Story XLVIII - Selbst Schuld

Clive77

Serial Watcher
Es war meine eigene Schuld. Nichts war mir so sehr bewusst, wie das, als ich die weißen Wände meines Krankenzimmers ansah.
Herr Baliczek, der in seinem Bett neben mir schnarchte hatte ähnliches Pech wie ich. Nur dass er regelmäßig zur Vorsorge gegangen war.

Im Fernseher lief eine Tierdoku. Ein Löwe biss gerade einem Zebra in den Hals. Ich war mir unschlüssig, ob das Zebra nun schlechter oder besser dran war als ich.
"Herr Baliczek? HERR BALICZEK?" von der Krankenschwester angesprochen erwachte er aus seinem Schlaf. "Es gibt Abendessen. Möchten Sie Vollkornbrot oder weißes Brot?"
Mein Zimmernachbar brauchte in seiner Schlaftrunkenheit bis er die Frage begriffen hatte. "Ähm, ich denke ich nehme.....ein Vollkornbrot."
"Und sie, Herr Meyer?"
"Ich darf weder das eine noch das andere essen....zumindest bis auf weiteres. Vielleicht nachdem die Ernährungsberaterin mit mir gesprochen hat....."
Wir bekamen unser essen und die Schwester sagte mir, sie würde später nochmal nach meinem Beutel gucken. Mein Beutel. Im Grunde konnte ich froh sein, dass es nur das war. Oder nicht? Ich hätte auch sterben können. Andererseits würde ich mich in Zukunft ernährungstechnisch stark einschränken müssen.
Das alles wäre aber wohl gar nicht nötig gewesen, wenn ich auf die Vorzeichen reagiert hätte. Vor einigen Jahren hatte ich Blut im Stuhl. Ich wusste, dass dies auf Krebs oder eine Vorstufe davon hindeuten kann. Aber ich ignorierte es. Ich verdrängte es. Aus Angst. Nicht aus Angst vor einer OP und der möglichen Folgen im Sinne von Schmerzen, Tod und Anderem. Sondern aus Angst vor Tabletten - Schmerztabletten, Antibiotika und was im Verlauf gegebenenfalls noch notwendig werden konnte - die ich würde einnehmen müssen. Selbst bei einem weiteren Mal mit Blut im Stuhl reagierte ich nicht. Und dass, obwohl es in meiner Familie bereits Krebs und Magen-Darm-Erkrankungen gegeben hatte. Erst durch Zufall wurde der Darmkrebs dann erkannt nachdem ich nach mehreren Tagen Durchfall zu meiner Hausärztin ging und dieser auffiel, dass ich blass und müde aussah. Dass ich auf Nachfrage angab, in letzter Zeit Gewicht verloren zu haben, ohne etwas an meiner Ernährung geändert zu haben, war dann ein weiteres Zeichen für die Ärztin. Sie machte ein paar Untersuchungen, schickte mich zu einer Darmspiegelung und der Gastroenterologe fand den Tumor.
"Das Essen ist hier gar nicht mal so schlecht. Vor ein paar Jahren, als ich noch in Bremen gelebt habe, war ich in einem Krankenhaus, in dem das Essen fürchterlich geschmeckt hat."
"Für mich ist dies das erste Mal als Patient in einem Krankenhaus. Wirklich lecker finde ich das Essen nicht, aber man kann es essen. Bislang darf ich ja auch nur Pudding oder Joghurt essen. Und das, wo das kleine panierte Schnitzel mit Brokkoli in Sauce Hollondaise und Kartoffeln echt gut aussah."
"Ich hatte Grünkohl mit Kartoffeln. Nicht so gut, wie wenn meine Frau Grünkohl zubereitet, aber dennoch sehr gut." Wie auf's Stichwort kam Natascha, Boris Baliczeks Frau ins Zimmer.
"Hallo Thomas, wie geht es dir heute?" Ich war gerade mal seit zwei Tagen mit Boris auf einem Zimmer gewesen, da hatte seine Frau bereits darauf bestanden, dass wir uns duzen. Inzwischen lagen wir eine Woche lang auf einem Zimmer.
"Ganz gut, Natascha. Dein Mann macht es mir mit seiner ruhigen Art aber auch nicht schwer, mich zu erholen."
"Das freut mich zu hören. Aber ganz glauben kann ich dir das nicht. Mein Mann geht mir nach ein paar Tagen immer so auf die Nerven, dass ich wenigstens einmal die Woche was mit einer meiner Freundinnen machen muss, damit ich ihm nicht den Kopf abreiße. Die Woche ohne ihn ist richtig erholsam. Ich kann mich abends schön entspannen."
"Sei still, Weib. Und sei nicht so unhöflich zu mir. Begrüße deinen lieben Mann erst mal bevor du dich lang und breit mit meinem jungen Leidensgenossen unterhältst."
"Siehst du, womit ich mich herumschlagen muss?" Natascha wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Mann zu und ich guckte weiter die Tierdoku. Eine Gazelle trank gerade aus einem Fluß während es aus einiger Entfernung von einem Krokodil beobachtet wurde.
Der Gastroenterologe hatte mich ins Krankenhaus geschickt, wo mich ein Arzt nach Studie der Befundberichte über die möglichen Vorgehensweisen und deren Risiken aufklärte. Es wurde ein kurzfristiger OP-Termin anberaumt und da lag ich nun mit meinem Kolostomiebeutel.
Bislang kümmerten sich die Schwestern um die Leerung des Beutels und eine hatte mir schon mal erklärt, worauf ich achten musste. Dennoch war mir nicht ganz wohl dabei, mich nach meiner Entlassung selbst drum kümmern zu müssen.
"Guten Abend, Herr Meyer. Wie geht es Ihnen heute?" Doktor Schäfer war ins Zimmer gekommen und stand nun am Fußende meines Krankenbettes. Er war Oberarzt der Gastroenterologie und er war auch der Arzt gewesen, der mich operiert hatte.
