Clive77
Serial Watcher
„Das Leben ist eine Krankheit, die durch Geschlechtsverkehr übertragen wird und ausnahmslos tödlich endet.“ Das waren die Worte, die Sarah sich ihre Kindheit über von ihrem alleinerziehenden Vater anhören musste. Sarahs Gedanken an ihre Jugend und ihren Erzeuger ließen sie nicht los, als sie ihren Kopf in der Decke von Samuel vergrub und heulte, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr.
- Er hat Mamas Suizid nicht verkraftet. Das hat alles kaputt gemacht.
Sie weinte wie nur eine Mutter weinen kann, die kurz davor ist ihrem eigenen Kind Lebewohl zu sagen. Sie dachte zurück an die gemeinsame Zeit mit ihrem Sohn, der ihr Leben und auch sie entscheidend veränderte.
- So ein Blödsinn. So vieles passiert dazwischen, so vieles vor dem Tod! Papa hatte Unrecht. All das, was Samuel und ich hatten war keine Krankheit. Er war mein Gegengift. Jedes Wort, jede Umarmung, jeder Kuss, egal wie nass er auch war, schenkte mir Glück und Frieden. Dies alles war mehr als ich mir zuvor auch nur hätte ausmalen können. Jeder Moment mit ihm war ein Kosmos für sich und jede Erinnerung an uns ist ein einzelnes Leben. Nein! Die Zeit war nicht um sonst. Sie war so viel mehr!
Traurig blickte Sarah auf die Kanüle in Samuels Arm. Danach kramte sie ein Foto aus ihrer Jeanshose und blickte auf ihre Familie. Sie sah ihren Mann, Amy, Samuel und sich selber an einem lauwarmen Sommertag im eigenen riesigen Garten. Alle strahlten vor Glück um die Wette.
- Geld, Liebe und Geborgenheit. Ich habe all dies erreicht, aber der dumme alte Spruch mit der Gesundheit bleibt der einzig wahre.
Als sie sich selber auf dem Foto sah, fiel ihr wieder ein, dass sie ein Septum trug und eine eintätowierte schwarze Rose von ihrer Brust bis zu ihrem rechten Auge emporragte. Dazu betrachtete sie ihre stolzen blauen Augen und ihren glatt rasierten Schädel. Ihr rebellisches Aussehen hatte sie durch die Anstrengung der letzten Monate fast vergessen. Sie fühlte sich nur noch wie eine Mutter, die Angst hat ihr Kind zu verlieren und nicht mehr wie ein vollkommen eigenständiges Wesen, aber dies war überhaupt nicht schlimm für sie. Sarah hatte sich noch nie besser gefühlt. Vorsichtig tastete sie ihr Septum ab, als ob es ein Fremdkörper an ihr war, das nicht mehr zu ihr passte. Danach fuhr sie mit ihren Fingern über ihre Kopfhaut, um ihre kurzen Stoppel zu spüren, bis sie bemerkte, dass sie eine Mütze trug. Sie erinnerte sich zurück an das, was Samuel noch kurz vor der Diagnose zu ihr sagte.
- Du bist keine typische Mama. Du kannst beatboxen, du fährst Longboard mit uns und niemand kann sooo schön singen, wenn wir nachts nicht einschlafen können. Deshalb bist du toll. Wir lieben dich. Unsere Mama ist ein Kunstwerk und sie hat uns mit Liebe gemalt.
Diese Worte wärmten Sarah, aber das schlechte Gewissen für die Todesangst ihres Sohnes verantwortlich zu sein ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie fühlte sich so allein, als ob niemand mehr zu ihr hielt, bis auf Amy. Sie wusste ganz genau, was die Ärztin von ihr wollte, als sie an Sarah herantrat und zu ihr sprach.
- Es ist nicht Ihre Schuld. Glauben Sie mir, sein Körper war schwach. Sie haben Ihr Bestes gegeben und um das Leben Ihres Sohnes gekämpft. Sie haben ihn mit Ihrer Liebe so lange wie es nur ging am Leben gehalten.
- Das Beste? Er hatte Angst. Er wollte nicht fliegen und ich habe ihn gezwungen. Ich bin dafür verantwortlich, dass er jetzt so schwach ist. All seine Freunde wussten, dass er das Fliegen hasst. Ich habe ihn dennoch überredet. Wie kann ich dann eine gute Mutter sein?
Sarahs Stimme brach langsam weg. Sie zog nervös ihre Mütze aus und strich über ihre Haare, die gar nicht mehr so kurz waren, wie sie dachte. Die Ärztin schaute sie irritiert an.
