Story XXXI - Der schwarze Mann

Deathrider

The Dude
Der schwarze Mann​

Schweißgebadet erwachte Oliver an diesem Wintermorgen. Die Sonne war natürlich noch nicht aufgegangen. Stattdessen sah er durch sein Schlafzimmerfenster in einen trostlosen, regnerischen Vormorgen hinein. Die Digitalanzeige auf seinem Wecker, den er eben abgestellt hatte, verriet ihm die Uhrzeit: 06:00 Uhr.
Er wusste nicht mehr, was er geträumt hatte, aber es musste schlimm gewesen sein. Der Schrecken war noch nicht weg, er lauerte noch irgendwo in der Nähe, aber doch nicht greifbar.
Egal, er musste sich ranhalten. Sein Bus zur Uni fuhr pünktlich um 7:04 Uhr und bis zur Haltestelle war es ein langer Weg. Das ist der Nachteil, wenn man in einem kleinen Dorf auf dem Lande wohnt. Aber dafür ist man schließlich ungestört und kann das Fenster öffnen, ohne dass Motorengeräusche und Abgase in die Wohnung dringen.
Er wusch sich, frühstückte und packte schnell die Sachen zusammen, die er heute brauchen würde. In den ersten beiden Stunden hatte er Professor Dr. Eidmann, eine echte Schlaftablette, und das auf einen Montagmorgen. Der Tag würde sehr anstrengend werden. Aber auch nicht viel anders als die anderen Tage - er hatte sich das Studieren irgendwie anders vorgestellt. Doch was er begonnen hatte, wollte er auch zu Ende bringen.

Als er abends ziemlich geschafft nach Hause kam - er war noch mit ein paar Kommilitonen ins Kino gegangen - wollte er eigentlich nur noch ins Bett. Er schloss die Haustür auf, ging hinein und machte das Licht im Flur an. Als er sich umdrehte, um die Haustür zu schließen, viel sein Blick auf den Schatten in der Ecke, seinen Schatten. Plötzlich bekam er ein flaues Gefühl im Magen. Er musste an heute morgen denken. Der Traum. Irgendwie hatte sein Schatten ihn an diesen Traum denken lassen. Aber er wusste immer noch nicht, um was es in diesem merkwürdigen Traum ging. Nachdenklich verschloss er die Tür.

Müde und völlig erschöpft ließ er sich in sein Bett fallen. Eine einsame Straßenlaterne leuchtete in sein Zimmer hinein und nach wenigen Sekunden hatten sich seine Augen an die schwache Beleuchtung angepasst. Wie immer vor dem Einschlafen, sah er sich in seinem Zimmer um. Er erkannte jeden Gegenstand und wusste, welches Objekt welchen Schatten von sich gab. Da vorne lag sein Rucksack, da hinten wurde der Schatten von einem Mobile an die Wand geworfen und da ... Was war denn das? Ach ja, der Stapel frischer Wäsche, den er noch nicht weggeräumt hatte.
Seine Augenlider wurden schwerer und fielen schließlich zu, um ihm die Reise in das Land der Träume zu erleichtern. Plötzlich spürte er etwas. Er schlug die Augen auf. Alles sah so aus wie eben. Komisch, er hatte das Gefühl, jemand hätte sich über ihn gebeugt. Er sah sich noch einmal genau um. Nichts, da war außer ihm nicht eine Menschenseele im Raum. Seine Augen schlossen sich langsam wieder. Die Nacht breitete sich in seinem Geist aus und wenig später war er in einen tiefen Schlaf versunken.

Als er wieder erwachte, stand Oliver in der Küche und hielt ein Paket Apfelsaft in der Hand. Vor ihm auf dem Küchentisch sah er ein leeres Glas stehen. Wahrscheinlich war er aufgewacht und hatte Durst bekommen. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie er Licht angemacht und in die Küche gegangen war. War er im Schlaf gewandelt oder unterbewusst losspaziert, um seinen Durst zu löschen?
Er wusste es nicht mehr. Am besten nicht darüber nachdenken. Er schüttete etwas Apfelsaft in das Glas, trank einen großen Schluck und sah sich um. Er hatte sich bestimmt schon einige tausendmal in dieser Küche umgesehen, aber er hätte schwören können, dass heute etwas fehlte. Irgendeine Kleinigkeit. Sein Kopf drehte sich langsam hin und her. Erst in die eine, dann in die andere Richtung. Er nahm noch einen Schluck Apfelsaft. Dabei fiel sein Blick auf den Lampenschirm, der leicht hin und her schaukelte, wenn man ihn aufmerksam begutachtete. Schließlich zuckte er mit den Schultern, leerte das Glas und ging wieder zurück ins Bett.

