[Monster - XXIX] - "In der Tiefe" - Außer Konkurrenz

Clive77

Serial Watcher
Eine ungewohnte Unruhe machte sich bei Jacques bemerkbar. Seit Tagen waren sie nun schon in den Tiefen des Pazifiks unterwegs und hatten nebenbei eine Vielzahl neuer Spezies ausmachen können, die nie zuvor ein Mensch zu Gesicht bekommen hatte. Für ihn ging gerade ein Traum in Erfüllung. Seit er als Kind auf die Werke von Jules Verne aufmerksam geworden war und diese geradezu verschlungen hatte, stand sein weiterer Werdegang fest. Inzwischen alt geworden - er ging bereits auf die sechzig Lenze zu - war er heute einer der anerkanntesten Meeresbiologen und hatte sich dieses Forschungsprojekt an Land gezogen. Mit der neuesten Technik ausgestattet, war die „Explorer Six“ (zu gerne hätte er dem U-Boot den Namen „Nautilus“ verpasst) fähig, dem gigantischen Druck der Untiefen stand zu halten. Der Trick dabei war ein neuartiger Kunststoff, dessen Härtegrad den nötigen Widerstand lieferte, der Voraussetzung für diese Erkundungstour war und das gesamte Tauchboot umgab. Mehr noch, es war überhaupt kein Problem, Sichtfenster, Kameras und Scheinwerfer damit zu überziehen, ohne die er und die Mannschaft lediglich auf Sonarortung hätten zurückgreifen können und somit nichts von der Welt da draußen wirklich mitbekommen hätten.
Ihre Route führte sie in die Nähe des „Point Nemo“, dem sogenannten Pol der Unzugänglichkeit bei 48° 52’ 31,75’’ südlicher Breite und 123° 23’ 33,07’’ westlicher Länge. Pah, Unzugänglichkeit, dachte Jacques, nun nicht mehr. Nun können wir alles erforschen, was die Ozeane zu verbergen haben. Auf seinem Laptop hatte er bereits zig neue Dateien angelegt, sauber geordnet und mit den kartografischen Daten der Entdeckungen versehen, dokumentiert mit zahlreichen Bildern und kleinen Filmchen und seine einzige Sorge war momentan, wie er die ganzen neuen Arten benennen sollte, die der Pazifik ihm gezeigt hatte.

Plötzlich wurde er durch ein Klopfen aus seinen Gedanken gerissen. „Herein.“, sagte er und sah sich anschließend dem Kapitän gegenüber. René war etwas jünger als Jacques und bot ein großes Maß an Erfahrung mit Tiefseefahrten. Seine berufliche Laufbahn hatte er zum Großteil bei der Marine absolviert und erst kürzlich hatte er seinen Job dort an den Haken gehängt, um dem Schicksal eines Schreibtischtäters zu entgehen. Durch Zufall hatte er von Jacques’ Forschungsprojekt erfahren und sich damit ebenfalls einen Traum erfüllt.
„Ja, bitte?“ - „Jacques? Wir haben da etwas entdeckt, was wir nicht einordnen können.“ - die beiden duzten sich bereits seit ihrer ersten Begegnung. „Ah, was denn?“, fragte Jacques.
„Ich glaube, es ist besser, wenn Du es Dir selbst ansiehst. Wir sind uns nicht sicher. Vielleicht eine Form von Leuchtpflanzen. Wir können einen grünlichen Schimmer durch das Sichtfenster beobachten. Das Komische daran ist nur, nun, es sieht aus als ob sich dort am Meeresgrund eine grünliche Halbkugel befindet.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Jacques beschleunigten Schrittes zum Observationsraum, der sich am Bug des U-Boots befand. Verschiedene Erklärungen spukten dabei durch seinen Kopf. Biolumineszenz war bei vielen Lebewesen der Tiefsee verbreitet und sie hatten bereits einige bekannte und unbekannte Spezies mit dieser Eigenschaft beobachtet. Am beeindruckendsten dabei war nach wie vor ein riesiger Vampirtintenfisch gewesen - das größte Exemplar, was jemals ein Mensch gesehen hatte. Aber in Form einer Halbkugel auf dem Meeresgrund? Er musste selbst einen Blick darauf werfen. Am Sichtfenster angekommen, sah er die Ausmaße der grünlich schimmernden Halbkugel. Sie war riesig.
„Nun?“, fragte René, der Jacques gefolgt war, „was hältst Du davon?“ - „Ich glaube, das ist einen näheren Blick wert. Was sagt das Sonar?“ - „Nichts. Laut Sonar gibt es dort keine Halbkugel. Die einzigen Signale, die wir von dort bekommen, gleichen dem Meeresgrund, wie wir ihn momentan unter uns haben. Ohne das grünliche Schimmern hätten wir keinerlei Anhaltspunkt, dass sich dort etwas befindet.“ - „Hmm, merkwürdig. Warum die geometrische Form? Wenn es sich um die üblichen Verdächtigen handeln würde, sollten wir einen Schwarm oder ähnliches vor uns haben. Aber in Kugelform? René, lass’ uns das aus der Nähe begutachten.“
René schnappte sich das Funkgerät und gab dem Steuermann neue Koordinaten durch. Kurz darauf hielt das U-Boot auf 47° 9' südlicher Breite und 126° 43' westlicher Länge zu - genau auf das Zentrum der Halbkugel. Je näher sie dem grünlichen Schimmer kamen, desto verschwommener wurde die Sicht. Das Sonar lieferte weiterhin keinerlei Anzeichen. Das Schimmern kam näher und näher. Kurz bevor sie in das grüne Geschehen eintauchen würden, gab René den Befehl zum Stopp. Das Sichtfenster war nun ausgefüllt von einer verschwommenen aussehenden grünlichen Masse, die laut Sonar nicht existieren sollte. Leuchtbakterien?, dachte Jacques, das wäre eine Möglichkeit. Zu klein, um vom Sonar erfasst zu werden und je nach Leuchtintensität vielleicht nur verschwommen mit dem menschlichen Auge wahrnehmbar. „René, wir sollten eine Probe davon nehmen.“
Mit Hilfe einer speziellen Schleuse war das Tauchboot in der Lage, Wasserproben während der Fahrt aufzunehmen.
„Bist Du Dir sicher? Wir können nicht sehen, was sich hinter diesem, diesem, äh, Grünschimmer verbirgt.“ - „Vertraust Du dem Sonar nicht? Was soll dort schon sein, außer mehr Wasser natürlich? Falls dort ein Hindernis wäre, würde uns das angezeigt.“ - „Hmm, wie Du meinst. Aber ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.“ - „Schlimmer als beim Riesenkalmar?“, fragte Jacques und grinste.