- Die Operation war seine letzte Chance. Er musste in die Schweiz transportiert werden, da sein Zustand kritisch war. Es ist die beste Spezialklinik für Leukämie, mit dem besten Equipment und mit tollen Kollegen. Es war die einzig richtige Entscheidung ihn dort operieren zu lassen. Deswegen habe ich Sie begleitet, wie auch in den letzten Monaten.
- Er wollte es aber nicht! Verstehen Sie das nicht! Ich habe ihn gezwungen. Ich wollte ihn niemals zwingen zu fliegen. Er hatte doch so große Angst dem Himmel so nah zu sein. Er wollte doch nur hier auf der Erde bei seiner Familie bleiben, als er erfuhr, dass sein Körper schwächer ist als andere. Das ist alles nur meine Schuld und nun liegt er da.
Sarah fing an zu weinen. Behutsam wählte die Ärztin jedes Wort. Sie sprach langsam und verständnisvoll zu Sarah.
- Samuel hat Sie geliebt und er wusste, dass Sie das Richtige tun. Sie sind eine gute Mutter, vielleicht die Beste, dich ich jemals gesehen habe. Sie haben für ihren Sohn gekämpft und das mit allen Mitteln! Aber der Kampf ist verloren und zwar seit Wochen. Doch Sie können andere Menschen retten, wenn Sie Ihren Sohn endlich gehen lassen.
- Wenn ich das Richtige getan hätte würde er jetzt nicht einfach so da liegen. Lassen Sie mich also nun in Ruhe! Bitte! Ich kann nicht mehr!
Sarah fühlte sich bedroht. Ein Blitzen war in ihren Augen zu erkennen. Wie eine Löwin umklammerte sie den Körper ihres Sohnes, küsste seine Stirn und sah die Ärztin mit einem Blick an, den nur eine Mutter entwickeln konnte. Die Ärztin wich erschrocken zurück, als ob sie geahnt hätte welche Konsequenzen ihr drohen könnten, wenn sie Sarahs Jungen zu nahe treten würde.
- Gehen Sie weg! Auch Sie kriegen meinen Sohn nicht!
- Bitte seien Sie doch vernünftig. Wir brauchen seine Organe, ehe es zu spät ist. Menschenleben hängen davon ab. Das versuche ich Ihnen die ganze Zeit zu erklären.
- Er ist ein Mensch. Es geht um sein Leben.
- Und was ist mit Amy? Sie ist sehr schwach. Sie müssen an sie denken!
Sarah erschrak in dem Moment. Die Ärztin hatte recht. Sie hatte immerhin noch eine Tochter, ein weiteres Kind, das sie ebenfalls über alles liebte. Die Müdigkeit ließ ihre Gedanken immer unklarer werden. Sarah hatte sich in ihrer Kindheit eigentlich geschworen nie jemanden zu lieben. Sie wollte nicht enden wie ihr Vater, der nach dem frühen Tod von Sarahs Mutter nie mehr in der Lage war, jemanden zu lieben wie sie und nie wieder tiefe Gefühle empfinden konnte und alles andere von sich wies. Deshalb wollte sie gar nicht erst damit anfangen ihr Herz zu öffnen, etwas zu säen das am Ende nur verwelkt und dadurch angreifbar zu sein. Doch nach Samuels und Amys Geburten wurden die Ängste zu Plattitüden und alle Vorsätze waren dahin.
Nicht nur mit ihrem Mann, auch mit ihrer Halbschwester hatte sie sich zerstritten. Beide warfen ihr vor, sich nicht um Amy, sondern sich nur um Samuel zu kümmern, selbst dann als es für Samuel viel zu spät war. In den letzten Wochen wurden die Vorwürfe immer schlimmer, bis man im Streit auseinander ging. Die Leukämieerkrankung hatte ihre halbe Familie auseinandergerissen. Amy hatte sich als einzige nie beklagt. Es schien so, als ob es ein unsichtbares Band zwischen Sarah, Samuel und ihr gab, das sie auf ewig binden sollte und das nichts und niemand jemals zerschneiden könnte, auch nicht der Tod.
Tief in ihrem Herzen spürte Sarah, dass sie etwas ändern musste. Sie drehte sich um und sah wie abgemagert und zerbrechlich ihre kleine Tochter war. Trotz der schlimmen Umstände schlief sie tief und fest. Die Ärztin trat erneut an Sarah heran, diesmal wirkte ihr Ton flehender.