Am nächsten Morgen stand Oliver - wie jeden Dienstag - erst um 09.00 Uhr auf. Seine Vorlesungen begannen erst gegen Mittag, deshalb konnte er sich dienstags immer etwas Zeit lassen. Als er am Frühstückstisch saß, nahm er sich die Zeitung und las die Ereignisse des gestrigen Tages. Das war schon eine verrückte Welt da draußen. Die Kriminalitätsrate nahm langsam aber sicher zu. Die Arbeitslosenquote war ebenfalls gestiegen, trotz der angesetzten Reformen und die Bürger wurden immer unzufriedener. Selbst in der Nähe seines Wohnorts häuften sich die Überfälle auf kleine Bürger. Irgendwann am frühen Montagmorgen wurde im Graben der großen Hauptstraße, die auch durch Olivers Ort führte, eine junge Frau gefunden. Erwürgt. Oliver spürte, wie ihn sein Appetit verließ. Er las häufig derartige Meldungen in der Zeitung, aber für gewöhnlich kamen die Opfer aus Städten, die er höchstens mal besucht hatte und nicht aus seiner unmittelbaren Umgebung. Die Polizei suchte nach Hinweisen in Bezug auf den Täter, stand laut Artikel aber bisher noch vor einem Rätsel, was die Identität des Mörders anging.
Oliver ließ sein Frühstück stehen und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen.
Die ganze Woche über grübelte er über diesen Artikel nach, drehte sich auf der Straße ständig um, blickte über die Schulter und hielt Ausschau nach verdächtigen Personen, die es vielleicht auf ihn abgesehen hatten.

Von Donnerstag auf Freitag hatte er wieder einen Alptraum. Diesmal konnte er sich aber an die Details erinnern. Er träumte von einer Person, die in einen dunklen Mantel gehüllt durch die Stadt lief und konnte das pure Böse, das sie umgab, spüren. Er folgte dieser Person, obwohl er eigentlich wegrennen wollte. Aber wie das in Träumen manchmal so ist, war sein eigener Wille außer Kraft gesetzt. Er musste dieser Person folgen und konnte nichts dagegen tun. Durch dunkle Straßen sah er den „schwarzen Mann“ schleichen. Auf der Suche nach einem unschuldigen Wesen, dass er erst foltern und dann töten konnte. Oliver hoffte nur, dass sich der schwarze Mann nicht umsah und ihn bemerkte. Aber dazu kam es nicht. Der schwarze Mann hatte schon ein anderes Ziel erspäht als seinen unfreiwilligen Verfolger: Ein kleines Mädchen. Oliver fragte sich, was die kleine um diese Uhrzeit noch auf der Straße verloren hatte. Er hoffte, dass sie den schwarzen Mann bemerken und wegrennen würde. Er wollte ihr zurufen, sie solle weglaufen, aber sein Mund war zum Schweigen verdammt. Er war mittellos, ging hinter dem Mann im schwarzen Mantel her und musste mit ansehen, wie dieser das kleine Mädchen packte und in eine kleine Seitenstraße zerrte. Oliver kannte die Straße. Er kannte die ganze Stadt. Das war die Stadt, in der er studierte. Der schwarze Mann verschwand mit dem Mädchen in der Seitenstraße und Oliver ging hinterher. Als er einen Blick hinein werfen konnte, sah er den schwarzen Mann über das kleine Mädchen gebeugt, die Hände um den Hals gedrückt. Das Mädchen bewegte sich nicht mehr und Oliver spürte sein Herz in der Brust schneller schlagen. Er musste jetzt hier weg, jeden Augenblick konnte der Mörder sich umdrehen und wenn er Oliver sah, würde er ihn genauso erwürgen, wie er es mit dem kleinen Mädchen getan hatte. Oliver sah auf seine rebellischen Füße herab. Sie bewegten sich nicht. Sie sahen aus, als wenn sie eine ganze Ewigkeit hier stehenbleiben wollten. Als er so auf seine ungehorsamen Füße starrte, bemerkte er, dass sie in keine Richtung einen Schatten warfen, obwohl er in der Nähe einer Straßenlaterne stand. Selbst einen Schatten verweigerte ihm sein Körper. Er konnte nicht sprechen, nicht gehen und warf nicht einmal einen Schatten auf den Straßenboden. Plötzlich fiel ihm der schwarze Mann wieder ein, der gut fünfzig Meter von ihm entfernt gerade aufgestanden war. Oliver hielt den Atem an. Der Fremde drehte sich wie in Zeitlupe um, der Schrecken in Oliver wuchs dabei stetig an. Gleich würde er ihn sehen. Wenn er den Kopf noch etwas mehr herumdrehte, dann war es zu spät. Olivers Füße standen noch immer still. Der Fremde drehte sich um und blickte ohne Umschweife in Olivers Augen. Olivers Blick wurde genau so starr, wie seine Füße es waren, er konnte den Blick nicht vom schwarzen Mann abwenden. Auge in Auge stand er einem Mörder gegenüber. Dieser setzte sich jetzt in Bewegung, kam auf Oliver zu. Schneller und immer schneller kam der schwarze Mann näher, den Blick nicht einmal von Olivers Augen abgewendet.