Vor zwei Tagen waren sie in gut 3000 Metern Tiefe auf ein großes Exemplar von etwa 15 Metern Länge gestoßen. Jacques war begeistert gewesen und hatte René gebeten, das Tier zu verfolgen, damit er seinem japanischen Kollegen Tsunemi Kubodera eine lange Nase machen und den Kalmar ausgiebig filmen konnte. Tsunemi hatte in den letzten Jahren immer wieder durch spektakuläre Unterwasseraufnahmen von Riesenkalmaren auf sich aufmerksam gemacht. René hatte selbstverständlich Bedenken gezeigt. Was, wenn der Kalmar das Boot in Angriff nahm? Er war als Kapitän für die Sicherheit der Besatzung verantwortlich. Aber Jacques hatte ihm versichert, dass selbst im Falle eines Angriffs der Kalmar wohl kaum Geschmack am Tauchboot finden würde. Und er sollte Recht behalten, auch wenn er dazu auf einen Trick zurück griff: Als das Tier plötzlich Kurs auf die „Explorer Six“ nahm, ließ Jacques die komplette Scheinwerferfront einschalten und das lichtempfindliche Tier suchte geblendet das Weite.

„Erinnere mich bloß nicht daran. Bei dem Viech habe ich Blut und Wasser geschwitzt. Da hättest Du ruhig vorher erwähnen können, dass die dank ihrer riesigen Glupschaugen leicht durch Licht zu verschrecken sind.“, entgegnete René schließlich. „Also gut, nehmen wir eine Probe von diesem grünen Zeugs. Aber schön vorsichtig und langsam.“ Mit diesen Worten gab er dem Steuermann die nötigen Anweisungen und die Explorer setzte sich mit langsamer Fahrt in Bewegung, direkt auf die grünlich schimmernde Halbkugel zu.
Die grüne verschwommene Masse kam näher und näher, geriet schließlich in Kontakt mit dem Tauchboot. Kaum war der Kontakt hergestellt, erfuhr das U-Boot plötzlich eine enorme Beschleunigung. Die Crew wurde von den Füßen gerissen. Alles, was nicht fest montiert war, erlag den Beschleunigungskräften und flog durch die Kammern. Zuerst machte das Schiff einen Satz in die Halbkugel hinein. Anschließend fühlte es sich für Jacques an, als wenn das Boot fallen würde. Doch bevor er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, kam schon der Aufschlag und das Letzte, was Jacques sehen konnte bevor er das Bewusstsein verlor, war das Sichtfenster, das sich seinem Gesicht näherte.

