Deathrider
The Dude
Der schwarze Mann
Schweißgebadet erwachte Oliver an diesem Wintermorgen. Die Sonne war natürlich noch nicht aufgegangen. Stattdessen sah er durch sein Schlafzimmerfenster in einen trostlosen, regnerischen Vormorgen hinein. Die Digitalanzeige auf seinem Wecker, den er eben abgestellt hatte, verriet ihm die Uhrzeit: 06:00 Uhr.
Er wusste nicht mehr, was er geträumt hatte, aber es musste schlimm gewesen sein. Der Schrecken war noch nicht weg, er lauerte noch irgendwo in der Nähe, aber doch nicht greifbar.
Egal, er musste sich ranhalten. Sein Bus zur Uni fuhr pünktlich um 7:04 Uhr und bis zur Haltestelle war es ein langer Weg. Das ist der Nachteil, wenn man in einem kleinen Dorf auf dem Lande wohnt. Aber dafür ist man schließlich ungestört und kann das Fenster öffnen, ohne dass Motorengeräusche und Abgase in die Wohnung dringen.
Er wusch sich, frühstückte und packte schnell die Sachen zusammen, die er heute brauchen würde. In den ersten beiden Stunden hatte er Professor Dr. Eidmann, eine echte Schlaftablette, und das auf einen Montagmorgen. Der Tag würde sehr anstrengend werden. Aber auch nicht viel anders als die anderen Tage - er hatte sich das Studieren irgendwie anders vorgestellt. Doch was er begonnen hatte, wollte er auch zu Ende bringen.
Als er abends ziemlich geschafft nach Hause kam - er war noch mit ein paar Kommilitonen ins Kino gegangen - wollte er eigentlich nur noch ins Bett. Er schloss die Haustür auf, ging hinein und machte das Licht im Flur an. Als er sich umdrehte, um die Haustür zu schließen, viel sein Blick auf den Schatten in der Ecke, seinen Schatten. Plötzlich bekam er ein flaues Gefühl im Magen. Er musste an heute morgen denken. Der Traum. Irgendwie hatte sein Schatten ihn an diesen Traum denken lassen. Aber er wusste immer noch nicht, um was es in diesem merkwürdigen Traum ging. Nachdenklich verschloss er die Tür.
Müde und völlig erschöpft ließ er sich in sein Bett fallen. Eine einsame Straßenlaterne leuchtete in sein Zimmer hinein und nach wenigen Sekunden hatten sich seine Augen an die schwache Beleuchtung angepasst. Wie immer vor dem Einschlafen, sah er sich in seinem Zimmer um. Er erkannte jeden Gegenstand und wusste, welches Objekt welchen Schatten von sich gab. Da vorne lag sein Rucksack, da hinten wurde der Schatten von einem Mobile an die Wand geworfen und da ... Was war denn das? Ach ja, der Stapel frischer Wäsche, den er noch nicht weggeräumt hatte.
Seine Augenlider wurden schwerer und fielen schließlich zu, um ihm die Reise in das Land der Träume zu erleichtern. Plötzlich spürte er etwas. Er schlug die Augen auf. Alles sah so aus wie eben. Komisch, er hatte das Gefühl, jemand hätte sich über ihn gebeugt. Er sah sich noch einmal genau um. Nichts, da war außer ihm nicht eine Menschenseele im Raum. Seine Augen schlossen sich langsam wieder. Die Nacht breitete sich in seinem Geist aus und wenig später war er in einen tiefen Schlaf versunken.
Als er wieder erwachte, stand Oliver in der Küche und hielt ein Paket Apfelsaft in der Hand. Vor ihm auf dem Küchentisch sah er ein leeres Glas stehen. Wahrscheinlich war er aufgewacht und hatte Durst bekommen. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie er Licht angemacht und in die Küche gegangen war. War er im Schlaf gewandelt oder unterbewusst losspaziert, um seinen Durst zu löschen?
Er wusste es nicht mehr. Am besten nicht darüber nachdenken. Er schüttete etwas Apfelsaft in das Glas, trank einen großen Schluck und sah sich um. Er hatte sich bestimmt schon einige tausendmal in dieser Küche umgesehen, aber er hätte schwören können, dass heute etwas fehlte. Irgendeine Kleinigkeit. Sein Kopf drehte sich langsam hin und her. Erst in die eine, dann in die andere Richtung. Er nahm noch einen Schluck Apfelsaft. Dabei fiel sein Blick auf den Lampenschirm, der leicht hin und her schaukelte, wenn man ihn aufmerksam begutachtete. Schließlich zuckte er mit den Schultern, leerte das Glas und ging wieder zurück ins Bett.
Am nächsten Morgen stand Oliver - wie jeden Dienstag - erst um 09.00 Uhr auf. Seine Vorlesungen begannen erst gegen Mittag, deshalb konnte er sich dienstags immer etwas Zeit lassen. Als er am Frühstückstisch saß, nahm er sich die Zeitung und las die Ereignisse des gestrigen Tages. Das war schon eine verrückte Welt da draußen. Die Kriminalitätsrate nahm langsam aber sicher zu. Die Arbeitslosenquote war ebenfalls gestiegen, trotz der angesetzten Reformen und die Bürger wurden immer unzufriedener. Selbst in der Nähe seines Wohnorts häuften sich die Überfälle auf kleine Bürger. Irgendwann am frühen Montagmorgen wurde im Graben der großen Hauptstraße, die auch durch Olivers Ort führte, eine junge Frau gefunden. Erwürgt. Oliver spürte, wie ihn sein Appetit verließ. Er las häufig derartige Meldungen in der Zeitung, aber für gewöhnlich kamen die Opfer aus Städten, die er höchstens mal besucht hatte und nicht aus seiner unmittelbaren Umgebung. Die Polizei suchte nach Hinweisen in Bezug auf den Täter, stand laut Artikel aber bisher noch vor einem Rätsel, was die Identität des Mörders anging.