In dem Moment wachte Oliver auf. Er saß aufrecht in seinem Bett, das Gesicht verschwitzt. Ein lautes „Nein!“ entrann seinem Mund. Er konnte wieder sprechen. Den Schrecken in seiner Erinnerung, sah er sich im Zimmer um. Alles normal. Alles in Ordnung. Auch seine Füße gehorchten ihm wieder. Er machte Licht an und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen und um sich zu beruhigen. Er erinnerte sich noch immer an den Blick des Fremden. Seine Augen, sie waren so dunkel gewesen. Das dunkelste Schwarz, was Oliver je gesehen hatte. An das Gesicht konnte er sich aber nicht erinnern. Nur an die Augen, aus denen pure Boshaftigkeit ihre schwarze Aura verbreitete. Unheimlich. Als er in der Küche das Licht einschaltete, spürte er diesen Blick auf sich, oder vielmehr in seinem Nacken. Er drehte sich um. Nichts. Kein schwarzer Mann. Kein Mörder. Nur seine Wohnung.

Träume dieser Art wiederholten sich in den folgenden Nächten immer wieder. Nacht für Nacht musste Oliver mit ansehen, wie der schwarze Mann Jagd auf Unschuldige machte, sie mit bloßen Händen erwürgte und immer, wenn er Blickkontakt mit dem Mörder hatte, wachte er kurze Zeit später auf. Er nahm sich vor, auf das Gesicht des Mörders zu achten, aber immer wieder wurden seine Augen von denen des Fremden eingefangen. So sehr er sich auch konzentrierte, er konnte nicht sehen, um wen es sich bei seinem Gegenüber handelte.
 

Deathrider

The Dude
Der Schock erfolgte am Dienstagmorgen, als er mal wieder in der Zeitung blätterte. Dort wurde berichtet, dass in einer kleinen Seitenstraße ein zehnjähriges Mädchen (Louise Fischer, alle Namen geändert) erwürgt aufgefunden worden sei. Die Polizei würde die Bevölkerung um Hinweise bitten. Olivers Appetit verflüchtigte sich abermals. Die Beschreibung des Opfers passte genau zu dem kleinen Mädchen in seinem ersten Traum. Er grübelte über die möglichen Zusammenhänge nach. Vielleicht kannte er, Oliver, den Täter und konnte dieses Verbrechen auflösen, ohne aktiv dabei gewesen zu sein. Vielleicht war er eine Art Medium geworden, dass schlimme Dinge vorhersehen und verhindern konnte, bevor sie eintraten. Vielleicht... aber diese Spekulationen brachten ihn nicht weiter. Selbst wenn er irgendwie geträumt hatte, wie das Verbrechen passierte, konnte er keine Hinweise geben. Er hatte nur eine ummantelte Gestalt und schwarze Augen gesehen.