„Jacques! Jacques! Komm’ zu dir!“, rief René und rüttelte vorsichtig an Jacques Schulter. Jacques schlug die Augen auf. „Was ist passiert?“ - „Das wollte ich dich auch gerade fragen. Alles in Ordnung bei dir? Bist Du verletzt?“ - „Mein Kopf schmerzt und ich werde wohl die nächsten Tage einige blaue Flecken mit mir rumtragen. Sonst ist alles o.k., scheint nichts gebrochen zu sein.“ René half Jacques auf die Beine. Das Schiff hatte eine leichte Schlagseite und der Observationsraum sah chaotisch aus. Die penibel sortierten Papiere - hauptsächlich Notizen und Bilder zu den Entdeckungen der Explorer - lagen quer verstreut über dem Boden und gesellten sich zu zersplitterten Kaffeetassen, zerbrochenen Laptops und weiteren Gegenständen der Forschungsexpedition, die nicht fest an Bord montiert waren. Die Notbeleuchtung machte darauf aufmerksam, dass die Bordsysteme Schaden genommen haben mussten. Durch das Sichtfenster ließ sich nichts erkennen, es hätte genau so gut eine schwarze Wand sein können. Jacques und René machten sich daran, nach dem Rest der Besatzung zu sehen. Zusammen mit ihnen waren insgesamt 15 Leute an Bord gewesen. Jacques hatte drei Assistenten dabei - Jean-Pierre, Andrea und Kevin - die ähnlich wie der Rest der Besatzung in mehreren Schichten arbeiteten. Kevin war mit ihnen im Observationsraum gewesen und sie fanden ihn stöhnend in einer Ecke sitzend vor. Sein linker Arm war gebrochen, aber davon ab schien er in Ordnung zu sein. Auch der Rest der Besatzung schien den Vorfall abgesehen von Prellungen gut überstanden zu haben. Neben Kevin hatte sich nur der Koch Steven schwerer verletzt - die Tür zur Kombüse war durch den Ruck zugefallen und der arme Kerl hatte versucht, sich währenddessen mit einer Hand am Rahmen festzuhalten. Als sie ihn fanden, hatte er die Hand bereits provisorisch verbunden und war gerade dabei, seine vier sauber abgetrennten Finger auf Eis zu legen.

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Clive77

Serial Watcher
Nachdem sie alle Besatzungsmitglieder in Sicherheit wussten, ging es in den Kontrollraum, um die Systeme zu überprüfen. Der Antrieb hatte sich aufgrund einer Fehlfunktion abgeschaltet und es hatte mehrere Kurzschlüsse durch den Aufprall gegeben. Die Crew machte sich daran, die Schäden zu beheben und es dauerte nicht lange bis die normale Beleuchtung wieder funktionierte und der Systemcheck erfolgreich verlief. Offensichtlich lagen sie auf Grund und die Außenwände hatten keinen Schaden genommen. Allerdings hatte es zwei der außen angebrachten Scheinwerfer und eine Kamera erwischt.
René gab den Befehl, den Antrieb zu starten. Zunächst mussten sie vom Grund loskommen und etwas an Höhe gewinnen. Aber das Schiff rührte sich nicht. Renés Blick fiel auf den Tiefenmesser. „Ich dachte, alle Systeme seien in Ordnung, John.“, sagte er in Richtung des Steuermanns. „Aye. Der Check zeigt keine Fehler mehr an.“, entgegnete John. „Und warum zeigt der Tiefenmesser an, dass wir uns an der Oberfläche befinden?“ - „Was? Ich, hmm, das ist nicht möglich.“ John schaute auf die Anzeige. Der Kapitän hatte Recht. Laut Anzeige entsprach der Außendruck dem an der Oberfläche. John fuchtelte am Systemcheck herum, überprüfte alles dreimal, um auf Nummer sicher zu gehen. „Ich verstehe das nicht. Vor dem Zwischenfall waren wir mehrere Tausend Meter tief.“ - „Ist es möglich, dass wir uns in einer Luftblase befinden und deshalb die Anzeige spinnt?“ - „Der Tiefenmesser ist nichts anderes als ein Manometer. Theoretisch wäre es möglich, aber dann müssten wir uns in einer Höhle oder sowas befinden.“
Jacques überlegte. „Oder vielleicht unter einer Kuppel? René, lass’ uns mal einen Blick auf die Umgebung werfen. Ich nehme an, nicht alle Scheinwerfer und Kameras sind defekt?“ - „Gute Idee, mehr können wir ohnehin nicht machen. John, zeig’ uns mal, was da draußen los ist.“
Alle starrten auf die Bildschirme. Zum Heck des Schiffes zeigten die Kameras eine schwarze Wand, die sich nach oben und zu den Seiten hin fortsetzte. Sie befanden sich anscheinend innerhalb der grünen Halbkugel, aber der grüne Schimmer war von innen nicht zu sehen. Als die Kameras zeigten, was vor ihnen und im Kern der Kuppel lag, stockte allen der Atem. In nicht all zu weiter Ferne konnten sie Umrisse erkennen, die stark an eine Stadt erinnerten. Die Gebäude wirkten geradezu riesig und die Architektur, so gut es sich ausmachen ließ, fremdartig. In der Mitte erstreckte sich ein gigantischer Bau, der bis zur Kuppeldecke zu reichen schien.
„Wo zur Hölle sind wir hier?“, fragte René.
„In einer versunkenen Stadt? Atlantis?“, fragte John.
„Nein, Atlantis - sofern es überhaupt existiert hat - müsste im Mittelmeer begraben liegen. Aber wir sind im Pazifik. Können wir näher heran zoomen?“, fragte Jacques.
„Tut mir leid, wir sind schon am Maximum von dem, was das Objektiv hergibt.“, erklärte John.
„O.k., was nun? Wir sitzen hier fest. Eine Funkboje zu starten hätte wenig Sinn, die würde genauso wie wir am Boden liegen bleiben. Wir könnten auf Hilfe warten, aber unser letzter Kontakt mit der Oberfläche ist gerade mal sechs Stunden her - die werden uns erst vermissen, wenn das nächste Signal ausbleibt und falls sie nach uns suchen, wird es noch Tage dauern bis jemand eintrifft. Und selbst dann - wir konnten alles, was in dieser Kuppel liegt, mit dem Sonar nicht ausmachen - ist es fraglich, ob man uns überhaupt findet. Irgendwelche Vorschläge?“, fasste René die Situation zusammen.

