilvanien zurück. Wie so viele andere Männer hat er als Gastarbeiter im europäischen Ausland (in seinem Fall Deutschland) gearbeitet. Nun sucht er nach Arbeit zuhause. Doch der einzige Arbeitgeber die dort ansässige Grossbäckerei, deren Managerin Csilla, seine frühere Geliebte, stellt nur Bäcker ein. Die Firma hat damit zu kämpfen, überhaupt qualifiziertes Personal zum Mindestlohn zu finden. Dies ist dringend nötig, um von den entsprechenden EU-Subventionen profitieren zu können. Schliesslich greift die Firma auf Gastarbeiter aus Sri Lanka zurück.

Auf Matthias wartet zuhause wenig Hoffnungsvolles. Sein alleinstehender Vater ist an Demenz erkrankt und zwischen ihm und seiner ihm entfremdeten Frau hängt der Hausfrieden schief. Auch sein kleiner Sohn Rudi macht ihm Sorgen, da sich dieser nicht mehr alleine in die Schule getraut, seit er irgendwas auf dem Wegstück durch den Wald gesehen haben will, das ihn erschreckt hat.
Während Matthias versucht, wenigstens die Beziehung zu seinem Sohn zu retten und von neuem mit Csilla anbandelt, bricht ihm Dorf gegenüber den Gastarbeitern immer mehr Fremdenfeindlichkeit durch.

Im Film des rumänischen Meisterregisseur's Cristian Mungiu trifft winterliche auf soziale Kälte. Tristesse dominiert und wird nur durch kurze und vor allem flüchtige Momente zwischenmenschlicher Wärme durchbrochen. Mungiu zeichnet das Bild einer frustrierten Gesellschaft von Globalisierungsverlierern, deren Frust sich schliesslich in Fremden- und EU-Feindlichkeit entlädt. Das ist messerscharf herausgearbeitet und leider auch ziemlich deprimierend anzuschauen, da Mungiu wenig Gründe zur Hoffnung offeriert. Dass der Film dann auch noch mit einem irritierend rätselhaften Finale endet, lässt Zuschauer und Zuschauerinnen umso frustrierter zurück. Wobei auf Gefühle hat es der Regisseur nicht in erster Linie abgesehen. Sein Film ist eher ein (vielleicht zu) verkopfter Kommentar zu den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen, die sich in Ländern wie eben Rumänien zeigen, die wirtschaftlich bisher unten durch mussten.

Dennoch wer einen etwas andern Blick auf die Globalisierung und ihre Probleme erhalten möchte und bereit ist, sich auf ein karges, aber auch bissiges Gesellschaftsporträt einzulasen, darf sich den Film durchaus mal merken.

7.5/10


DREAMIN' WILD

Casey Affleck spielt den erfolglosen Musiker Donnie Emerson. Er und sein Bruder, Joe (Walton Goggins mal als knuddeliger über alle massen liebenswürdiger Farmer) haben in ihrer Jugend gemeinsam Musik gemacht und dabei ein eigenes Album aufgenommen. Hunderte Exemplare der Schallplatte stapeln sich irgendwo auf der Farm ihrer Eltern. Insbesondere ihr Vater (Beau Bridges) hat die Söhne damals mit Inbrunst unterstützt. Als Donnie später versuchte, als Solokünstler Fuss zufassen, verschuldete sich sein Vater über alle Massen, um Donnie's Traum zu finanzieren. Doch nie hat sein Vater deswegen auch nur ein böses Wort gesagt. Überhaupt der einzige in der Familie (da ist noch die Mutter und zwei Schwestern), der nicht von Liebe für die anderen Familienmitglieder förmlich überquillt, ist Donnie selbst. Denn Donnie leidet darunter, dass trotz seines Genies (wie der Film immer wieder unterstreicht) sein Traum der Musikkarriere nie Realität geworden ist. Der Familienvater macht zwar noch Musik und tritt mit gemeinsam mit seiner Ehefrau (Zooey Deschanel) auch regelmässig in kleinen Clubs auf, aber zu mehr hat's eben nicht gereicht.

Eines Tages taucht plötzlich ein Musikproduzent im Leben der Emersons auf und will ihre damals produzierte Platte neu auflegen. Und natürlich wird das Ganze ein Riesenerfolg und schliesslich sollen die Emerson-Brothers sogar noch einmal gemeinsam auftreten. Hier erfährt die Harmonie auf einmal Brüche, denn Donnie tut sich extrem schwer damit, die alten Songs noch einmal mit seinem Bruder zu performen.

Sonnenunter- und Aufgänge, weite raue Landschaft, Indie-Ästhetik, seichter Folkpop und die schwelgenden Blicke von Casey Affleck, wenn das mal nicht so richtig schön cosy tönt. Genau das ist es auch. Dreamin' Wild ist ein schaurig gemütliches Musik-Indie-Märchen, das man sich am besten schön kuschelig eingelullt vom Sofa aus anschaut. Da passiert wenig Aufregendes, nix tut weh, trotzdem darf das ein oder andere Tränchen verdrückt werden.

In Rückblenden erzählt der Film parallel zur Handlung in der Gegenwart auch, wie die Brüder damals dieses erstes Album aufgenommen haben, und wie Donnie später den Solo-Weg einschlug. Diese Rückblenden führen dann eben auch zu den Gründen dafür, weswegen Donnie sich in der Gegenwart so schwer tut, mit seinem Bruder wieder aufzutreten. Allerdings überzeugen diese Gründe nicht wirklich. Dem Film gelingt nicht, eine entsprechend dramaturgische Fallhöhe aufzubauen, und das Gefühl eines echten tiefen Konflikts zu erzeugen. Aber das ist auch ok. Denn dem gemütlichen Singsang, der übrigens auf wahren Begebenheiten beruht, tut das kaum einen Abbruch. Und wer einfach nach etwas cosy Samstagabend-Unterhaltung am besten an einem kühlen Herbstabend sucht, ist hier bestens bedient.

Fazit: Nett.

6.5/10

EISMAYER

Eismayer ist ein tonal etwas unausgegorenes Drama über eine homosexuelle Liebe im österreichischen Bundesheer. Zu Beginn fühlt man sich an Bootcamp-Dramen amerikanischer Bauart wie etwa Full Metal Jacket erinnert. Die Person Eismayer tritt dabei als der knallharter Drillseargent auf, der von seinen Rekruten absoluten Gehorsam und Höchstleistungen einfordert. Wer nicht spurt, wird erniedrigt, vorgeführt und abgestraft.

Doch Eismayer hat auch eine sanfte Seite. Nämlich als Vater und Ehemann. Insbesondere im Umgang mit seinem Sohn wirkt er geradezu wie ein anderer Mensch.
Gleichzeitig tun sich auch gerade in seinem Familienleben Risse auf. Denn Eismayer hat ein Geheimnis. Er ist homosexuell. Ebenso wie einer seiner neuen Rekruten – Mario Falak, ein attraktiver junger Mann mit Migrationshintergrund, der zudem auch noch selbstbewusst dem Eismayer Paroli bietet. Als sich Falak eines Abends innerhalb der Truppe outet, kommt es zu einem kleinen Eklat.

Und natürlich verlieben sich Falak und Eismayer im Verlaufe des Films. Wieso genau sie sich verlieben, das aber bleibt irgendwie rätselhaft. Übrigens beruht die Geschichte der beiden auf wahren Begebenheiten.
Der Anfangs noch als harter Drillseargent porträtierte Eismayer, der mit Mitteln wie Mobbing und Erniedrigung seinen Rekruten zusetzt, und auch rassistische Züge an den Tag legt, wird im Laufe des Films zum harten Hund mit weichem Kern umgedeutet. Das fasst Falak an einer Stelle im Film auch ganz simpel zusammen: Eismayer ist hart aber gerecht.