Wie jeden Abend seit der letzten Woche, träumte er wieder vom schwarzen Mann. Doch dieses Mal war es anders. Er folgte dem Mörder dichter als sonst und er hatte auch nicht mehr diese Angst, von ihm entdeckt zu werden. Er folgte ihm, wie ein Schatten seinem Besitzer durch die Nacht folgt. Schatten. Oliver schaute kurz zu Boden. Der Mann hatte keinen Schatten. Sie gingen an einer Straßenlaterne vorbei. Immer noch kein Schatten. Was hatte das nur zu bedeuten?
Plötzlich tauchte ein kleiner Junge vor ihnen auf. Eiskalt und ohne zu zögern bewegte sich der schwarze Mann zusammen mit Oliver auf den Jungen zu. Ohne Worte wurde der Junge in eine kleine Gasse gezogen, eine Hand vor dem Mund, die andere schon um den Hals gelegt. Voller Ungeduld wartete Oliver auf das Ableben des Kindes, damit der Täter sich umdrehen würde. Aber während er wartete, merkte er, wie er auf die Seite des Jungen gezogen wurde. Vermutlich eine Reaktion auf seine erwartende Haltung. Das Gesicht des schwarzen Mannes sollte gleich erkennbar werden.
Plötzlich hörte Oliver wieder auf zu atmen. Die Person in dem Mantel kannte er. Aber das war nicht möglich, das konnte doch nicht sein. Der Fremde hob den Blick, die Hände noch immer um den Hals des kleinen Jungen gelegt. Oliver starrte ihm in die Augen, wie er es die Nächte davor getan hatte, konnte den Blick diesmal aber auch auf den Rest des Gesichts werfen. Ein Grinsen machte sich auf dem Mund des Mörders breit. Dann hörte Oliver ihn lachen. Diese Stimme. Auch diese Stimme erkannte er. Er wusste genau, wem sie gehörte, aber warum war es diese Stimme und keine andere? Das konnte doch unmöglich sein. Das Lachen noch immer hörend, wachte er auf. Die Routine der letzten Nächte zog ihn wieder in die Küche. Aber statt nach einem Glas Wasser oder Apfelsaft zu greifen, nahm er die Flasche Korn. Er kannte den Mörder jetzt - sofern seine Träume wirklich prophetisch waren - aber er konnte ihn nicht an die Polizei verraten, weil er unmöglich für die Tat in Frage kam. Niedergeschmettert legte er sich wieder zu Bett.

Am nächsten Morgen schlug Oliver die Augen auf, bevor sein Wecker klingelte. Im Halbschlaf schleifte er sich ins Badezimmer, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es wirklich Zeit zum Aufstehen war. Er schaute in den Spiegel überm Waschbecken. Gegenüber sah er das Gesicht des schwarzen Mannes aus seinem Traum. Stand er wirklich einem Mörder gegenüber? War das möglich? Das Gesicht gehörte ihm. Jahrelang schon sah er es morgens im Spiegel, doch letzte Nacht hatte er es erstmals als das Gesicht eines Mörders entlarvt. So einen Traum hatte er noch nie. Sich selbst in der Rolle des Bösen zu sehen, merkwürdig.
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er schaute in die Augen seines Spiegelbilds. Graublau. Nicht schwarz. Wenigstens ein Detail, was nicht stimmte. Wären seine Augen auf einmal schwarz gewesen, hätte er an seinem Verstand gezweifelt, was er ohnehin schon fast tat. Welcher normale Mensch glaubt schon daran, dass seine Träume etwas Übersinnliches enthalten, was mit realen Ereignissen wie einem Kindermord zusammenhängt?
Er wusch sich, putzte die Zähne und rasierte die morgendlichen Bartstoppeln aus seinem Gesicht. Zuletzt warf er noch einmal einen genauen Blick in seine Augen. Er lächelte und dachte bei sich, dass er wohl wirklich langsam den Verstand verlor. Er verließ das Bad und ging seinem Tagesplan nach.