Die gesamte Mannschaft versammelte sich im Aufenthaltsraum. René und Jacques schilderten die Lage. Sie saßen hier vorerst fest und die Aussicht auf Rettung war gering. Also mussten sie selbst etwas unternehmen. Jacques schlug vor, mit einigen Leuten das Schiff zu verlassen. Sie mussten die Kuppelgrenze untersuchen und versuchen, eine Boje von dort loszuschicken. Ihm juckte es zwar in den Fingern, sich auch die merkwürdige Unterwasserstadt anzusehen, aber zunächst musste die Notlage behoben werden. Wenn erstmal ein Ausweg da war, konnten sie sich immer noch dort umsehen. Nach einigem Wenn und Aber ließ René sich breitschlagen, eine kleine Expedition zusammen zu stellen. Sie wussten nicht, ob sie die Luft atmen konnten, aber die Temperaturanzeige gab zumindest an, dass es außerhalb des Bootes mit gut 10°C erträglich sein sollte. Sie brauchten nur ein paar Sauerstoffflaschen samt Tauchanzügen mitnehmen und konnten dann einen Versuch wagen.
Jacques bestand darauf, dass er zuerst das Schiff verließ. Ausgestattet mit einem der beiden Infrarot-Sichtgeräte und einer Taschenlampe am Gürtel seines Taucheranzugs öffnete er die Außenluke der Schleuse, die eigentlich für Tauchgänge nahe der Oberfläche gedacht war. Zuerst testete er den Sauerstoffgehalt der Luft mit einem Oxymeter: Etwas dünn, aber noch im grünen Bereich. Gut, sie konnten also notfalls auf die Sauerstoffflaschen verzichten. Er gab diese wichtige Information per Funk weiter und anschließend ließ er sich mit einem Seil hinab zum Meeresgrund. Die Scheinwerfer des U-Boots sorgten für genug Licht und er warf einen Blick auf die schwarze Wand, von der er wusste, dass sie von der anderen Seite grün schimmerte. Kurz darauf kamen die anderen Mitglieder der kleinen Expedition durch die Schleuse und folgten ihm.

Die nähere Untersuchung der Kuppelgrenze zeigte vor allem eines: Es war unmöglich, von dieser Seite diese Grenze zum Ozean zu durchstoßen. Wie eine feste schwarze Wand umgab sie die gesamte Kuppel. Sie konnten allerdings beobachten, wie diese „Wand“ mehrfach von einigen der Meeresbewohner von außen durchbrochen wurde. Nicht nur, dass sie mehrere verendete Fische auf ihrer Seite ausmachen konnten, sie wurden auch mehrfach Zeugen davon, was passierte, wenn ein Fisch von außen in die Kuppel schwamm: Der Außendruck der Wassermassen ließ die ahnungslosen Meeresbewohner beschleunigt ins Kuppelinnere flutschen, wo sie auf dem Grund landeten und elendig verreckten. Genau so musste es auch dem U-Boot gegangen sein und Jacques mochte gar nicht daran denken, wie ihre Reise geendet hätte, wären sie nicht dicht über dem Meeresgrund unterwegs gewesen.