- Hören Sie. Es ist keine Sterbehilfe wenn Sie ihn gehen lassen. Ihr Sohn lebt schon seit über einem Monat nicht mehr, aber es ist direkte Sterbehilfe, wenn Sie nicht an Ihre Tochter denken. Sie helfen ihr dabei zu sterben! Sehen Sie das denn nicht? Sie braucht Samuels Energie. Das Herz ihres Sohnes schlägt schon lange nicht mehr.
- Holen Sie bitte noch einen anderen Arzt. Ich möchte noch ein letztes Mal eine weitere Meinung hören, ob es für ihn wirklich zu spät ist. Vielleicht lebt er noch?
Sarah streichelte Sam ein letztes Mal und strich ihm seine Haare aus dem Gesicht. Für sie hatte sich sein Lächeln in den letzten Wochen nicht verändert. Die Ärztin sah Sarah ratlos an und nahm ihre Hand. Ganz ruhig sprach sie zu Sarah. Dennoch merkte man ihrer Stimme an, dass sie Schmerzen hatte. Sarah blickte auf die dünnen Finger der Ärztin, die fast nur noch aus Knochen bestanden.
- Frau Mayer, wissen Sie wirklich nicht wo wir sind? Das hier ist kein Krankenhaus! Ist Ihnen das nicht bewusst? Seit fast neun Wochen befinden wir uns woanders. Schauen Sie sich doch um. Wachen Sie auf! Sie dürfen jetzt nicht halluzinieren! Bleiben Sie bei Verstand, auch wenn es schwer fällt.
Erst jetzt registrierte Sarah wieder den kalten Atem der Ärztin sowie ihre blau angelaufenen Lippen. Sarah schaute sich die Ärztin genauer an. Die Frau trug den Joggingpullover ihres Mannes. Ihr Gesicht war mit vielen Narben gezeichnet. Die modischen schwarzen Handschuhe von Sarahs Halbschwester waren bereits abgenutzt und die knochigen Finger der Ärztin, die sie die letzten Monate begleitet hatte, stachen hervor. Sarah schaute sich nun genauestens ihre Umgebung an.
Wände und Fenster gab es nicht. Ein kalter Wind wehte ihr in diesem Moment entgegen. Sie blickte sich in der Höhle um, in der sie sich befanden. In Wirklichkeit handelte es sich eher um einen größeren Felsspalt unweit der Absturzstelle, der leicht überdacht war und in den es in diesem Moment hineinschneite. Die Ärztin ließ ihre Hand nicht los und lächelte sie an. Erst jetzt bemerkte Sarah, dass der Frau die vorderen Schneidezähne fehlten.
- Er hat Mamas Suizid nicht verkraftet. Das hat alles kaputt gemacht.
Sie weinte wie nur eine Mutter weinen kann, die kurz davor ist ihrem eigenen Kind Lebewohl zu sagen. Sie dachte zurück an die gemeinsame Zeit mit ihrem Sohn, der ihr Leben und auch sie entscheidend veränderte.
- So ein Blödsinn. So vieles passiert dazwischen, so vieles vor dem Tod! Papa hatte Unrecht. All das, was Samuel und ich hatten war keine Krankheit. Er war mein Gegengift. Jedes Wort, jede Umarmung, jeder Kuss, egal wie nass er auch war, schenkte mir Glück und Frieden. Dies alles war mehr als ich mir zuvor auch nur hätte ausmalen können. Jeder Moment mit ihm war ein Kosmos für sich und jede Erinnerung an uns ist ein einzelnes Leben. Nein! Die Zeit war nicht um sonst. Sie war so viel mehr!
Traurig blickte Sarah auf die Kanüle in Samuels Arm. Danach kramte sie ein Foto aus ihrer Jeanshose und blickte auf ihre Familie. Sie sah ihren Mann, Amy, Samuel und sich selber an einem lauwarmen Sommertag im eigenen riesigen Garten. Alle strahlten vor Glück um die Wette.
- Geld, Liebe und Geborgenheit. Ich habe all dies erreicht, aber der dumme alte Spruch mit der Gesundheit bleibt der einzig wahre.
Als sie sich selber auf dem Foto sah, fiel ihr wieder ein, dass sie ein Septum trug und eine eintätowierte schwarze Rose von ihrer Brust bis zu ihrem rechten Auge emporragte. Dazu betrachtete sie ihre stolzen blauen Augen und ihren glatt rasierten Schädel. Ihr rebellisches Aussehen hatte sie durch die Anstrengung der letzten Monate fast vergessen. Sie fühlte sich nur noch wie eine Mutter, die Angst hat ihr Kind zu verlieren und nicht mehr wie ein vollkommen eigenständiges Wesen, aber dies war überhaupt nicht schlimm für sie. Sarah hatte sich noch nie besser gefühlt. Vorsichtig tastete sie ihr Septum ab, als ob es ein Fremdkörper an ihr war, das nicht mehr zu ihr passte. Danach fuhr sie mit ihren Fingern über ihre Kopfhaut, um ihre kurzen Stoppel zu spüren, bis sie bemerkte, dass sie eine Mütze trug. Sie erinnerte sich zurück an das, was Samuel noch kurz vor der Diagnose zu ihr sagte.