In der folgenden Nacht verlor er die Kontrolle über sich selbst. Gegen Mitternacht öffnete er die Augen und spürte, wie er in seinem eigenen Zimmer von ihm unbekannten Kräften in die Höhe gezogen wurde. Er wollte sich wehren, zurück ins Bett, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Zuerst dachte er daran, dass er nur träumen würde, aber er hatte Angst, dass dies kein Traum war. Träume wirkten nicht so real. Er sah sein Zimmer, hörte das Ticken der Wanduhr und das leise Brummen seines Digitalweckers. Selbst den Geruch in seinem Zimmer erkannte er. Erst als sich die Zimmertür öffnete, erkannte er, dass er einen alten Bekannten vor sich hatte: Seinen eigenen Schatten. Wie eine willenlose Puppe wurde er hinter seinem Schatten hergezogen. Dieser ging aus der Wohnung und auf die Straße hinaus. Olivers Angst verwandelte sich langsam aber sicher in Panik. Er betete, dass es sich doch um einen Traum handeln möge und er aufwachen würde. Aber wenn es ein Traum war, dann war die Zeit des Erwachens noch nicht gekommen. Stattdessen folgte er dem eigenen Schatten, der sich jetzt allmählich in eine dreidimensionale Gestalt verwandelte. Oliver hingegen spürte, wie sein Körper an Masse verlor bis er schließlich zu einem zweidimensionalen Abbild der Gestalt wurde. Er versuchte, sich zu wehren. Seine gesamte Willenskraft bot er auf, um doch etwas gegen dieses merkwürdige Geschehen zu tun. Zwecklos. Oliver verlor den Kampf und merkte, wie er zu einem unscheinbaren Nachtgeschöpf wurde, das dazu verdammt war, seinem Besitzer, dem schwarzen Mann, zu folgen.
Die Zeit wurde endlos. Olivers Panik verwandelte sich in reine Mutlosigkeit und Wehmut. Es war ihm nicht gelungen, seinen Körper zurück zu bekommen. Alles was er tun konnte, war zu hoffen, dass dieser Alptraum vorüber ging. Es musste doch ein Alptraum sein.

Der schwarze Mann ging in die Stadt. Heute war es endlich soweit. Das Warten hatte sich gelohnt. Heute würde er seiner Hölle entkommen. Jahrelang war er dazu verdammt gewesen, den Schatten dieses Nichtsnutzes zu spielen. Aber das war jetzt vorbei. Heute übernahm er die Kontrolle. Er würde einen drastischen Wendepunkt in das Leben von Oliver bringen und war dann endlich frei.
Er machte sich auf die Suche nach einem neuen Opfer. Eines musste er noch darbringen, um die endgültige Macht über diesen Körper zu erlangen. Er erspähte einen Wagen, der zwei Querstraßen vor ihm hielt und eine angeheiterte junge Frau entstieg dem Wagen. Sie hauchte einen Kuss über ihre Hand in den Wagen.
Perfekt. Genau das, was er suchte. Mit leicht beschleunigtem Gang bewegte er sich auf die Frau zu.

Oliver bemerkte, wie die Panik in ihm brodelte. Er spürte die Gedanken seines neuen Besitzers, als dieser auf die junge Frau zuging. Bitte nicht, dachte er, bitte nicht. Aber sein Bitten wurde nicht erhört. Wenn er noch Augen hätte, würde er sie jetzt schließen. Aber er hatte keine mehr. Er konnte nur noch wahrnehmen, was sein Besitzer sah. Willenlos, wie eine Kamera in den Augen des schwarzen Mannes, nahm er alles wahr, was passierte. Dabei hoffte er so sehr, dass er doch aufwachen würde. Hoffnung war in diesem Moment alles, was er noch hatte.

Der schwarze Mann spürte, wie sich sein Puls erhöhte. Das Geschah zum einen, weil er wusste, dass er es heute schaffen würde und zum anderen, weil er die Verzweiflung seines einstigen Besitzers spüren konnte. Die Frau drehte ihm momentan den Rücken zu. Gut. Schnellen Schrittes kam er näher. Seine Fäuste ballten sich. Seine rechte Hand holte noch im Gehen aus und mit voller Kraft rammte er sie in die rechte Niere der völlig überraschten Frau. Sie stieß einen Schrei aus und drehte sich dabei um. Ihr Blick deutete auf Überraschung und Schmerz. Bevor sie auch nur einen weiteren Laut von sich bringen konnte, schnellte die rechte Hand von Olivers neuem Besitzer hervor und packte sie an der Kehle. Die Hand schloss sich und scharfe, wenn auch kurze Fingernägel bohrten sich in ihren Hals hinein und drückten immer stärker zu. Ein wenig Blut kam unter den Fingernägeln zum Vorschein. Die Frau bekam keine Luft mehr und fing an, sich krampfhaft zu wehren. Sie griff mit beiden Händen nach den Fingern des Fremden, versuchte, sie von ihrem Hals zu lösen. Aber schon nach einem kurzen Moment vergeblichen Bemühens ließen ihre Kräfte nach. Sie bemerkte, wie sich schwarze Flecken in der Welt um sie herum häuften. Lange würde sie das nicht mehr aushalten. Ihr Bewusstsein würde sich verabschieden und dann hätte sie keine Chance mehr, diesen Angriff zu überleben. Also griff sie zu der einzigen Waffe, die ihr noch blieb und trat dem Angreifer mit aller Kraft zwischen die Beine.
Für einen Moment löste sich der Griff des schwarzen Mannes vom Hals seines jüngsten Opfers. Aber dieser Moment blieb kurz und weitere Gegenwehr blieb aus. Er vollendete sein Werk und nahm einem weiteren Menschen das Leben.
 