Eine erneute Lagebesprechung im Aufenthaltsraum verlief größtenteils chaotisch. Einige Crewmitglieder waren jetzt der Panik nahe, die religiöseren Sprachen schon von einer Strafe Gottes dafür, dass sie sich als Menschen anmaßten, die Meereswelt zu erforschen. Die Situation war ausweglos. Sie saßen hier fest, konnten nicht um Hilfe rufen und würden früher oder später nach Verbrauch aller mitgebrachten Rationen verhungern müssen.
Jacques schlug schließlich vor, sich die Stadt genauer anzusehen. Wenn sie hier nur herum sitzen und auf den Tod warten würden, konnten sie sich auch genauso gut alles ansehen, was sich mit ihnen unter der Kuppel versteckte. Was auch immer für die Kuppel verantwortlich war - und Jacques hoffte innständig, dass es sich dabei nicht um ein natürliches Phänomen handelte - vielleicht gab es in der Stadt eine Möglichkeit, diese Grenze außer Kraft zu setzen und damit einen Funken Hoffnung für alle. Dieser Vorschlag ließ die Diskussion erneut entfachen und wilde Theorien über die Atlantislegende bis hin zu einem abgestürzten außerirdischen Raumschiff machten die Runde. René rief schließlich zur Ruhe und fragte nach Freiwilligen für eine Expedition in die fremdartig wirkende Stadt. Er selbst würde an Bord der Explorer bleiben und mit einigen Leuten die Funkverbindung halten. Und so wurde es dann beschlossen: Jacques machte sich mit seinen Gehilfen Jean-Pierre und Andrea sowie zwei der wagemutigeren Besatzungsmitglieder - dem kräftigen Knut und dem ebenfalls robust gebauten Jochen - auf den Weg in die Stadt.

Die Stadt lag anscheinend weiter entfernt als ihre Augen oder die Kameras ihnen zeigten. Nahezu endlos wanderten sie über den trockenen Meeresgrund und die Gebäude kamen langsam aber bedrohlich näher. Das kleinste hatte eine Höhe von gut 10 Metern und die Architektur war mit „fremdartig“ noch wohlwollend umschrieben: Was zunächst wie rundliche Verzierungen aussah, nahm - je näher sie kamen - die Form von riesigen Tentakeln an, die stetig in Bewegung zu sein schienen. Ob sie sich wirklich bewegten, ließ sich nicht ausmachen. Die Gebäude selbst bestanden geradezu aus tentakelartigen Gebilden, in einander verschlungen, die Form von Gebäuden nachahmend und die Bewegungen, die sie glaubten, dort zu sehen, konnten auch eine optische Täuschung sein. Außerdem bemerkte Andrea einen tiefen Brummton, der immer lauter wurde, je näher sie der Stadt kamen.

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Clive77

Serial Watcher
Sie betraten schließlich ein Fundament, was sich in Form von nahtlos in einander gefügten Fünfecken erstreckte. Mathematisch war dieses Muster auf einem ebenen Untergrund unmöglich und der bloße Anblick dieser geometrischen Unmöglichkeit bereitete dem Betrachter Kopfschmerzen. Jean-Pierre verlor als erster den Verstand. „Das ist alles nicht richtig. Die Gebäude, die Muster am Boden. Das gibt es nicht. Falsch, alles läuft hier falsch und wider die Natur. Wir sollten nicht hier sein. Dieser Ort ist nicht für menschliche Augen bestimmt. Und was ist das für ein Brummen? Ich kann das nicht länger hören. Wir sollten umdrehen.“ - „Aber Jean-Pierre“, sagte Jacques, „wir haben doch keine Wahl. Wir haben momentan nur zwei Optionen: Entweder wir schauen uns hier um oder wir gehen zurück zum Schiff und sterben dort. Was meinst Du, sollten wir tun? Sterben?“ - „Nein, ich will nicht sterben. Aber ich ertrage diesen Anblick nicht. Und dieses Brummen zerreißt mir den Verstand. Wir müssen hier weg. Wir müssen umdrehen.“ - „Aber Jean,...“ - „Nein, ich, ...ich ertrag’ das nicht. Ich - was war das für eine Stimme? Hast Du das auch gehört?“ - „Was für eine Stimme? Nein, ich habe nichts gehört.“ - „Diese Stimme, im Brummen, ich höre sie. Jacques, lass’ uns umkehren, ich flehe Dich an.“ - „Ich höre nichts und wir können nicht umkehren. Wir müssen weiter. Wir haben keine andere Wahl.“ - „Nein, ich. Ah, das sind keine Worte, keine menschlichen Worte. Es geht nicht, ich halt’ das nicht länger aus.“
Und mit diesen Worten ergriff Jean-Pierre die Flucht. Der Rest der Gruppe schaute dem fliehenden Jean-Pierre hinterher. Die Augen der anderen richteten sich schließlich auf Jacques. „Wir gehen weiter. Wer umkehren möchte, kann das gerne tun, ich werde niemanden zwingen. Aber unsere Lage ist eindeutig. Entweder wir schauen uns hier um oder wir werden an Bord des Schiffes verhungern.“, schilderte Jacques erneut die Lage und der Rest folgte ihm.