Dasselbe geschieht auch mit der Institution Militär. Wird die Institution anfangs noch kritisch beleuchtet, verändert sich die Perspektive und macht auf einmal aus dem österreichische Bundesheer einen weltoffenen Club, in dem zwar harte Regeln gelten, letztlich aber Kameradschaft und Offenheit dominieren.
Im Finale eskaliert dann diese tonale Schräglage komplett, wenn das anfangs noch grimmig daherkommende Militärdrama fast schon auf die Pfade einer klassischen Rom-Com wechselt.

Eismayer ist ein durchaus zeitweise stark inszenierter und gut gespielter Film, der aber tonal merkwürdig unausgegoren ist und als Gesamtwerk irgendwie unaufrichtig wirkt.

6.5/10

https://www.youtube.com/watch?v=vab0XGlsgwg

UNTIL TOMORROW

Ich wiederhole es gerne immer wieder. Das iranische Kino ist einfach stark. Immer wieder sind es die iranischen Filme, welche bei mir mit den besten Eindruck hinterlassen. Und so wird es auch mit Until Tomorrow sein.

Die Geschichte ist simpel. Die junge, alleinerziehende Mutter Fereshteh erwartet ihre Eltern zu Besuch. Diese wissen aber nicht, dass ihre Tochter ein kleines Kind hat, und das soll auch so bleiben. Nun sucht Fereshteh händeringend jemanden, der bis morgen auf ihr Kind aufpasst, so dass ihre Eltern nichts von dessen Existenz erfahren. Und dieses Unterfangen erweist sich als schwieriger als erwartet. Ihre Freundin Atefeh, eine schlagfertige junge Frau begleitet Fereshteh auf ihrer folgenden Odyssee durch Teheran.

Regisseur Ali Asgari gelingt es trefflich mit dieser simplen Prämisse wie beiläufig ein komplexes Bild einer Gesellschaft zu zeichnen, in der Frauen unterdrückt werden. Zudem ist die Geschichte, durch den ständigen Zeitdruck, spannend, teilweise lustig und berührend.

Eine längere Szene in einem Taxi, in der die Kamera nur auf das Gesicht der verzweifelten Fereshteh gerichtet ist, welche eben ihr Kind abgegeben hat, ist der emotionale Höhepunkt des Films und präsentiert eine der wuchtigsten schauspielerischen Leistungen, die ich seit langem gesehen habe.

9/10.

 

Presko

Don Quijote des Forums
Und weiter gehts mit Anthony Hopkins als warmherziger Grossvater, mit einem aufwühlenden Drama über staatliche Zwangsmassnahmen gegenüber Frauen im Dänemark der 1930er Jahre. Wir haben chaotische Familienverhältnisse; einen Film, der am Toronto Filmfestival mit dem Changemaker Award für sein Porträt einer jungen Transfrau ausgezeichnet wurde und last but not least nochmal einen Blick nach Spanien und dortige Klassenkonflikte.

UNRULY / USTYRLIG​

Kopenhagen,1933. Maren ist eine 17-jährige junge Frau, rebellisch und lebenslustig. Als Tochter einer alleinerziehenden Mutter mit vier Kindern lebt sie in ärmlichen Verhältnissen und arbeitet als Fabriknäherin. Abends geht sie tanzen, trinkt und flirtet auch gerne mit Männern. Doch diese Seite ihres Lebens gerät immer mehr in Konflikt mit den rigiden Moralvorstellungen, die im Kopenhagen der 40er Jahre vorherrschen. Nachdem sie ihren Job in der Fabrik verloren hat und mehrere Tage von zu Hause weg bleibt, nimmt sich die Kinderfürsorge ihres Falles ein. Maren wird als moralisch schwaches Mädchen daraufhin in ein Fraueninstitut auf der Insel Sprogø eingewiesen. Dort soll sich Sørine, die bereits seit zwei Jahren auf Sprogø institutionalisiert ist und als Musterinsassin gilt, um sie kümmern. Die beiden jungen Frauen freunden sich an, obwohl Sørine mit Misstrauen beobachtet, wie sich Maren die auf Sprogø herrschenden Regeln stellt und auch andere Mädchen aufzustacheln versucht.

Filme über die Repression und Misshandlungen innerhalb staatlicher oder manchmal auch kirchlicher Institutionen wie Erziehungsanstalten, Psychiatrien etc. sind zahlreich. Bekanntester Vertreter dieser Gattung Film ist wahrscheinlich „Eine flog übers Kuckucksnest“. Unruly nimmt sich nun den staatlichen Zwangsmassnahmen an, die insbesondere in den 40er Jahren aufkamen. Auch bspw. in der Schweiz ist die Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen grosses Thema und war gerade in den letzten rund 10 Jahren Thema vieler historischer Arbeiten, aber auch gesellschaftlich-politischer Aufarbeitung.

Unruly schafft von Beginn weg eine trostlose Atmosphäre. Ist es zu Beginn noch die soziale Armut, die das Leben wenig erquicklich erscheinen lässt, so ist es später die Maschinerie institutionalisierter Zwangsmassnahmen mit den darin inhärenten Vorstellungen moralischer Reinheit, welche einen nach Luft ringen lassen.

Erzählerisch läuft die Geschichte in der ersten Filmhälfte die aus ähnlichen Stoffen bekannten Stationen ab. Zuerst rebelliert die Protagonistin gegen die Zwänge, dadurch ruft sie bei der Gegenseite umso härtere Gegenmassnahmen hervor, an denen sie schlussendlich zu zerbrechen droht.

Die grosse Stärke von Unruly ist dabei, dass der Film alle seine Figuren ernst nimmt, auch jenen mit Respekt begegnet, deren Verhalten aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehbar erscheint, wie etwa der Leiterin des Frauenheims oder des Arztes, welcher die Frauen einweist sich für später angewandte Sterilisationsmassnahmen verantwortlich zeichnet. Der Film tritt nicht in die Falle, diese als sadistische, empathielose Bösewichter zu zeichnen, sondern als Personen, die aus ihrer Sicht meinen, zu helfen und mit durchaus empathisch an den oft tragischen Schicksalen der Frauen teilhaben. Das bedeutet nun nicht, dass der Film gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Betroffenen wäre. Das Gesehene macht einen wütend und mehr als einmal würde man am liebsten von seinem Kinosessel aufspringen und aufschreien.

Der Film kommt generell eher ruhig, wenig dramatisierend und dafür umso realistischer daher. Dazu tragen neben der guten Regie und Kameraarbeit natürlich auch die grossartigen darstellerischen Leistungen bei.

Ebenfalls erwähnenswert ist der ab und an irgendwie entrückt daherkommende Soundtrack, welcher wiederum insbesondere die Trostlosigkeit des Ganzen immer wieder unterstreicht.

Malou Reymanns Film ist, obwohl er von der Vergangenheit handelt, hochaktuell und wühlt auf, ohne unnötig zu moralisieren.