- Du bist keine typische Mama. Du kannst beatboxen, du fährst Longboard mit uns und niemand kann sooo schön singen, wenn wir nachts nicht einschlafen können. Deshalb bist du toll. Wir lieben dich. Unsere Mama ist ein Kunstwerk und sie hat uns mit Liebe gemalt.
Diese Worte wärmten Sarah, aber das schlechte Gewissen für die Todesangst ihres Sohnes verantwortlich zu sein ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie fühlte sich so allein, als ob niemand mehr zu ihr hielt, bis auf Amy. Sie wusste ganz genau, was die Ärztin von ihr wollte, als sie an Sarah herantrat und zu ihr sprach.
- Es ist nicht Ihre Schuld. Glauben Sie mir, sein Körper war schwach. Sie haben Ihr Bestes gegeben und um das Leben Ihres Sohnes gekämpft. Sie haben ihn mit Ihrer Liebe so lange wie es nur ging am Leben gehalten.
- Das Beste? Er hatte Angst. Er wollte nicht fliegen und ich habe ihn gezwungen. Ich bin dafür verantwortlich, dass er jetzt so schwach ist. All seine Freunde wussten, dass er das Fliegen hasst. Ich habe ihn dennoch überredet. Wie kann ich dann eine gute Mutter sein?
Sarahs Stimme brach langsam weg. Sie zog nervös ihre Mütze aus und strich über ihre Haare, die gar nicht mehr so kurz waren, wie sie dachte. Die Ärztin schaute sie irritiert an.
- Die Operation war seine letzte Chance. Er musste in die Schweiz transportiert werden, da sein Zustand kritisch war. Es ist die beste Spezialklinik für Leukämie, mit dem besten Equipment und mit tollen Kollegen. Es war die einzig richtige Entscheidung ihn dort operieren zu lassen. Deswegen habe ich Sie begleitet, wie auch in den letzten Monaten.
- Er wollte es aber nicht! Verstehen Sie das nicht! Ich habe ihn gezwungen. Ich wollte ihn niemals zwingen zu fliegen. Er hatte doch so große Angst dem Himmel so nah zu sein. Er wollte doch nur hier auf der Erde bei seiner Familie bleiben, als er erfuhr, dass sein Körper schwächer ist als andere. Das ist alles nur meine Schuld und nun liegt er da.
Sarah fing an zu weinen. Behutsam wählte die Ärztin jedes Wort. Sie sprach langsam und verständnisvoll zu Sarah.
- Samuel hat Sie geliebt und er wusste, dass Sie das Richtige tun. Sie sind eine gute Mutter, vielleicht die Beste, dich ich jemals gesehen habe. Sie haben für ihren Sohn gekämpft und das mit allen Mitteln! Aber der Kampf ist verloren und zwar seit Wochen. Doch Sie können andere Menschen retten, wenn Sie Ihren Sohn endlich gehen lassen.
- Wenn ich das Richtige getan hätte würde er jetzt nicht einfach so da liegen. Lassen Sie mich also nun in Ruhe! Bitte! Ich kann nicht mehr!
Sarah fühlte sich bedroht. Ein Blitzen war in ihren Augen zu erkennen. Wie eine Löwin umklammerte sie den Körper ihres Sohnes, küsste seine Stirn und sah die Ärztin mit einem Blick an, den nur eine Mutter entwickeln konnte. Die Ärztin wich erschrocken zurück, als ob sie geahnt hätte welche Konsequenzen ihr drohen könnten, wenn sie Sarahs Jungen zu nahe treten würde.
- Gehen Sie weg! Auch Sie kriegen meinen Sohn nicht!
- Bitte seien Sie doch vernünftig. Wir brauchen seine Organe, ehe es zu spät ist. Menschenleben hängen davon ab. Das versuche ich Ihnen die ganze Zeit zu erklären.
- Er ist ein Mensch. Es geht um sein Leben.
- Und was ist mit Amy? Sie ist sehr schwach. Sie müssen an sie denken!