Schließlich in der Stadt angekommen, merkte auch Jacques, dass er Schwierigkeiten bekam, klare Gedanken zu fassen. Alles, was das Licht der Taschenlampen erblickte, schien in Bewegung zu sein und doch am selben Ort zu bleiben. Nicht nur der Boden zeigte weiterhin seinem menschlichen Verstand trotzend ein unmögliches Muster, auch die Gebäude waren damit ausgestattet. Ecken und Kanten gingen nahtlos in runde Formen über, Fenster verschwanden und tauchten an anderer Stelle wieder auf und die Tentakel waren in allen Formen und Größen allgegenwärtig, umschlangen sich selbst und die Gebäude, schlängelten durch und um die Fenster. Wenn er sich zu lange auf eine Stelle konzentrierte, spürte er eine Benommenheit, ein Schwindelgefühl in sich aufsteigen und wendete seinen Blick schnell wieder in die leere Schwärze zwischen den Gebäuden. Das Brummen hämmerte zusätzlich in seinem Kopf und Jean-Pierre hatte Recht gehabt: Da war eine Stimme. Eine dunkle Stimme, die in einer Sprache sprach, die Jacques nie zuvor gehört oder gar für möglich gehalten hatte. Die Laute waren abgehackt, für die menschliche Zunge unmöglich nachzusprechen. Als wenn die Sprache nur aus Konsonanten bestünde, aber trotzdem flüssig und schnell in all ihrer Dissonanz wiedergegeben werden könnte.
Jacques ging weiter. Er konzentrierte sich auf den gigantischen Turm in der Mitte der Stadt. Er hoffte, dort einige Antworten zu bekommen. Andrea, Knut und Jochen taumelten hinter ihm her. Auch sie waren offensichtlich angeschlagen von den audiovisuellen Eindrücken, aber noch hatte keiner von ihnen die Flucht ergriffen.

Jacques stand vor dem Turm. Ähnlich wie bei den anderen Gebäuden, zeigten sich auch hier die kopfschmerzenbereitenden Muster. Aber der Turm hatte eine feste Tür. Oder besser gesagt: Einen Eingang, der sich nicht veränderte. Wie ein riesiges Loch, dessen Umrisse stets in Bewegung waren aber eine konstante Öffnung ließen. Knut und Jochen gingen plötzlich auf einander los. Warum wusste Jacques nicht und er bekam es nur am Rande mit. Sein Gehör war zu einem einzigen Brummen in der fremdartigen Sprache geworden. Er schenkte seinen drei Begleitern keine Beachtung mehr. Es zählte nur noch der Turm. Andrea hingegen versuchte, den Streit zu schlichten und geriet zwischen die beiden Streithähne. Jacques aber ging in den Turm hinein und betrat die große Halle, die scharlachrot auf ihn und den Bewohner des Turms niederschien. Während draußen der Kampf seiner Gefährten und wilde Schreie tobten, ging Jacques auf den riesigen Bewohner des Turms zu. Der Körper des Einwohners wirkte nur entfernt humanoid und aufgedunsen. Das, was Jacques als Kopf ausmachen konnte, sah eher aus wie ein Tintenfisch und bestand im Mundbereich aus Tentakeln, die sich rhythmisch hin und her bewegten. Auf dem Rücken ließen sich ein Paar Flügel erkennen, deren Muster genau so wenig Sinn ergaben wie die Stadt und deren Gebäude. Jacques hörte in seinem Kopf die Stimme schreien: Ph'nglui mglw'nafh Cthulhu R'lyeh wgah'nagl fhtagn. Im gleichen Moment wusste er, was ihn erwarten würde und die Kreatur vor ihm schlug ein Auge auf und erwachte.
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Sehr nostalisch, muss ich sagen. Du schaffst es, Jules Verne mit Lovecraft zu verweben, Respekt. Ein sachliches Argument kann ich leider vorerst nicht beisteuern, weil die Geschichte mich echt mitgerissen hat und mich zu sehr in meine Kindheits-Lese-Kicks hineinreißt. Objektive Kritik wird dadurch schwer:wink: Aber ein Paar Sätze will ich doch erwähnen.
und hatten nebenbei eine Vielzahl neuer Spezies ausmachen können
Merkst du, wie der Satz ohne "nebenbei" schon viel besser klingt? :smile: Mein Tipp: sag nie "nebenbei", weil das zu beiläufig klingt und die Figur dadurch unwichtig erscheint:wink:
Ansonsten aber eine echt starke Geschichte, weiter so!
 