8.5/10


SOMETHING YOU SAID LAST NIGHT

Ren und ihre italo-kandischen Eltern und ihre Schwester Siena machen ein paar Tage Strandurlaub. Ren ist eine Transfrau Mitte zwanzig, und ein wenig das schwarze Schaf der Familie. Erst gerade hat sie ihren Job verloren und ist finanziell deswegen von ihren Eltern abhängig. Ihre Mutter versucht Ren so gut es geht zu unterstützen und von allem Unheil, das ihr drohen könnte zu beschützen, was Ren oft einfach auch zu viel wird. Während sich Ren in der Ferienanlage unter dne Blicken der anderen Gäste nicht sonderlich wohl fühlt und am liebsten ihre Zeit entweder am Handy oder mit ihrer Schwester verbringt, lächelt sich Siena schon nach dem ersten Tag einen hübschen Jungen an, mit dem sie fortan umherzieht. Doch auch Ren lernt einen Mann kennen, der sich für sie zu interessieren scheint. Als sie nach einem Streit mit Siena, ihrer Mutter erzählt, dass diese vorhat, die Schule hinzuschmeissen, kommt es zum grossen Familienkrach.

Die grosse Stärke von Luis de Filippis Festivalhit hat seine grosse Stärke in seinem frisch aufspielenden Ensemble und der grossen Natürlichkeit, mit der das alles inszeniert wurde. Das gilt insbesondere auch für die Darstellung von Ren. Sie wird eben nicht wie so oft üblich auf ihre Transidentität und die damit einhergehenden Probleme reduziert, es geht auch nicht um ihr Coming-out. Obwohl es natürlich implizit Thema in der Familie ist, wird es gar nie ausgesprochen thematisiert. Ren ist es einfach. Schön auch, wie der Film dabei ihren widersprüchlichen Wunsch einerseits nach Unabhängigkeit, aber zugleich auch danach umsorgt zu werden, thematisiert.

7.5/10


ARMAGEDDON TIME

Paul (Banks Repeta) ist ein Junge, der seinen Kopf in den Wolken hat, wie es sein Vater an einer Stelle im Film beschreibt. Er möchte nämlich Künstler werden. In der Schule lernt Paul den Afroamerikaner Johnny (Jaylin Webb) kennen, einen kleinen Rebellen, der in der Schule gerne für Ärger sorgt.

Während zuhause in seiner jüdischen Familie viel Chaos vorherrscht, er sich dauernd mit seinem Bruder streitet und sein cholerischer Vater auch schon mal heftig Prügel verteilt, ist es sein Grossvater (Anthony Hopkins) mütterlicherseits, zu dem Paul die engste Beziehung hat.

Nachdem die beiden eines Tages mit einem Joint erwischt wurden, entscheiden sich Pauls Eltern (Anne Hathaway und Jeremy Strong), den Jungen gegen seinen Willen auf dieselbe Privatschule zu schicken, auf die auch sein grosser Bruder geht, und die unter anderem von der Familie Trump finanziert wird. Gleichzeitig untersagen sie ihm jeden weiteren Kontakt zu Johnny. Dort wird er auch das erste Mal mit einem stark ausgeprägten Rassismus gegenüber Afroamerikaner:innen konfrontiert. Johnny derweil versteckt sich im Schuppen bei Paul zuhause, weil das Jugendamt nach ihm sucht. Paul fühlt sich in der Folge hin- und hergerissen, zwischen dem Wunsch in der Privatschule dazugehören zu wollen, und dem Pflichtgefühl für Johnny einstehen zu müssen.

Erst einmal macht es einfach Freude, Anthony Hopkins in der Rolle des warmherzigen Grossvaters zu sehen. So simpel ist das. Punkt. Aber auch sonst macht James Gray's Coming-of-Age-Drama mit autobiografischen Zügen eine ordentliche Figur. Hoch anzurechnen ist es, wie er seine Figuren durchaus vielschichtig und widersprüchlich zeichnet. So etwa Paul's Eltern, die ihn zweifellos sehr lieben, aber gleichsam auch erschreckend brutale Seiten an den Tag legen können. Dasselbe gilt für Paul selbst genauso. Er ist nicht einfach der Held, der von Anfang an das Richtige tut, und voller Zivilcourage gegen Rassismus aufsteht und seinen Freund verteidigt. Gray macht es sich und den Zuschauern hier glücklicherweise nicht zu einfach.

Am Schluss überschlagen sich dann aber etwas zu hastig die Ereignisse und vieles wird etwas zu schnell abgespult, was auf Kosten der emotionalen Wirkung geht.

7.5/10


LIBERTAD

Nora wächst in einer wohlhabenden bourgeoisen spanischen Familie mit eigener kolumbianischen Haushälterin auf, deren Tochter lernt Nora eines Sommers kennen, als sie alle gemeinsam Ferien an der Costa Brava machen. Libertad hatte bisher bei ihrer Grossmutter gelebt. Doch nachdem diese gestorben ist, soll sie nun bei ihrer Mutter bleiben.

Da Nora in dem Ferienort sonst keine Freundinnen hat und ihre kleinen Schwestern sie etwas langweilen, fängt sie an um Libertads Aufmerksamkeit zu buhlen. Anfangs noch ablehnend, lässt sich Libertad irgendwann auf die Tochter der reichen Familie, bei der ihre Mutter Dienstmädchen ist, ein. Es entwickelt sich so etwas wie eine Freundschaft zwischen den gegensätzlichen Mädchen. Doch bald schon sorgt sich Noras Mutter um den schlechten Einfluss, den Libertad auf ihre Nora haben könnte. Gleichzeitig beobachtet Nora eines Abends, wie ihre Mutter mit einem fremden Mann rummacht. Hinzu kommen noch die zunehmenden Schwierigkeiten mit Nora's an Alzheimer erkrankten Grossmutter. Und wäre das nicht schon genug, plant Libertad auch, auszubüchsen und auf eigene Faust noch nach Kolumbien zurückzukehren.

Libertad ist ein hübsches, ruhiges Drama über Freundschaft und Klassenwidersprüche innerhalb der spanischen Gesellschaft. Allerdings verzettelt sich der Film selbst in zu vielen Konflikten und lässt dem eigentlichen Kern, der Freundschaft zwischen Nora und Libertad zu wenig Raum, um sich so richtig zu entfalten.

7/10

 

Presko

Don Quijote des Forums
Nach „Call me by your Name“ haben sich erneut Tomothy Chalamet und der Regisseur Luca Guadagnino zusammengetan und mir den grössten WTF-Moment des Festivals beschert. Es gab rätselhaften koreanischen Mysteriehorror für Geduldige. Dann ein fesselnder Gerichtsthriller nach Hollywoodrezeptbuch und ein Körpertauschexperiment made in Germany.

SEIRE
Für seinen Spielfilmdebüt Seire griff Regisseur Kang Park auf die koreanische Tradition selben Namens zurück, gemäss der Eltern in den ersten 21 Tagen nach der Geburt eines Kindes strikte Regeln zu befolgen haben. Woo-jin und seine Frau sind gerade Eltern geworden und während Woo-jin von solchen Volkssagen nicht viel hält, glaubt seine Frau fest daran. Deswegen ist sie auch besorgt, als ihr Woo-jin erklärt, dass er an den Trauerzeremonien für einen verstorbenen Studienfreund teilnehmen will. Was ihr Woo-jin nicht verrät, es handelt sich dabei nicht um irgendeinen Kollegen sondern um seine Exfreundin Se-young. Und nun nimmt das Unheil seinen Lauf.

Kang Park behandelt die Themen Aberglauben, Elternschaft, Schuld und Sühne in einem ebenso atmosphärischen und rätselhaften wie auch langsam erzählten Horrormystery-Drama, das faszinierend daherkommt und über weite Strecken mit seiner Unberechenbarkeit punktet, aber eben auch einiges an Geduld erfordert.

