Kritik:
Der Mieter
von Christian
Westhus
The Lodger
(1927) Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: Ivor Novello
Story:
Ein Frauenmörder geht in London
um und eine Vermieterin verdächtigt bald ihren unheimlich wirkenden Untermieter,
der Mörder zu sein, der in der Presse meist „Avenger“ (Rächer) genannt wird.

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Kritik:
Alfred Hitchcocks dritte Regiearbeit wird und wurde meist, u.a. von
Hitchcock selbst, als sein erster richtiger Film betitelt. Während „The Pleasure
Garden“ noch den Eindruck der Auftragsarbeit macht, die der Film tatsächlich
war, und während der nachfolgende „The Mountain Eagle“ mittlerweile verschollen
ist, entwickelte sich Hitch bei „The Lodger“ kreativ deutlich weiter. Aus der
Not geboren und schließlich zum Markenzeichen geworden, ist dieser Film auch der
erste, der einen der berühmten Hitchcock-Cameos besitzt.
Die Romanverfilmung ist deutlich von den Morden Jack the Rippers inspiriert und
ist in jeglicher Hinsicht eine enorme Steigerung zum Debüt-Film. Schon die
Einführung in die Geschichte, wenn mit Leuchtschrift („To-Night, Golden Curls!“),
rückbeleuchteten Haaren, Zeitungsausschnitten und einem höchst effizienten
Schnitt die Situation erklärt wird, ist grandios gemacht. In der Stadt brütet
die Angst, noch geschürt durch die Medien, und weil es der Mörder auf blonde
Frauen abgesehen hat, gelten besonders die als gefährdet.
Erst nach 15 Minuten erscheint die Hauptfigur und Ivor Novello legt geisterhaft
den Grundstein für eine grandiose Performance. Seine schiere Präsenz weckt
Unbehagen und wie er halb maskiert auf der Türschwelle steht und in typischer
Stummfilm-Theatralik eintritt, hat etwas Unheimliches.
Die Tochter des Vermieterpaares, Daisy, ist natürlich jung und blond und damit
gefährdet, obwohl sie mit einem Polizisten verlobt ist. Auch bei der Familie und
dem Polizisten geht nun der Verdacht um, dass man sich den Frauenmörder ins Haus
geholt hat und Hitchcock beweist Ideenreichtum, diese Angst umzusetzen. Der
Mieter verhält sich verdächtig, flirtet recht angeregt mit Daisy und trägt das
Bild einer blonden Frau mit sich. Auch treibt er sich zu ungewöhnlichen Zeiten
herum und gibt sich ansonsten schweigsam.
Legendär ist die Szene mit dem durchsichtigen Deckenboden, durch den die Familie
von unten den nervös auf und ab gehenden Mieter ‚sehen’ kann, obwohl natürlich
nur seine Schritte zu hören sein sollten, was man sich in einem Stummfilm
normalerweise denken muss. Das Visuelle ist so fast effektiver und unheimlicher,
als wenn der Ton der Schritte tatsächlich zu vernehmen wäre. Eine weitere Szene
im Badezimmer spielt so geschickt mit den bisher bekannten Mechanismen und
Stereotypen der Mordserie, dass es fast wie ein humorvoller Einschub wirkt, wäre
es nicht so grandios inszeniert, dass es extrem spannend ist.
Visuell verneigt sich Hitchcock vor dem deutschen Expressionismus und zeigt, was
er gelernt hat. In stimmigen Schwarz-Weiß-Bildern spielt er gekonnt mit Licht
und Schatten, lässt Muster, vorwiegend Gitter und Kreuze, als Schatten
bedeutungsschwanger über Wände wandern und inszeniert das letzte Drittel als
spannende Flucht, durchsetzt mit religiösen Allegorien und dem typischen
Hitchcock-Mix aus Mörderjagd, der ein MacGuffin, also ein Handlungsimpuls ist,
und der Verfolgung eines vermeintlich Unschuldigen.
Rückblickend sammeln sich hier schon unglaublich viele Themen und Kniffe an, die
bei Hitchcock erst Jahre später bekannt wurden, so wie er erst Jahrzehnte später
als der große Regisseur anerkannt wurde, der er schon lange war. Sein Können
bewies er spätestens in diesem Film, der nicht nur viele Eigenheiten
vorwegnimmt, sondern auch als Einzelfilm ein überaus spannender, visuell
aufregend inszenierter und cleverer Stummfilm ist, den man auch heute noch
genießen kann. Daran konnten auch die Produzenten nichts ändern, die
erwartungsgemäß ein etwas positiveres Ende durchsetzten.
Fazit:
Der erste richtige
Hitchcock-Film ist gleich ein kleines Meisterstück. Sehr spannend, in tollen
Schwarz-Weiß-Bildern erzählt und mit einem abwechslungsreichen Drehbuch. Allein
für die Präsenz von Hauptdarsteller Novello und manche visuellen Kniffe lohnt
sich das Anschauen schon.
8
/ 10
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