MamoChan

Well-Known Member
Schade, dass diese Geschichte außer Konkurrenz läuft, denn sie wäre mein Favorit. Zwar gefällt mir der Anfang weitaus besser als der Rest, ich hatte ja noch gehofft, es würde nicht auf eine weitere Lovecraft Geschichte hinauslaufen, aber dennoch war die Geschihcte toll geschrieben und hatte eine tolle Atmosphäre, die stetig dichter wurde. :top:
 

Clive77

Serial Watcher
Wow, danke für die Kommentare.

Die Sache mit den Füllwörtern ist in der Tat ein großes Problem bei mir. Abgesehen von "nebenbei" gibt es da noch andere Wörter, die mir ständig aus den Fingern rutschen, ohne dass ich das möchte. Außerdem wiederhole ich manche Schlagwörter auch öfter als mir lieb ist.

Was mir an meiner Geschichte nicht gefällt: Erstmal natürlich, dass ich es nicht geschafft habe, bis zur Deadline fertig zu werden. Nächstes Mal muss ich unbedingt früher loslegen. Zweiter Punkt ist, dass ich lange nach einem Monster gesucht habe und dann am Ende bei Cthulhu gelandet bin. Was Eigenständiges wäre natürlich schöner gewesen und entspricht wohl eher dem Sinn und Zweck hinter dem Wettbewerb. Obwohl natürlich nicht nur Lovecraft seine Kreaturen in Geschichten hinein nimmt, sondern auch viele andere Schreiberlinge, wie z.B. Hohlbein. Yrrthol hat mich da stark an das erste "Hexer von Salem" Buch erinnert.
Mein Hauptkritikpunkt aber wäre, wie mir schon beim Schreiben aufgefallen ist, dass es bereits Tiefsee-U-Boote gibt, die auch die tiefsten Stellen der Weltmeere erreichen können. James Cameron hat das bereits dokumentiert, wie mir bei der Recherche aufgefallen ist. Da die ganze Geschichte aber auf das Unbekannte in der Tiefe aufbaut, ist es wohl der größte Fehler gewesen, die Geschichte "heute" stattfinden zu lassen. Oder ich hätte den Verweis auf Tsunemi Kubodera rausnehmen müssen, der sich wirklich mit solchen Aufnahmen in den letzten Jahren hervor getan hat.
Die Krux dabei war halt, dass man bei der Recherche zur Authentizität viele Dinge in Erfahrung bringt, die man wunderschön mit einbauen kann (wie z.B. die Biolumineszenz von Vampirtintenfischen), aber auch auf Dinge stößt, die die Geschichte stark in Frage stellen. Wobei ich bisher über noch keine Fakten gestoßen bin, die sich mit den (bekannten) Koordinaten von R'lyeh beschäftigt haben.
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Clive77 schrieb:
Die Krux dabei war halt, dass man bei der Recherche zur Authentizität viele Dinge in Erfahrung bringt, die man wunderschön mit einbauen kann (wie z.B. die Biolumineszenz von Vampirtintenfischen), aber auch auf Dinge stößt, die die Geschichte stark in Frage stellen.
Das Problem kenne ich auch, sowas kann entmutigend sein. Da muss man manchmal die Story so zurechtbiegen, dass es zu den recherchierten Sachen passt und man keinen Schwachsinn schreibt.
 

Woodstock

Verified Twitter Account ☑️
Tolle Geschichte Clive, allerdings hast du ein paar Chancen verschenkt. Gerade der religiöse und kulturelle Aspekt hinter einer solchen Kuppel unter Wasser ist mir zu wenig ausgearbeitet worden. Das beinhaltet auch die Fragen und die Verunsicherung der Mannschaft. Außerdem sind zwei Menschen verletzt, wo sich niemand wirklich drum kümmert und auch das man nicht weißt wie man wieder hochkommen soll.

Forscherdrang in allen Ehren aber es gibt Dinge, die nach der Logik vorgehen.