Deathrider

The Dude
Ein neuer Tag war angebrochen. Ein neuer Tag, der Klarheit bringen würde. Die Vögel zwitscherten im morgendlichen Licht, der Berufsverkehr fing an, lange Schlangen durch die Stadt zu ziehen. Zeitungsjungen verteilten ihre Post in der Stadt, die morgen über das Schicksal einer jungen Frau berichten würde, die gerade vom Leichenwagen in die Pathologie des Stadtkrankenhauses gebracht wurde.
Zur gleichen Zeit kaufte sich ein Mann in einem schwarzen Mantel am Stadtpark ein Schokoladencroissant und freute sich über sein neues Leben. Er setzte sich auf die Parkbank und nickte mehreren Leuten zu, die vorbeigingen. Einige grüßte er aus purer Höflichkeit und Freude darüber, dass er es geschafft hatte. Andere grüßte er mit einem einzigen Blick in die schwarzen Augen ihrer selbst, die sie hinter der normalen Augenfarbe verbargen. Sie wurden mehr und niemand konnte sie aufhalten. Sie würden sich aus dem Dunkel erheben und endlich bekommen, was ihnen zustand: Kontrolle über einen eigenen Körper, mit dem sie die Rache an denen ausüben konnten, denen sie seit Anbeginn der Zeit willenlos gehorchen mussten. Es lebe die Revolution.
 

Schneebauer

Targaryen
Der "Plottwist", wenn man es so nennen will, wurde mir recht schnell klar und war demnach auch keine große Überraschung. Vielleicht hätte man von Anfang an die Karten auf den Tisch legen sollen und die etwas lang geratene Einleitung kürzen können. Mir hats aber recht gut gefallen, obwohl das Ende einges an Interpretaionsspielraum lässt.

:top:
 

Clive77

Serial Watcher
Eine gute Geschichte, aber für meinen Geschmack etwas zu geradlinig. Man ist am Ende irgendwie nicht wirklich überrascht, wie das Ganze ausgeht. Was mir aber gefällt, ist die aufgebaute Atmosphäre (ich hab' mich nur anfangs gefragt, was die Geschichte überhaupt mit einer Verschwörung zu tun haben soll - aber vielleicht war das beabsichtigt?)

Ich habe auch nicht so ganz verstanden,
weshalb Oliver so chancenlos bleibt. Hätte er nicht irgendwie in der Lage sein müssen, seinen "Schatten" aufzuhalten?
 

Schneebauer

Targaryen
Die Verbindung zur "Verschwörung" hab ich auch etwas vermisst. Allerdings kann man mit genug Phanatsie doch "Verschwörungen" erkennen.

z.B. könnten sich alle Mächte gegen Oliver verschworen haben und er deshalb unfähig war, sich zu wehren?

Bin auf die Auflösung des Autors gespannt. :smile:
 

Jizzle

Well-Known Member
Sehr gute Atmosphäre! Dadurch entsteht eine große Spannung! Chapeau! Erinnert mich an Hitchcock.

Aber leider gefällt mir der Rest absolut nicht.
Die Geschichte ist zu vorhersehbar und dafür sagt sie am Ende nichts für den gewöhnlichen Leser aus. Das Thema wird so auch auf den ersten Blick komplett verfehlt. Ich brauch die erklärung vom Autor. Aber ohne diese Erläuterung bleibt diese Geschichte belanglos und alles fällt am Ende wie ein Kartenhaus zusammen. Mir fehlt einfach die Message. Etwas was ich für mich persönlich mitnehmen kann. Eine eigeständige Idee fehlt mir.

Bin sehr auf die Auflösung gespannt, da das Ende doch nicht eindeutig ist. Vielleicht bin ich auch zu unfähig da was Großes hinter zu sehen.

Achja:
Beim Lesen stört mich die extreme Wiederholung des Vornamens. Das ist ja fast schon Mobbing :smile:

Aber insgesamt kann ich der Geschichte aufgrund der Atmo schon ein bisschen was abgewinnen!
 