"Mal abgesehen davon, dass ich bis zu meinem Lebensende in einen Beutel machen werde, geht es mir ganz gut."
"Das freut mich sehr zu hören. Dann lassen sie mich nochmal die Nähte sehen." Er kam um das Bett herum an meine linke Seite. Ich schlug die Decke zurück und er entfernte den Verband. "Ja.......ja, das sieht gut aus. Irgendwelche Schmerzen?" "Nein, alles gut." "Und wenn ich hier leicht drücke." "Ein wenig." Dokor Schäfer machte den Verband wieder fest und richtete sich auf während ich die Decke wieder über mich schlug. "Sie erholen sich sehr gut von der OP. Ich denke, dass wir Sie in zwei bis drei Tagen entlassen können."
"Musik in meinen Ohren. Endlich wieder Netflix und Pizza."
"Über letzteres reden Sie besser morgen mit der Ernährungsberaterin. Ich werde dann auch nochmal nach Ihnen sehen."
Der Doktor untersuchte Herrn Baliczek und unterhielt sich mit ihm und seiner Frau bevor er sich endgültig verabschiedete. Natascha blieb noch etwa eine Stunde während ich weiter fern sah. Als sie ging hatte ich zu einer Folge Bones umgeschaltet, wo Dr. Brennan gerade einen besonders ekligen Leichnam untersuchte.
"Ich denke ich lege mich jetzt schlafen. Der Tag war irgendwie ganz schön anstrengend." Herr Baliczek drehte sich in seinem Bett auf die Seite und schlang die Decke um sich.
"Ich werde auch nur noch die Folge zu Ende gucken und dann noch etwas lesen." Nach 2 Kapiteln aus Dicks Der dunkle Schirm wurden mir schließlich die Augen schwer weshalb ich mich ebenfalls schlafen legte.
Am nächsten Morgen ging ich nach dem Frühstück auf dem Stationsflur spazieren. In den ersten Tagen nach der OP konnte ich mich kaum bewegen, so sehr hatte mich der Eingriff geschwächt. Mit dem einen oder anderen Schlauch im Körper wäre es sowieso kaum möglich gewesen, zu laufen. Nach ein paar Tagen ging ich ein paar Schritte im Zimmer umher. Inzwischen schaffte ich es ein paar Mal den Stationsflur rauf und und runter.
Als ich gerade wieder ins Zimmer ging, sah ich Frau Gonzalez, die Ernährungsberaterin den Gang entlang kommen. Ich wartete bis sie im Zimmer war, schloss die Tür und setzte mich mit ihr an den Tisch.
"In den ersten Tagen nach der OP haben sie nur Flüssignahrung bekommen, damit die Wundflächen heilen konnten ohne von Substanzen im Essen gereizt zu werden.
Danach gab's dann weiche Speisen wie Pudding, Brei, Suppen. Nach ihrer Entlassung können sie mit hellem Brot anfangen. Und dann probieren sie ein neues Lebensmittel nach dem anderen. In den ersten Wochen sollten Sie ballaststoffarm essen, also keine Hülsenfrüchte, keine Vollkornprodukte und nur bestimmtes, gekochtes Gemüse. So vermeiden Sie Schmerzen, Gas und Durchfall. Anstelle von drei großen Mahlzeiten sollten Sie fünf bis sechs kleine Mahlzeiten zu sich nehmen. Diese sollten Sie möglichst jeden Tag zur gleichen Zeit einnehmen. Außerdem sollten Sie zwei bis drei Liter pro Tag trinken. Um Blähungen und Durchfall zu verhindern sollten Sie z.B. Zwiebeln, Eier, Kohl, scharf gebratenes, fettes Essen, Obst, rohes Gemüse sowie Alkohol und stark gezuckerte Lebensmittel meiden. Gut sind dagegen unter anderem Joghurt, Bananen, gekochte Möhren, Heidelbeersaft, Haferflocken und helles Brot."
Als sie fertig war, fühlte ich mich etwas erschlagen.....und auch nicht gerade erfreut.
"Machen Sie doch nicht so ein Gesicht. Sie können immer noch vieles Essen. Und hin und wieder werden sie auch wieder etwas richtig schönes genießen können. Nur eben nicht in nächster Zeit." Frau Gonzalez dürfte etwa Mitte 30 sein. Sie war hübsch und recht sexy. Ich dachte kurz darüber nach, sie zu Fragen, ob wir nicht mal zusammen ausgehen wollen. Aber die Gedanken an meine Ernährung in nächster Zeit beraubten mich jeglicher Flirtlust. Davon ab hatte sie sicher einen Freund.
"Danke, für Ihre Tipps. Ich will versuchen, mich daran zu halten." "Ich mache nur meinen Job. Und hier haben sie noch ein paar Broschüren, in denen alles noch genauer drin steht. Da werden neben einzelnen Lebensmitteln auch Kochbücher genannt, die sie sich kaufen können. Wenn sie bis zu ihrer Entlassung noch Fragen haben, können sie sich an mich wenden." Wir verabschiedeten uns und sie ging zu ihrem nächsten Beratungstermin.
Einen Tag später wurde Herr Baliczek entlassen. Er und seine Frau verabschiedeten sich lautstark von mir, umarmten mich beide und meinten, dass wir uns unbedingt mal zum Essen treffen sollten. Noch am gleichen Tag wurde mir gesagt, dass ich am Tag darauf ebenfalls entlassen werde. So kam es dann auch.
Inzwischen esse ich wieder einigermaßen normal und es geht mir ganz gut. Aber schön ist der Umgang mit einem Kolostomiebeutel nicht. Und ich kann auch immer noch nicht alles essen, nicht mehr so genießen wie früher. Und es ist meine Schuld, dass das so ist.
 