7/10


ARGENTINA, 1985

"Argentina, 1985" ist im besten Sinne grosses Hollywoodkino aus Spanien und erzählt davon, wie sich der Staatsanwalt Julio Strassera und sein Assistent Luis Moreno Ocampo gemeinsam mit einem jungen, unerfahrenen Anwaltsteam der Aufgabe annimmt, die Verantwortlichen für die Untaten der argentinischen Militärdiktatur zur Rechenschaft ziehen. Innert weniger Monate müssen sie Beweise vorlegen, die belegen, dass die Befehlshaber der Militärjunta die Verantwortung für das Verschwinden, die Folter und Ermordung tausender Menschen tragen. Trotz aller Anfeindungen und Morddrohungen geben Strassera und sein Team nicht auf. Ihre Arbeit mündet schliesslich in einem historisch bedeutenden Prozess, bei dem sich die Befehlshaber einer früheren Diktatur zum ersten Mal vor einem zivilen Gericht verantworten mussten.

Regisseur Santiago Mitre ist mit Ricardo Darin in der Hauptrolle ein fesselnder Justizthriller gelungen ganz in der Tradition grosser Grenrevorbilder aus Hollywood. Hier stimmt einfach alles. Figurenzeichnung (trotz grossem Ensemble), das Vermitteln eines Gefühls für die Zeitperiode und den historischen Kontext, Tragik, Spannung und auch noch Humor. Ja, wenn man dem Film was vorwerfen will, dann vielleicht, dass er sowohl in Inszenierung und Storyaufbau sehr konventionell daherkommt. Hier wird nix dem Zufall überlassen, fast so als hätte man sich fast stoisch an das Handbuch „Wie mache ich grosses Hollywodkino“ gehalten. Inklusive dem kleinen Schuss Pathos zu viel im Finale. Dennoch ist der Film einfach unheimlich packend, von Beginn bis zu Ende. Und, wenn einige der Opfer der Junta in einer längeren Szenenfolge schildern, was ihnen angetan worden ist, dann ist das echt beklemmend.

9/10


AUS MEINER HAUT

Deutsche Filme haben auch bei uns hier im Forum, wenn ich das richtig überblicke, nicht den besten Stand. Ob „Aus meiner Haut“ von Alex Schaad daran etwas ändern kann? Ich würd nicht darauf wetten. Aber einen Blick ist der Film auf jeden Fall wert.

Die Prämisse jedenfalls ist schon mal enorm vielversprechend. Da gibt es nämlich eine Insel, wo Menschen hinfahren können, um für einen gewissen Zeitraum den Körper mit jemand anderem zu tauschen. Und genau das haben das Päärchen Leyla und Tristan vor. Per Losverfahren werden sie auserkoren, das Körpertauschexperiment mit einem anderen jungen Pärchen, nämlich mit Fabienne und Mo durchzuführen. Alles läuft soweit ganz gut. Während Tristan die Erfahrung, im Körper des überdrehten Machotypen Mo zu stecken, eher als ungemütlich empfindet, blüht die zuvor von Depressionen geplagte Leyla in Fabienne's Körper richtiggehend auf. Als Tristan entscheidet, das Experiment abzubrechen, was auch das abrupte Ende für Leyla's Körpertausch bedeutet, kommt es zum grossen Konflikt. Denn Leyla ist nicht mehr bereit, das von depressiven Gefühlen geprägte Innenleben in ihrem alten Körper weiter zu ertragen. Sie findet schliesslich einen anderen Inselbewohner, der bereit ist, mit ihr zu tauschen, doch was hat Tristan dazu zu sagen?

Der Irgendwo zwischen psychologischem Drama und Tragikomödie verortete Film von Alex Schaad, den er mit seinem Bruder Dimitrij Schaad geschrieben hat, holt leider nicht genug aus seiner Prämisse heraus. Anstatt in die Tiefe der seelischen Folgen vorzudringen, gibt er sich zu lange mit Sex- und Beziehungsallerlei ab. Dazu kommen dann noch unnötige Komödieneinschübe. Auch wagt er sich nie so recht, ins Absurde und Bizarre hinein, das ja der Stoff durchaus hergeben würde. Ich hab mir die ganze Zeit gewünscht, der Film würde ein wenig in Richtung eines Giorgos Lanthimos gehen, was aber einfach nicht passierte. Und lustigerweise endet der Film dann auch genau da, wo ich eigentlich dachte, so, jetzt wird es erst richtig spannend. Aber eben, da ist dann Schluss. Schade.

6.5/10


BONES AND ALL

Ich, ohne Vorwissen im Kinosessel, nach den ersten ca. zehn Minuten: „What the Fuck!?“
Wer das auch so erleben möchte, sollte besser hier aufhören zu lesen und auch sonst auf alle Infos über den Filminhalt verzichten.

Mara ist eine junge Aussenseiterin, die von einer Schulfreundin dazu eingeladen wird, mit anderen Freundinnen bei ihr zu übernachten. Da sie davon ausgeht, ihr alleinerziehender Vater würde es ihr nicht erlauben, schleicht sich Mara (Taylor Russel) deswegen nachts heimlich aus dem Haus. Bei ihrer Freundin scheint es auch erst noch ganz nett zu sein. Die beiden jungen Frauen liegen nebeneinander am Boden und unterhalten sich. Da zeigt ihr die Freundin plötzlich ihre frisch lackierten Fingernägel (was junge Frauen eben so tun:hae:) und Mara schnappt urplötzlich nach einem der Finger und reisst wie ein wildes Raubtier das Fleisch vom Fingerknochen.

Kurz darauf packen Vater und Tochter ihre Sachen und fliehen. Wie wir erfahren hat Mara seit ihrer Kindheit diesen tiefen Drang nach Menschenfleisch, den sie manchmal nicht kontrollieren kann. Nach dem jüngsten Vorfall, haut nun auch noch der Vater ab und hinterlässt ihr eine Tonbandkassette mit einer Abschiedsnachricht von sich. Nun macht sich Mara alleine auf die Suche nach ihrer Mutter, die sie nie kennen gelernt hat. Auf ihrer Reise quer durch die USA findet Mara heraus, dass es mehr Leute wie sie gibt. Einer davon ist Lee (Timothée Chalamet), ein junger Herumtreiber, der regelmässig seinen Hunger stillt, in dem er unsympathische Leute umbringt und auffrisst. Er hilft Mara, ihre Mutter zu finden. Und schliesslich verlieben sich die beiden natürlich. Doch ihre Beziehung birgt einiges an Konfliktpotenzial. So verabscheut Mara das Töten Unschuldiger, während sich Lee längst damit abgefunden, dass es für Menschen wie sie keinen anderen Weg gibt um zu überleben.

Nach dem grossen Erfolg von „Call me by your Name“ arbeiten Timothy Chalamet und der Regisseur Luca Guadagnino hier erneut zusammen.
Visuell, ästhetisch und vom Soundtrack her ist das ganz grosses Kino. Da lehnt man sich gerne zurück und schwelgt in den Bildern. Was Story und Charaktere anbelangt, da hängt es wahrscheinlich stark davon ab, wieweit man die Prämisse akzeptiert bzw. den hybriden Charakter von Indiedrama und Menschenfresser-Horror mag. Für mich ging das nicht immer so gut zusammen. Manchmal fand ich es fast schon unfreiwillig komisch, gerade auch, wenn sie in ernsten Gesprächen einander von ihren Bluttaten erzählen, die natürlich immer besonders eklig und traumatsisierend sind oder wenn am Ende der sterbende Lee Mara anfleht, sie solle ihn essen.