Mrs. Rotwang

New Member
Oh mein Gott: das einzige woran ich denken konnte, als ich den Anfang las, war "Wat biste nur für ne Mutti geworden!". Erst scheint die Straßenlampe schwach in sein Zimmer und ich dachte "Hey, nur in vollkommener Dunkelheit kann der Körper zu einem gesunden Schlaf entspannen" und dann trinkt er ein Glas Apfelsaft und ich denk mir "Jetzt muss er aber nochmal Zähneputzen gehen, bei dem Fruchtzucker" -.-

Jetzt mal etwas konstruktiveres:
Eigentlich könnte ich komplett Schneebauers ersten Kommentar zitieren, er deckt nämlich vollkommen meine Meinung über diese Geschichte. Eine finstere Verschwörung sehe ich aber schon, nämlich in der begonnen Revolution der 'dunklen Hälften' der Menschen. Die Auferstehung des Es, sozusagen.
Die "Atmo" die Jizzle hier so begeistert hat, sehe ich leider gar nicht. Die Abläufe und die Stimmungsversuche waren mir allesamt zu banal. Die Uhrzeitenangaben haben mich, wie auch die Uniangaben genervt. Also, nicht dass es schlimm gewesen wäre, aber eine tatsächliche Atmosphäre erkenne ich erst mit dem Auftauchen des Schattens. Hitchcock hätte die stagnierende Alltagssituation am Anfang der Geschicht mMn wesentlich eleganter inszenieren können. Aber wer will sich schon mit Alfred battlen? Richtig: niemand!
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Eine ordentlich geschriebene Geschichte, die ich aber auch zu vorhersehbar und nicht sehr originell fand. Schon der Anfang mit der Hauptfigur, die schweißgebadet aus einem Alptraum auchwacht. Was die Verschwörung angeht, habe ich es so wie Mrs. Rotwang verstanden. Das würde aber bedeuten, dass die rebellischen "inneren Schatten" eigene Persönlichkeiten besitzen und miteinander kommunizieren können (sonst würden sie sich gegen ihre "Wirte" nicht verschwören können).
Und wenn er so oft Menschen in der unmittelbaren Umgebung tötet (geht ja zu Fuß raus und schnappt sich einfach jemanden), würde er aber schnell gepackt werden, denn sowas fällt auf. Der Autor sagt zwar, dass die Kriminalitätsrate stetig steigt (was zumindest für Deutschland nicht zutrifft, siehe hier), ist es doch so, dass die Anzahl der Mordopfer pro Jahr zurückgeht (Klick) und so eine Mordserie gerade in der ländlichen Gegend für deutlich mehr Wirbel sorgen würde. Wenn er in seinem schwarzen Mantel spazieren geht und viele Leute begrüßt, würden sich auch viele an ihn erinnern. Dann wäre es aber schnell vorbei mit seiner Rebellion:biggrin:

Insgesamt ist es aber dennoch eine solide Geschichte, die vielleicht auch einen Punkt von mir bekommen wird.

Bei Verehrsunfällen sterben übrigens zum Vergleich deutlich mehr Menschen als durch Gewaltverbrechen:
http://de.statista.com/statistik/da...age/verkehrstote-in-deutschland-monatszahlen/
 

Sittich

Well-Known Member
Hier habe ich eigentlich nichts zu ergänzen. Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen. Auch wenn die Geschichte recht langsam vorankam (und einigermaßen vorhersehbar war), kam bei mir beim Lesen keine Ungeduld auf. Das Thema Verschwörung wird hier ein wenig überschattet (ne, zu gewollte Wortspiele kommen nicht gut :squint:) spielt hier im Grunde eine untergeordnete Rolle. Ich sehe da eigentlich auch nur die Andeutung am Ende. Davon abgesehen ist es halt die alltägliche Geschichte
vom Schatten, der sein Schicksal leid ist und der die Kontrolle über seinen Besitzer übernimmt. :wink:
 

Clive77

Serial Watcher
o.k. - das hier war meine Geschichte. Vielleicht kurz zur Findung der Idee: Nach ausgiebigem Browsen in diversen Verschwörungsartikeln bei Wiki&Co stieß ich auf einen (sehr schlechten) Film mit dem Titel "Die Verschwörung im Schatten". Nebenbei hatte ich gerade die Folge "Night Terrors" (Doctor Who) gesehen, wo ein kleiner Junge in seinem Kinderzimmer unter Angstzuständen leidet, sobald er ins Bett soll. Beides verschmolz dann irgendwie zur Idee einer Verschwörung der Schatten.