Oliver ließ sein Frühstück stehen und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen.
Die ganze Woche über grübelte er über diesen Artikel nach, drehte sich auf der Straße ständig um, blickte über die Schulter und hielt Ausschau nach verdächtigen Personen, die es vielleicht auf ihn abgesehen hatten.
Von Donnerstag auf Freitag hatte er wieder einen Alptraum. Diesmal konnte er sich aber an die Details erinnern. Er träumte von einer Person, die in einen dunklen Mantel gehüllt durch die Stadt lief und konnte das pure Böse, das sie umgab, spüren. Er folgte dieser Person, obwohl er eigentlich wegrennen wollte. Aber wie das in Träumen manchmal so ist, war sein eigener Wille außer Kraft gesetzt. Er musste dieser Person folgen und konnte nichts dagegen tun. Durch dunkle Straßen sah er den „schwarzen Mann“ schleichen. Auf der Suche nach einem unschuldigen Wesen, dass er erst foltern und dann töten konnte. Oliver hoffte nur, dass sich der schwarze Mann nicht umsah und ihn bemerkte. Aber dazu kam es nicht. Der schwarze Mann hatte schon ein anderes Ziel erspäht als seinen unfreiwilligen Verfolger: Ein kleines Mädchen. Oliver fragte sich, was die kleine um diese Uhrzeit noch auf der Straße verloren hatte. Er hoffte, dass sie den schwarzen Mann bemerken und wegrennen würde. Er wollte ihr zurufen, sie solle weglaufen, aber sein Mund war zum Schweigen verdammt. Er war mittellos, ging hinter dem Mann im schwarzen Mantel her und musste mit ansehen, wie dieser das kleine Mädchen packte und in eine kleine Seitenstraße zerrte. Oliver kannte die Straße. Er kannte die ganze Stadt. Das war die Stadt, in der er studierte. Der schwarze Mann verschwand mit dem Mädchen in der Seitenstraße und Oliver ging hinterher. Als er einen Blick hinein werfen konnte, sah er den schwarzen Mann über das kleine Mädchen gebeugt, die Hände um den Hals gedrückt. Das Mädchen bewegte sich nicht mehr und Oliver spürte sein Herz in der Brust schneller schlagen. Er musste jetzt hier weg, jeden Augenblick konnte der Mörder sich umdrehen und wenn er Oliver sah, würde er ihn genauso erwürgen, wie er es mit dem kleinen Mädchen getan hatte. Oliver sah auf seine rebellischen Füße herab. Sie bewegten sich nicht. Sie sahen aus, als wenn sie eine ganze Ewigkeit hier stehenbleiben wollten. Als er so auf seine ungehorsamen Füße starrte, bemerkte er, dass sie in keine Richtung einen Schatten warfen, obwohl er in der Nähe einer Straßenlaterne stand. Selbst einen Schatten verweigerte ihm sein Körper. Er konnte nicht sprechen, nicht gehen und warf nicht einmal einen Schatten auf den Straßenboden. Plötzlich fiel ihm der schwarze Mann wieder ein, der gut fünfzig Meter von ihm entfernt gerade aufgestanden war. Oliver hielt den Atem an. Der Fremde drehte sich wie in Zeitlupe um, der Schrecken in Oliver wuchs dabei stetig an. Gleich würde er ihn sehen. Wenn er den Kopf noch etwas mehr herumdrehte, dann war es zu spät. Olivers Füße standen noch immer still. Der Fremde drehte sich um und blickte ohne Umschweife in Olivers Augen. Olivers Blick wurde genau so starr, wie seine Füße es waren, er konnte den Blick nicht vom schwarzen Mann abwenden. Auge in Auge stand er einem Mörder gegenüber. Dieser setzte sich jetzt in Bewegung, kam auf Oliver zu. Schneller und immer schneller kam der schwarze Mann näher, den Blick nicht einmal von Olivers Augen abgewendet.
In dem Moment wachte Oliver auf. Er saß aufrecht in seinem Bett, das Gesicht verschwitzt. Ein lautes „Nein!“ entrann seinem Mund. Er konnte wieder sprechen. Den Schrecken in seiner Erinnerung, sah er sich im Zimmer um. Alles normal. Alles in Ordnung. Auch seine Füße gehorchten ihm wieder. Er machte Licht an und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen und um sich zu beruhigen. Er erinnerte sich noch immer an den Blick des Fremden. Seine Augen, sie waren so dunkel gewesen. Das dunkelste Schwarz, was Oliver je gesehen hatte. An das Gesicht konnte er sich aber nicht erinnern. Nur an die Augen, aus denen pure Boshaftigkeit ihre schwarze Aura verbreitete. Unheimlich. Als er in der Küche das Licht einschaltete, spürte er diesen Blick auf sich, oder vielmehr in seinem Nacken. Er drehte sich um. Nichts. Kein schwarzer Mann. Kein Mörder. Nur seine Wohnung.
Träume dieser Art wiederholten sich in den folgenden Nächten immer wieder. Nacht für Nacht musste Oliver mit ansehen, wie der schwarze Mann Jagd auf Unschuldige machte, sie mit bloßen Händen erwürgte und immer, wenn er Blickkontakt mit dem Mörder hatte, wachte er kurze Zeit später auf. Er nahm sich vor, auf das Gesicht des Mörders zu achten, aber immer wieder wurden seine Augen von denen des Fremden eingefangen. So sehr er sich auch konzentrierte, er konnte nicht sehen, um wen es sich bei seinem Gegenüber handelte.