Ein weiteres Problem hatte ich mit Mara's Charakterisierung (Es folgen leichte Spoiler).
Einerseits betont sie immer wieder, niemanden verletzen zu wollen und dann in der nächsten Szene ist sie plötzlich recht lapidar dabei, wenn es ums Nahrung heranschaffen geht. Es wird auch gar nicht gross versucht, nach Alternativen oder einer möglichen Heilung zu suchen.

Ich glaube aber, hier im Forum könnte der insgesamt sehr gut ankommen.

7.5/10

 

brawl 56

Ich bin auf 13 Sternen zum Tode verurteilt!
Auf Bones and All bin ich auch tierisch gespannt. Hatte bei Collider ne Preview gelesen, das klang alles absolut irre.
Hab ein wenig durch deine Schilderung gelesen und das Interesse ist weiter gestiegen!
 

Presko

Don Quijote des Forums
Heute gleich mal mehrere meiner Festivalhighlights. In Banshee of Inisherin kündigt Brenda Gleeson Colin Farrell die Freundschaft und versucht seiner Existenz mehr Sinn zu verleihen. Léa Seydoux stellt nach James Bond's Ende in "One Fine Morning" unter Beweis, was für eine grossartige Schauspielerin sie eigentlich ist. Und mit "The Ordinaries" kommt eine ganz verblüffende Ode an den Film aus Deutschland ins Kino. Und dann noch eine dringende Empfehlung mit "Cinco Lobitos", einem lebensnahen, zugleich brüllend komischen wie an manchen Stellen tieftraurigen spanischen Film über Familie, über Kinder und ihre Eltern.

BANSHEE OF INISHERIN

Martin McDonagh hat mit Banshee of Inisherin bei mir den Status als einer meiner derzeitigen Lieblingsregisseure nochmal bestätigt. Das ist ein durch die Bank stimmiger Mix aus Folk-Parabel, philosophisch angehauchter Tragödie und bitterschwarzer, teils derber Komödie.

Zum zweiten Mal mehr arbeitete er dafür mit dem Duo Colin Farrell und Brendan Gleeson zusammen. Colin Farrels Figur des etwas naiven, gutmütigen Pádraic, der allein mit seiner Schwester und einem Esel in einer kleinen Hütte lebt, erinnert dabei stark an Farrels Charakter aus 7 Psychos, nun einfach in einem ganz anderen Setting. Nämlich auf einer abgelegenen Insel im Irland des Jahres 1923. Der Ausgangspunkt für die Geschichte ist dabei so einfach wie interessant. Wie jeden Tag will Pádraic seinen Freund Colm zum 14-Uhr-Drink im örtlichen Pub abholen. Doch Colm hat keine Lust. Kurz darauf kündigt er Pádraic scheinbar grundlos die Freundschaft.
Dieser scheinbar unspektakuläre Vorgang setzt eine Reihe von Ereignissen in Gang, die zu einer immer weiter foranschreitenden Eskalation führen. Denn Pádraic kann sich mit dem Verlust seines einzigen Freundes nicht abfinden.

Visuell profitiert der Film natürlich unheimlich von der irischen Landschaft und weiss, diese in Szene zu setzen. Schauspielerisch ist das eh ganz grosses Kino. Ich meine, Farrel und Gleeson sind einfach ne sichere Bank, aber auch die restlichen Rollen sind perfekt besetzt. Das eigentliche Highlight ist aber die clevere Geschichte, die aus eigentlich so wenig enorm viel rauszuholen weiss. Da gehts um ganz existenzialistische Fragestellungen, um Freundschaft und Einsamkeit und die Natur des Menschen.

Warum ich dem Film dennoch nur eine 9 Punkte gebe? Nun, das Ende hat mich nicht gänzlich befriedigt zurückgelassen: Irgendwie hat mich dann am Schluss doch alles irgendwie recht kalt gelassen. Rückblickend fehlt mir das Herz in der Geschichte. Zudem dominiert am Ende ein recht zynisches Menschen- und Weltbild und drückt dem Film seinen Stempel aufdrückt, was auf Kosten der eher sanften und empathischen Aspekte geht, die dem Film davor durchaus auch zu eigen waren. Ein weiterer kleiner Kritikpunkt ist für mich, dass die zunehmende Eskalation des Geschehens gegen Ende innerhalb der Geschichte nicht mehr ganz so gut begründet ist und somit schwerer nachvollziehbar erscheint. Aber trotzdem ist das grosses Kino, das auch im vollen Kinosaal mit anderen Leuten genossen werden will.

9/10


UN BEAU MATIN (ONE FINE MORNING)

Léa Seydoux spielt die alleinerziehende Mutter und Dolmetscherin Sandra, die unter der voranschreitenden Demenz ihres Vaters Georg, einem ehemaligen Philosophieprofessor, leidet. Sie besucht ihn regelmässig, doch sein geistiger Verfall geht unaufhaltsam weiter, bis es keine Alternative mehr gibt, als ihn in externe Pflege zu geben. Die Suche nach einem geeigneten Pflegeplatz, wo es freie Plätze gibt, eine anständige Betreuung gewährleistet wird und der für die Angehörigen bezahlbar ist, gestaltet sich schwierig.
Sandra's Leben wird nicht leichter, als sie eine Affäre mit dem verheirateten Clément beginnt und sich in ihn verliebt.

Ich muss sagen, bisher habe ich Léa Seydoux eher als mässige Schauspielerin wahrgenommen, doch im Film von Mia Hansen-Løve hat sich mich mit ihrem sehr nuancierten Spiel sehr beeindruckt. Stark, doch auch verletzlich, selbstbewusst, aber auch unsicher. Insbesondere die Szenen zwischen ihr und ihrem Vater (Pascal Greggory) sind enorm feinfühlig inszeniert und gehen zu Herzen, gerade auch wenn man selber Erfahrungen mit schwer pflegebedürftigen Angehörigen gemacht hat. Der Film transportiert eindrücklich die Hilflosigkeit und Überforderung und auch die Schuldgefühle, welche Angehörige in solch einer Situation aushalten müssen.
Dass das alles zudem sehr ruhig und unprätentiös daherkommt, macht den Film umso sympathischer.

8/10


THE ORDINARIES

Und nochmal was aus Deutschland und zwar was echt Besonderes. Das ist der Abschlussfilm der Regisseurin Sophie Linnenbaum an der Hochschule, wo sie Regie studiert hat. Und das ist echt crazy, denn das ist ein Film, der zeitweise wirklich fantastisch ausschaut. Und auch, wenn der Film nicht perfekt ist und sicher auch seine Macken hat, ist er gerade für Filmnerds eigentlich ein muss. Denn das ist eine echte Liebeserklärung ans Kino und an Filme.