Was ich hier am Ende abliefern wollte, war eine kleine Gruselgeschichte ohne großartigen Twist (oder einer Sex-Szene). Der Protagonist, dessen Namen ich in der Tat zu oft ausgeschrieben habe, sollte langsam in den "Schatten" gedrängt werden. Zunächst in seinen Träumen, dann des Nachts bei seinen "Aussetzern" und schließlich komplett. Und ja, Clive77, Oliver hatte dabei keine Chance auf Gegenwehr.

Eine tiefere Botschaft steckte in dieser Geschichte nicht drin - es war eben nur als unheimliche kleine Story gedacht. Zum Thema: Ich sehe es - wie oben geschrieben - als eine Verschwörung der Schatten. Ohne tieferen Sinn will zunächst Olivers Schatten die Kontrolle über dessen Körper haben und am Ende soll deutlich werden, dass der Protagonist nicht der einzige ist, dem solch ein Schicksal widerfahren ist (sie sind überall und es werden immer mehr :bibber: ).

Was die Kriminalitätsrate angeht: Da war überhaupt kein Bezug zur Realität angedacht, aber da ich ohnehin keine Angaben zur Stadt gemacht habe, lässt sich auch nicht nachprüfen, ob es nicht dort (in der einen Stadt) zumindest einen Trend dahin gibt. Da die Stadt eine Uni hat, ist sie größer und es gibt durchaus Großstädte, wo rein statistisch tagtäglich Morde begangen werden (auf die schnelle mal bei New York geschaut). Da fallen auch einzelne (schwarzgekleidete) Personen nicht unbedingt auf. Aber wie gesagt, die Geschichte sollte da ihre eigene "Realität" haben dürfen.

Jetzt bin ich auf jeden Fall schon auf die nächste Runde und das neue Thema gespannt.
 

Manny

Professioneller Zeitungsbügler
Ich wollte erst nach der Abstimmung was zu den Geschichten sagen, damit man nicht drauf kommt, welche meine ist.
Nun also zu deiner Geschichte:

Für mich war das Thema einfach nicht präsent genug.
Am Ende wusste ich zwar, wie du die Verschwörung eingebaut hast, aber irgendwie traf das das Thema dann in meinen Augen trotzdem nicht wirklich.
Denn so wie ich das sehe, gehört zu einer Verschwörung, dass diejnigen, gegen die sich verschworen wird, von der Existenz der Verschörer wissen.
So würde ich das eher als Invasion sehen.

Ansonsten war die Geschichte aber ganz gut geschrieben.
 

Clive77

Serial Watcher
Manny schrieb:
Ich wollte erst nach der Abstimmung was zu den Geschichten sagen, damit man nicht drauf kommt, welche meine ist.
Hat nichts genutzt - hätten wir einen Wett-Thread zum Thema, hätte ich diesmal alle Geschichten richtig zugeordnet.
Außerdem macht es doch am meisten Spaß, die eigene Geschichte zu kommentieren...

Manny schrieb:
Für mich war das Thema einfach nicht präsent genug.
Am Ende wusste ich zwar, wie du die Verschwörung eingebaut hast, aber irgendwie traf das das Thema dann in meinen Augen trotzdem nicht wirklich.
Denn so wie ich das sehe, gehört zu einer Verschwörung, dass diejnigen, gegen die sich verschworen wird, von der Existenz der Verschörer wissen.
So würde ich das eher als Invasion sehen.
Naja, das Thema darf auch nur am Rande vorkommen. Es heißt schließlich "muss für den Plot relevant sein oder sonstwie behandelt werden" - die Diskussion hatten wir auch schon einmal.
Was Verschwörungen im Allgemeinen angeht: Ich verstehe darunter eher heimliche Bündnisse. Eine bestimmte Gruppe hat ein bestimmtes Ziel und will das umsetzen, aber eben nicht öffentlich (z.B. Bespitzelung durch die NSA, kriminelle Vereinigungen wie z.B. die Mafia, Wirtschaftskartelle oder sowas wie Staatsstreiche) oder falls öffentlich, dann nicht unter Bekanntgabe der Mitglieder (z.B. die Anonymus-Gruppe oder die Software- und Filmpiraten, die ihre Ware im Internet zum Download anbieten).
Entsprechend würde ich diese Geschichte als "heimliche" Invasion bezeichnen, was aber in meinen Augen nichts anderes als eine Verschwörung ist.
 
Oben