Was mir allerdings gefiel, war das Vorantreiben von Protagonisten und die gesamte technische und wissenschaftliche Seite. Ich hätte die Geschichte womöglich in die 80er versetzt, mit dem kalten Krieg im Nacken aber trotzdem ohne Militär.

Auch hat das Lovedraft Ende ein wenig die Spannung geraubt. Es wurde schnell klar was jetzt kommt und das brachte einen mehr zum Schmunzeln, als zum gruseln.

Ansonsten richtig gut! Bitte weiter so!

Du könntest dir auch mal überlegen ein Mörderspiel zu machen! :smile:

Zum Nebentopic:
Ja, die Geschichte ist toll aber man sobald man sie zurechtschieben muss, verliert man die Lust oder die Prämisse ist zu sehr abgeschwächt oder nicht mehr da. Das Problem kenne ich. Einmal musste ich deswegen eine Story gänzlich aufgeben.
 

Clive77

Serial Watcher
@Woodstock: Danke!

Naja, was religiöse oder kulturelle Aspekte hinter der Kuppel angeht: Die gibt es schlichtweg nicht. Die Kuppel ist da, um R'lyeh vorm Rest der Welt zu verstecken und dafür zu sorgen, dass Cthulhu möglichst lange schlummert. Wie beschrieben wird das Wasser abgehalten, aber alles andere kann eindringen und ist dann gefangen, was für Meeresbewohner den Erstickungstod bedeutet. Dass man aus der Kuppel nicht mehr raus kommt, war außerdem notwendig, um den Protagonisten als einzigen möglichen Ausweg die Stadt zu lassen. Warum sollten sie sich sonst auf den Weg in die Stadt machen? Forscherdrang alleine wäre da zu wenig gewesen und bei den Verletzten wäre Rückzug auch die logischste Option gewesen. Apropos Verletzte, da konnte man nicht viel mehr machen. Sicher, ich hätte vielleicht noch einen Satz zwecks Richten des Armes oder Druckverbands der Hand machen können. Aber vielmehr kann man in der Lage nicht machen, sind ja keine Fachärzte an Bord gewesen.

Ursprünglich wollte ich die Geschichte auch größer machen. Die restliche Mannschaft vorstellen und wie sie langsam Angst kriegen (da hätten sich Themen wie Religion und Kultur oder allgemein Charakterhintergründe bemerkbar machen können), außerdem hatte ich noch Wächter für die Stadt eingeplant (die Tiefen Wesen) und ein paar andere Dinge im Kopf. Aber das wäre alles viel zu lang geworden (die Geschichte ist eh' schon viel länger geworden als geplant). Ich hatte gerade mal den Anfang fertig und war plötzlich schon bei der Hälfte der erlaubten Zeichenanzahl...

@Mörderspiel: Hmm, ich weiß nicht. Ich fand's als Teilnehmer schon recht stressig teilweise und hatte Mühe, die verschiedenen Threads zu verfolgen (jedenfalls zu Stoßzeiten, wenn die Mailbenachrichtigungen ausblieben und man permanent F5 gedrückt hat). Kann mir kaum vorstellen, wie Wurzel das als Spielleiter alles geregelt hat. Ich werd' erstmal ein paar weitere Runden mitmachen, wenn es zeitlich passt und mal schauen, wie das im "Normalfall" abläuft (die 50. Runde war ja ein Special, aber eben gleichzeitig meine erste Runde als Teilnehmer).
 

Manny

Professioneller Zeitungsbügler
Hat mir auch sehr gut gefallen. Wäre als Teil des Wettbewerbs mindestens auf dem 2. Platz bei mir gelandet. Vielleicht hätte es sogar Yrrthol überholt.
Das Einzige was mich jetzt gestört hat, war die Tatsache, dass da einige (für mein Gefühl) ziemlich schnell mit dem Beten angefangen haben. Aber ich denke, dass das bei einem Ausschreiben der Geschichte dass sicher passender rübergekommen wäre.
 

Clive77

Serial Watcher
@Manny: Danke!

Joa, Du meinst sicher den einen Satz bei der zweiten Lagebesprechung. Ich habe in etwa dort gemerkt, wieviel Text ich schon habe und dass es knapp werden wird für 20.000 Zeichen (am Ende waren's glaube ich so um die 23.000) - schon kurz vorher musste ich mich kurz fassen und bin bei der Untersuchung der Kuppelgrenze nicht ins Detail gegangen. Aber ich glaube, wenn ich auf dem Meeresgrund fest säße und keine Aussicht auf Rettung hätte, würde ich auch anfangen, Panik zu schieben.
 
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