Die Geschichte spielt in einer Dystopie, in gewisser Weise nicht unähnlich den Welten von 1984, Fahrenheit, Equilibrium oder Brazil, nur ist es hier eine Art Filmrealität. Das heisst, die Unterscheidung von gesellschaftlichen Klassen geht nicht entlang des Einkommens oder einer Rassenzugehörigkeit, hier wird zwischen Haupt- , Nebenfiguren und Filmfehlern bzw. Outtakes (die unterste Gesellschaftsschicht) unterschieden. Das Leben ist eine Storyline und Erinnerungen sind Flashbacks.
Paula ist die Tochter einer Nebendarstellerin, besucht aber die Schule für Hauptfiguren, wo sie kurz vor ihrer Abschlussprüfung steht. Ihre grösste Schwierigkeit besteht darin, emotionale Musik für ihren Monolog zu erzeugen. Sie macht sich deswegen auf die Suche nach Flashbacks ihres verstorbenen Vaters, eines ganz grossen Hauptdarstellers, wie ihr ihre Mutter erzählt hat. Doch im Archiv findet sie nichts über ihn. Ein Outtake meint ihr dabei helfen zu können, mehr über ihren Vater herausfinden zu können, doch dafür müssen sie in die Viertel der Outtakes reisen, wo Paula noch nie gewesen ist, und wo es gefährlich sein soll.

So ist ein dystopisches Metafilmmärchen entstanden, das wirklich unheimlich sympathisch ist und prall gefüllt ist mit originellen Ideen und Anspielungen. Nicht jede Idee zündet und manches wirkt auch ein wenig plump, aber meistens rettet sich der Film dann gleich wieder mit einem gelungenen Einfall.
An einigen Stellen merkt man dann auch das fehlende Budget, aber dafür sieht das Ganze insgesamt schon wahnsinnig hochwertig aus. Die junge Hauptdarstellerin, Fine Sendel, macht ihre Sache gut, übertreibt es manchmal aber auch etwas mit ihrem kindlich-naiven Blick. Storymässig erfindet der Film das Rad nicht neu. Will er aber auch nicht. Der Film folgt ganz bewusst den Plotlinien bekannter Vorbilder des dystopischen Kino's.

Das Finale gerät dann etwas arg pathetisch und übertreibt es ein bisschen. Aber am Ende verzeih ich so einem Film gerne ein paar Schwächen. Ich war, bin echt beeindruckt.

7.5/10


Cinco Lobitos (Lullaby)

Nachdem ihre neugeborene Tochter eines Abends vom Sofa gefallen ist, macht sich die sowieso schon heillos überforderte junge Mutter Amaia schwere Vorwürfe. Auf die Hilfe ihres Mann's Javi kann sie nicht zählen, da der berufsbedingt für eine Weile verreisen musste. Schliesslich bleibt Amaia nichts anderes übrig, als das Angebot ihrer Eltern anzunehmen und mit ihrer Tochter für eine Weile zu ihnen an die baskische Küste zu fahren.

Dank der Unterstützung ihrer etwas kratzbürstigen Mutter und ihres leicht zerstreuten Papa's kommt Amaia schnell wieder auf die Beine, bleibt vorerst aber bei ihren Eltern. Aus der Nähe muss sie erkennen, wie gegenseitige Verletzungen und Enttäuschungen über die Jahre hinweg Spuren in der Ehe der beiden Eltern hinterlassen haben, was in ihr Fragen bezüglich ihrer eigenen noch jungen Ehe aufwirft.

Als dann nach einigen Wochen plötzlich ihre Mutter schwer erkrankt, kommt es zum Rollenwechsel. Nun ist es Amaia, die ihren Eltern helfen muss, mit der schweren Situation zurechtzukommen.

Mit grosser Leichtigkeit, einem unverschämt sympathisch aufspielenden Cast und viel Herzenswärme erzählt Alauda Ruiz de Azúa eine universelle Geschichte von Eltern und Kindern und den gegenseitigen Abhängigkeiten; von Verbundenheit und Ablösung, von Liebe, Wut, Enttäuschung und Trauer. Eine richtige Tragikomödie in dem Sinne, dass sich Humor und Tragik wie im echten Leben ständig die Hand reichen. Obwohl die Geschichte nicht wahnsinnig originel list, wirkt das Resultat frisch und einfach unheimlich lebensnah.

9/10

 

Presko

Don Quijote des Forums
Das Festival ist zwar de facto vorbei für dieses Jahr, dennoch müssen hier noch ein paar Filme Erwähnung finden, sei es nur meiner eigenen Psychohygiene zuliebe. So etwa Rertrograde ein verstörender Blick auf das Ende des amerikanischen Afghanistaneinsatzes. Nicht minder fantastisch ist der Dokumentarfilm All The Beauty And The Bloodshed über die politisch engagierte Fotografin Nan Goldin und ihre tragische Familiengeschichte. Etwas schwerer fällt die Einordnung des Dramas Retour a Seoul. Und wer gerne mal wissen will, wie es wohl ist, wenn man Geräusche nur noch zeitverzögert wahrnimmt, soll sich den spanischen Film Out of Sync auf die Watchlist setzen.

RETOUR A SEOUL

Die junge Freddie reist von Frankreich nach Südkorea, in das Land, in welchem sie vor 25 Jahren geboren wurde, bevor sie ihre französischen Eltern adoptierten. Ohne ein Wort koreanisch zu sprechen setzt sie sich mit dem Institut in Verbindung, das für ihre Adoption zuständig war und wo man in ihrem Namen eine Kontaktanfrage an ihre biologischen Eltern sendet. Während ihr Vater sofort antwortet und eine Begegnung wünscht, antwortet ihre Mutter nicht. Die Begegnung mit ihrem von Schuldgefühlen geplagten Vater wird für Freddie zu einem Desaster. Anstatt nach Frankreich zurückzukehren lebt Freddie eine Weile lang in Seoul, lernt dabei verschiedene Menschen, wie einen international tätigen Waffenhändler kennen, für den sie später zu arbeiten beginnt.
Erst viele Jahre später meldet sich ihre biologische Mutter und zeigt sich für ein Treffen mit ihrer Tochter offen.

Ein merkwürdiger Film. Er beginnt wie ein relativ gewöhnliches Drama entwickelt sich dann aber in ganz eigener, fast schon antiklimatischer Art und Weise. Die Hauptfigur Freddie, eine zwischen Lebensfreude und Verbitterung hin und her gerissene selbstbewusste junge Frau macht es mit ihrer Widersprüchlichkeit dem Publikum auch nicht leichter, Zugang zu finden. Dazu kommen noch die Zeitsprünge und schwer greifbare Entwicklungen.
So pendelt der Film zwischen Sperrigkeit, Faszination und sensiblem Coming-of-Age hin- und her und macht eine Einordnung und Bewertung eher schwer.

7/10


ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED

Kunst, Subkultur und Aidspandemie, Familientragödie und Zivilcourage sind Schlüsselbegriffe, die für mich den grossartigen Dokumentarfilm von Oscarpreisträgerin Laura Poitras über die Fotografin Nan Goldin am besten zusammenfassen.

Laura Poitras begleitet Nan Goldin bei ihrem Kampf gegen die steinreiche Pharmadynastie Sackler, welche für die amerikanische Opioid-Epidemie mitverantwortlich ist. Allen, die Dopesick gesehen haben, dürfte die Familie bereits ein Begriff sein. Goldin war selbst über das durch Purdue Pharma vertriebene Schmerzmittel schwer abhängig geworden und setzt sich nun dafür ein, dass Museen auf der ganzen Welt aufhören, Sackler-Spenden entgegenzunehmen und von ihnen gestiftete Ausstellungen zu führen.

Gleichzeitig erzählt der Film mittels altem Film- und Fotomaterial Nan Goldin's Werdegang und bietet einen hochinteressanten Blick in die amerikanische Subkultur der 70er und 80er Jahre, als auf die Aids-Pandemie und den damaligen gesellschaftlichen Diskurs. Und zuletzt ergründet der Film auch noch die tragische Familiengeschichte der Goldin's und die Gründe für den Suizid von Nan Goldin's älterer Schwester.