Revolvermann

Well-Known Member
Wirkt sehr autobiografisch. Dazu angenehm unaufgeregt. Kein aufgesetzter Konflikt. Kein aufgesetzter Twist. Vielleicht könnte man das ganze sprachlich noch interesanter gestalten aber insgesammt wirkt das wie ein ehrliches Schuldeingeständnis.
Mein Favorit.
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Die Geschichte hat mir auch gut gefallen. Kann mich da der Meinung von Revolvermann nur anschließen, wobei ich mich frage, ob ein Krebspatient wirklich selbst den Krankenschwestern sagen muss, was er essen darf und was nicht. Ich würde eher sagen, dass sie darauf achten müssen, sonst würden einige sture/willensschwache Patienten immer noch Sachen verlangen, die für sie tödlich sind. Vermute sogar, dass solche Infos auf dem Zettel am Fußende jedes Krankenbettes in einer Krebsstation stehen.
Aber das sind nur Vermutungen und kein großer Negativpunkt dieser Geschichte.
 

Rhodoss

Well-Known Member
Schön einfach gehalten und wirkt tatsächlich autobiografisch. Das mit dem Essen muss man in unserem Krankenhaus immer anmerken, da bekommen Diabetiker auch seht stark gezuckerten Pudding. Nichts ungewöhnliches. Leider war mir, das aber irgendwie zu unaufgeregt für meinen persönlichen lesegeschmack
 

Sittich

Well-Known Member
Revolvermann schrieb:
Wirkt sehr autobiografisch. Dazu angenehm unaufgeregt. Kein aufgesetzter Konflikt. Kein aufgesetzter Twist. Vielleicht könnte man das ganze sprachlich noch interesanter gestalten aber insgesammt wirkt das wie ein ehrliches Schuldeingeständnis.
Dem schließe ich mich auch an. Eine runde Geschichte. Einzig die Dialoge waren mir etwas zu gestelzt und unnatürlich. Ansonsten habe ich aber nichts auszusetzen.
 

MamoChan

Well-Known Member
Unangenehm. Diese Geschichte ist nicht schön. Ganz und gar nicht. Aber sie ist gut. Das Thema Schuld wurde sehr gut umgesetzt, und bisher ist das hier auch mein Favorit.
 
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