Sarah erschrak in dem Moment. Die Ärztin hatte recht. Sie hatte immerhin noch eine Tochter, ein weiteres Kind, das sie ebenfalls über alles liebte. Die Müdigkeit ließ ihre Gedanken immer unklarer werden. Sarah hatte sich in ihrer Kindheit eigentlich geschworen nie jemanden zu lieben. Sie wollte nicht enden wie ihr Vater, der nach dem frühen Tod von Sarahs Mutter nie mehr in der Lage war, jemanden zu lieben wie sie und nie wieder tiefe Gefühle empfinden konnte und alles andere von sich wies. Deshalb wollte sie gar nicht erst damit anfangen ihr Herz zu öffnen, etwas zu säen das am Ende nur verwelkt und dadurch angreifbar zu sein. Doch nach Samuels und Amys Geburten wurden die Ängste zu Plattitüden und alle Vorsätze waren dahin.
Nicht nur mit ihrem Mann, auch mit ihrer Halbschwester hatte sie sich zerstritten. Beide warfen ihr vor, sich nicht um Amy, sondern sich nur um Samuel zu kümmern, selbst dann als es für Samuel viel zu spät war. In den letzten Wochen wurden die Vorwürfe immer schlimmer, bis man im Streit auseinander ging. Die Leukämieerkrankung hatte ihre halbe Familie auseinandergerissen. Amy hatte sich als einzige nie beklagt. Es schien so, als ob es ein unsichtbares Band zwischen Sarah, Samuel und ihr gab, das sie auf ewig binden sollte und das nichts und niemand jemals zerschneiden könnte, auch nicht der Tod.
Tief in ihrem Herzen spürte Sarah, dass sie etwas ändern musste. Sie drehte sich um und sah wie abgemagert und zerbrechlich ihre kleine Tochter war. Trotz der schlimmen Umstände schlief sie tief und fest. Die Ärztin trat erneut an Sarah heran, diesmal wirkte ihr Ton flehender.
- Hören Sie. Es ist keine Sterbehilfe wenn Sie ihn gehen lassen. Ihr Sohn lebt schon seit über einem Monat nicht mehr, aber es ist direkte Sterbehilfe, wenn Sie nicht an Ihre Tochter denken. Sie helfen ihr dabei zu sterben! Sehen Sie das denn nicht? Sie braucht Samuels Energie. Das Herz ihres Sohnes schlägt schon lange nicht mehr.
- Holen Sie bitte noch einen anderen Arzt. Ich möchte noch ein letztes Mal eine weitere Meinung hören, ob es für ihn wirklich zu spät ist. Vielleicht lebt er noch?
Sarah streichelte Sam ein letztes Mal und strich ihm seine Haare aus dem Gesicht. Für sie hatte sich sein Lächeln in den letzten Wochen nicht verändert. Die Ärztin sah Sarah ratlos an und nahm ihre Hand. Ganz ruhig sprach sie zu Sarah. Dennoch merkte man ihrer Stimme an, dass sie Schmerzen hatte. Sarah blickte auf die dünnen Finger der Ärztin, die fast nur noch aus Knochen bestanden.
- Frau Mayer, wissen Sie wirklich nicht wo wir sind? Das hier ist kein Krankenhaus! Ist Ihnen das nicht bewusst? Seit fast neun Wochen befinden wir uns woanders. Schauen Sie sich doch um. Wachen Sie auf! Sie dürfen jetzt nicht halluzinieren! Bleiben Sie bei Verstand, auch wenn es schwer fällt.
Erst jetzt registrierte Sarah wieder den kalten Atem der Ärztin sowie ihre blau angelaufenen Lippen. Sarah schaute sich die Ärztin genauer an. Die Frau trug den Joggingpullover ihres Mannes. Ihr Gesicht war mit vielen Narben gezeichnet. Die modischen schwarzen Handschuhe von Sarahs Halbschwester waren bereits abgenutzt und die knochigen Finger der Ärztin, die sie die letzten Monate begleitet hatte, stachen hervor. Sarah schaute sich nun genauestens ihre Umgebung an.
Wände und Fenster gab es nicht. Ein kalter Wind wehte ihr in diesem Moment entgegen. Sie blickte sich in der Höhle um, in der sie sich befanden. In Wirklichkeit handelte es sich eher um einen größeren Felsspalt unweit der Absturzstelle, der leicht überdacht war und in den es in diesem Moment hineinschneite. Die Ärztin ließ ihre Hand nicht los und lächelte sie an. Erst jetzt bemerkte Sarah, dass der Frau die vorderen Schneidezähne fehlten.