Das Resultat ist ein ganz fantastischer Film, dem es gelingt all diesen Aspekten gleichsam gerecht zu werden und dadurch ein ebenso tragisches wie ermutigendes Porträt einer starken und engagierten Künstlerin, ihrer Zeit und ihres Lebens zu zeichnen.

9.5/10


OUT OF SYNC

Die Sounddesignerin C. leidet unter einem mysteriösen Krankheitsbild. Seit einer Weile nimmt sie nämlich Geräusche nur noch zeitverzögert war. Was als kurze, zeitlich beschränkte Phasen beginnt, entwickelt sich zu einem anhaltenden Zustand. Bald sind es auch nicht mehr bloss 1-2 Sekunden Verzögerung, sondern bis zu über einer Minute, die es dauert, bis sie Geräusche wahrnimmt. Das führt soweit, dass sie nicht nur ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen kann, sondern auch soziale Interaktionen fast unmöglich sind.

Als ihre Mutter unerwartet ums Leben kommt, nimmt die Asynchronität bald noch verrücktere Züge an. Die Suche nach den Gründen für ihren Zustand führt C. weit in ihre Vergangenheit zurück.

Out of Sync ist weniger Thriller (als den ihn das ZFF anpries) als eher Mystery-Drama mit übersinnlichem Einschlag. Regisseur Juanjo Giménez Peña weiss den Zustand seiner Hauptfigur effektiv umzusetzen und so den Zuschauenden ein zeitweise faszinierendes akustisches Filmerlebnis zu bieten. Leider trägt die Prämisse nicht über die gesamte Laufzeit und darüber hinaus weiss der Film wenig zu erzählen. Weder sind die Hauptfigur noch ihre späteren Entdeckungen dazu genug spannend oder emotional bewegend.

6/10


RETROGRADE

Matthew Heineman bekam noch vor dem Entscheid des US-Präsidenten Joe Biden, die amerikanischen Soldaten aus Afghanistan abzuziehen, die Erlaubnis ein Einheit der Green Berets in Afghanistan zu begleiten. Dann kam der Entscheid zum Abzug und der Dokumentarfilm nahm mit einem Mal eine ganz andere Richtung. So begleitet Heineman im ersten Filmdrittel die US-Truppen dabei, wie sie die letzten Truppenübungen mit afghanischen Soldaten abhalten, ihre Basis auflösen, Dokumente und Material, das sie nicht in die USA bringen können, vernichten und wie sie sich schliesslich schweren Herzens von ihren afghanischen Kollegen verabschieden.

Danach folgt der Film dem afghanischen General Sayed Sami Sadat, der nun dafür verantwortlich ist, sein Land gegen die angreifenden Taliban zu verteidigen. Von Anfang zeigt sich dabei das afghanische Militär unter dem Ansturm der Taliban ohne die Hilfe der Amerikaner heillos überfordert. Im Finale des Films sehen wir dann, wie Zivilisten nach dem Fall der afghanischen Regierung den Flugplatz von Kabul stürmen und verzweifelt versuchen, in eines der US-Flugzeuge zu gelangen, welche das Land endgültig verlassen. Die Kamera mittendrin. Es sind verstörende Bilder, die noch lange nachhallen.

Retrograde ist ein wirklich extrem eindrückliches Zeugnis dieses letzten Kapitels des amerikanischen Afghanistaneinsatzes und seiner militärischen Folgen. Heinemann und seine Leute gehen hier den ganzen Weg und folgen Sami Sadat auch in äusserst gefährliche Situationen. So sitzen „wir“ sozusagen neben ihm im Fahrzeug auf dem Weg zu einem Aussenposten, als per Funk die Nachricht hereinkommt, ein Selbstmordattentäter sei mit einem mit Sprengstoff beladenen Wagen auf dem Weg, um Sami Sadat abzufangen. Und wenige Sekunden später hören „wir“ aus der Distanz eine Explosion und sehen wie Sami später Bilder des explodierten Fahrzeugs und der Leichenteile durchgeht, welche von den erfolglosen Selbstmordattentätern übrig geblieben sind.

Was man dem Film anlasten kann, ist, dass er sich ganz auf diese militärische Perspektive fokussiert und alles andere aussen vorlässt. Frauen etwa spielen keine Rolle in dem Film. Es ist eine reine Männerwelt, die hier gezeigt wird. Der Afghanistaneinsatz, Sinn oder Unsinn der Militärintervention oder auch die Verbrechen von Seiten der Soldaten werden nie thematisiert. Gerade wenn wir zu Beginn einen Drohneneinsatz gegen eine Gruppe Taliban mitbekommen, wünschte man sich vielleicht schon auch, einen etwas kritischeren Blick auf das Geschehen, als es uns Heineman hier bietet. Auch wenn ein Green Beret einen afghanischen Soldaten darüber belehrt, immer sicher zu gehen, keine Zivilisten zu töten, weil man mit unnötigem Gewalteinsatz nur zukünftige Taliban „produziere“, wirkt es irgendwie schon fast zynisch in Anbetracht dessen, was die USA in ihren Einsätzen so angerichtet haben. Gleichsam wirkt die Verzweiflung der amerikanischen Soldaten, ihre afghanischen Kollegen zurücklassen zu müssen, im Wissen, dass sie auf lange Sicht kaum eine Chance haben werden, durchaus sehr glaubwürdig.

So oder so ist Retrograde einfach brutal eindrücklich, solange man sich immer bewusst ist, dass der Film nur einen bestimmten, durchaus engen Ausschnitt der Geschichte zeigt. Und die bereits erwähnten letzten Minuten auf dem Kabuler Flugplatz sind etwas vom heftigsten, das ich seit langem im Kino gesehen habe. Man fühlt sich danach mitgenommen, machtlos aber auch unglaublich dankbar über das eigene Glück, nicht an einem Ort zu leben, wo Repression, Krieg und Armut herrschen. Jedenfalls ist Retrograde der einzige Film dieses Jahr am ZFF gewesen, wo wirklich niemand Anstalten machte, aus seinem Sessel aufzustehen, bevor der Abspann abgelaufen war.

8.5/10

 

Presko

Don Quijote des Forums
Mit Aftersun will ich Euch noch meinen diesjährigen Lieblingsfilm vorstellen. Ein wunderschönes Vater-Tochter-Drama, das mich insbesondere in einer Szene voll erwischt hat, richtige Filmmagie eben. Dann gabs noch einen interessten und hochaktuellen Dokumentarfilm über einen innerrussischen Justizskandal und ein weiteres iranisches Filmhighlight.


LEILA'S BROTHERS

Hab ich eigentlich schon mal erwähnt, wie fantastisch iranisches Kino ist? Kann man eigentlich auch gar nicht oft genug betonen. Und ja, Leila's Brothers ist anders, als einige der anderen iranischen Filme, die mich so begeistert haben, und anfangs hatte ich auch etwas Mühe reinzukommen, aber schlussendlich ist das erneut ganz grosses, hoch relevantes, intelligentes, wütendes Kino mit unerwartet hohem Komödienanteil.

Leila lebt mit 40 Jahren noch immer bei ihren beiden Eltern. Ihre Familie kämpft mit Armut, ihre vier Brüder sind allesamt arbeitslos. Um der Armut zu entkommen, versucht Leila ihre Brüder zu überzeugen, einen der neu geplanten Geschäftsräume im örtlichen Einkaufszentrum zu kaufen und dort ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Doch auf dem Weg zum eigenen Geschäft stellen sich ihr immer wieder neue Hindernisse in den Weg, eines davon ist ihr leicht seniler aber nicht minder sturköpfiger Vater. Schlussendlich stehen Leila und ihre Brüder vor einem moralischen Dilemma: Verraten sie ihren eigenen Vater oder geben sie den Traum vom eigenen Geschäft auf?

Die fast dreistündige Tragikomödie von Saeed Roostaee ist grosses, episches Kino und ein Abgesang auf das iranische Patriarchat. Das Tempo ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig und nicht alles ist für den Nicht-Irankenner immer sofort ganz verständlich, dennoch wird man am Ende das Kino keineswegs enttäuscht verlassen. Eine ebenso bissige Satire wie ein düsteres Gesellschaftsporträt und tragische Familiengeschichte zugleich, welche den iranischen Mullahs nicht besonders gefallen haben dürfte.

8.5/10


AFTERSUN

Vielleicht der schönste Film des Jahres (für mich jedenfalls)! Es geht um den Blick von Kindern auf ihre Eltern. Auf das Vertraute und das Fremde in den eigenen Eltern und dem Versuch einer Versöhnung von beidem.

In ihrem Spielfilmdebüt springt die schottische Regisseurin Charlotte Wells 20 Jahre in die Vergangenheit, als es noch Walkman's und Videorekorder gab, und schickt dort ihre beiden Hauptfiguren, die 11-jährige Sophie (Frankie Corio) und ihren jungen Vater Calum (Paul Mescal) in einen gemeinsamen Urlaub an der türkischen Riviera. Auf den ersten Blick eine harmonische, glückliche Zeit. Vater und Tochter geben ein charmantes Pärchen ab, wie sie liebevoll-neckisch die Tage gemeinsam verbringen. Doch nach und nach deuten sich bei Calum Stimmungsschwankungen an, und lassen Risse in der vordergründigen Harmonie erkennen.

Im weiteren Verlauf springt der Film mehrmals für kurze Sequenzen in die Gegenwart, wo die heutige 30jährige Sophie auf damals zurückblickt, dafür stehen ihr die damals entstandenen Videoaufnahmen zur Verfügung. In einer Art Traumsequenz sehen wir sie immer wieder in einem Club stehen, wo sie ihren Vater beobachtet, wie er mitten im Pulk der anderen Partygäste fast schon berauscht herumtanzt. Es sind nur kurze Sequenzen, die allerdings am Ende des Films in einer einer unheimlich berührenden und grossartig inszenierten, wunderschönen Schlüsselszene zum Song „Under Pressure“ von Queen und David Bowie münden.

Aftersun bietet keine ausgeklügelte Storyline. Eigentlich sind es einfach nur Impressionen aus einem recht unspektakulären Vater-Tochter-Urlaub, die dem Publikum gezeigt werden. Die Regisseurin erklärt nur wenig, und überlässt es dem Publikum selbst, seine Schlüsse aus den Beobachtungen zu ziehen. Auch die Figuren und ihr persönlicher Hintergrund lassen sich nur aus sparsam eingestreuten Hinweisen etwa in Gesprächen erahnen.

Das ZFF-Programmheft beschreibt den Film als ein zärtlich-aufwühlendes Filmerlebnis. Zärtlich auf jeden Fall, ob ich es als „aufwühlend“ beschreiben würde, weiss ich jetzt nicht. Dafür verzichtet die Inszenierung ganz bewusst eigentlich zu sehr auf jegliche Dramatisierung. Was ich aber nicht als Schwäche sondern grosse Stärke ansehen würde.
Zwei Schlüsselszenen haben es mir besonders angetan, beide können als Vorzeigebeispiele dafür dienen, zu was Musik und Film im Zusammenspiel fähig sind. Die eine der beiden ist die oben erwähnte Szene zu Under Pressure.

Natürlich hängt das Funktionieren eines solchen Filmes stark von den darstellerischen Leistungen ab und hier punktet der Film ebenfalls auf ganzer Linie. Die junge Frankie Corio, man hat mehrere hundert Mädchen für die Rolle vorsprechen lassen, überzeugt auf ganzer Linie mit einem sehr authentischen, unaufgeregten und natürlichen Spiel. Aber besonders angetan hat es mir die Leistung von Mescal. Wie er diesen jungen Vater spielt, der zwischen der Liebe zu seiner Tochter und dem inneren (versteckten) Ringen mit Depressionen hin- und hergerissen ist, müsste ihm eigentlich zahlreiche Filmpreise einbringen.

9.5/10



NEW GREATNESS CASE

Russland ist gerade in aller Munde und entsprechend perfekt passt das Timing für den Dokumentarfilm THE NEW GREATNESS CASE, der sich mit dem Kampf gegen das ungerechte russische Regime im eigenen Land auseinandersetzt. Dafür befasst sich der Film mit dem russischen Justizfall rund um die Gruppe „The New Greatness“. Gemäss der russischen Justiz eine extremistische Vereinigung, die einen gewaltsamen Staatscoup plante. Unbestritten entstand die Vereinigung aus einer harmlosen Chat-Gruppe heraus, in der sich Menschen zusammenfanden, die nach Freunden für Gespräche suchten. Doch dann begann sich die Gruppe regelmässig in real life zu treffen, mietete eigene Räumlichkeiten an, die Gesprächsthemen kreisten immer häufiger um russische Politik und soziale Themen, und irgendwann begann man eigene politische Forderungen zu Formulieren.

Als Mitglied der Gruppe wurde in Moskau eines morgens um 5.20 auch die 17-jährige Anya von der russischen Polizei festgenommen. Anyas Mutter kämpft fortan mit der Hilfe anderer Aktivist:innen für die Freilassung ihrer Tochter. Doch ihr Kampf gegen das übermächtige russische System scheint chancenlos.

THE NEW GREATNESS CASE ist ein spannender Blick nach Russland und zeigt ein anderes Bild der russischen Bevölkerung. Nämlich das Bild eines gespaltenen Landes, wo es durchaus ganz viele Menschen gibt, die mutig ihre Stimme gegen das Regime erheben und dabei Risiken für sich selbst in Kauf nehmen.

Inhaltlich und inszenatorisch ist THE NEW GREATNESS CASE nicht über alle Zweifel erhaben. Vielleicht ist das auch etwas dem Fakt geschuldet, wie schwierig es in Russland eben ist, so einen Film zu machen. Doch es tun sich schon einige Fragezeichen auf. Einerseits werden der Fall und das Verfahren selbst nur bedingt nachvollziehbar und umfassend wiedergegeben, genauso wenig seine Wirkung auf die russische Öffentlihckeit. Des Weiteren konzentriert sich zwar der Film auf Anya und ihre Mutter, und da gelingen teilweise durchaus bewegende Momente, dennoch schafft es der Film nur bedingt, dem Publikum die Figuren nahe zu bringen. Was nun die Gruppe The New Greatness Case wirklich war, was von den Anschuldigungen gegen sie nur Staatspropaganda ist und was vielleicht auch durchaus zutraf, bleibt bis zum Ende unklar. Dazu wird noch ein Mysterium um den wichtigsten Zeugen der Staatsanwaltschaft kreiert, das nie so richtig aufgelöst wird. Auch auf eine Einbettung in grössere politische und gesellschaftliche Zusammenhänge verzichtet der Film leider.

So bleibt der Film, obwohl durchaus interessant, leider hinter seinen Möglichkeiten zurück, was schade ist.

7/10

 
Oben