Story XLIX - Wenn die Dunkelheit kommt

Clive77

Serial Watcher
Seine Hände zitterten und sein Herz raste heute ungewöhnlich schnell. Marcell war nicht nur unruhig, er spürte ein stetig wachsendes Unbehagen in sich aufsteigen, das schlimmer wurde je weiter der Abend voranschritt. Für gewöhnlich hatte er es besser unter Kontrolle, aber jetzt konnte er sich nur schwer konzentrieren.
Mit zitternden Händen lehnte er an der Spüle und versuchte das Zittern seiner Hände in den griff zu bekommen, während ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Es dauerte noch einige Momente bis er sich in der Lage fühlte wieder rauszugehen. Er tupfte sich die Stirn mit einem Tuch ab und warf es in den Korb neben der Spüle. Morgen früh würde er den Inhalt des Korbs in die Waschmaschine schmeißen. Nun jedoch musste er sich zusammenreißen. Dort draußen warteten Gäste auf seine Rückkehr und würden sich schon bald über sein langes Fernbleiben wundern.
Marcell holte eine der Flaschen aus dem Weinlagerschrank. Ein junger Weißer Burgunder. Mit Schraubverschluss. Marcell schüttelte es am ganzen Leib. Es war ihm unverständlich, wie man sich so etwas nur antun konnte, aber der Kunde war nun mal König. Und der König wartete schon ungeduldig an seinem Tisch.

Ein letztes Mal holte er tief Luft und setzte ein freundliches Lächeln auf, bevor er dann nach vorne in die Stube ging. Es war bereits spät, und die meisten Gäste waren bereits gegangen. Marcell versuchte nicht daran zu denken, dass auch die letzten Besucher bald den Heimweg antreten würden. Er zögerte kurz als sein Blick durch die große Fensterfront nach draußen auf die Straße fiel, welche trotz der Straßenlaternen kaum beleuchtet war.
Marcell brachte die Flasche zum Tisch und schenkte ein. Die Frau dort nahm das Glas, ohne aufzusehen, und trank so beiläufig, dass sie vermutlich nicht mal bemerkt hätte, wenn er ihr Traubensaft eingeschenkt hätte. Einer ihrer Begleiter jedoch lächelte ihm zu und deutete ihm an die Rechnung zu bringen.
Marcell wandte sich um und sah erst jetzt eine andere junge Frau ganz hinten im Halbdunkeln sitzen. Zwar ließ er sich nichts anmerken, aber es freute ihn sehr, sie heute noch zu sehen. Sie versteckte sich nicht, fiel aber auch nicht sonderlich auf. Interessiert beobachtete sie wohl schon eine ganze Zeit die Szene am Nebentisch. Ihre Haltung hatte so etwas wie eine aristokratische Würde und um ihre Lippen glaubte er, den Anflug eines Lächelns zu erkennen.
Ihr Name war Katharina und sie kam häufiger hierher. Sie faszinierte ihn, denn sie hatte etwas an sich, das er einfach nicht beschreiben konnte. So oft hatte er daran gedacht sie einfach anzusprechen und ein lockeres Gespräch zu führen, sie vielleicht einfach näher kennenzulernen. Bei anderen Gästen konnte er es auch, warum fiel es ihm ausgerechnet bei Katharina so schwer?
Sie hob ihren Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er viel zu lange dagestanden und sie angesehen hatte, als dass es nicht auffallen würde. Sie lächelte ihm zu, zurückhaltend aber sehr warmherzig. Zumindest breitete sich augenblicklich ein angenehmes Gefühl in seiner Brust aus, das ihn sogar seine Unruhe für diesen Moment vergessen ließ.
»K-kann ich Ihnen noch etwas bringen?«, fragte er und es klang nicht halb so selbstbewusst wie er es sich vorgestellt hatte.
Katharina zögerte etwas und lies ihn einen Moment zappeln, als sie so tat, als würde sie nachdenken müssen.
»Wie wäre es mit ein Glas Amarone della Valpolicella?«
»Einen Amarone? Natürlich, kommt sofort.«
»Ich bezahle die ganze Flasche. Ist das in Ordnung?«
Marcell nickte viel zu heftig. »Ja. Ja, sicher. Aber das ist doch nicht nötig.«
»Es wäre aber schade drum, und wir wollen ja nicht, dass er verdirbt.«
»Nein, das wäre wirklich schade.«
»Denn ich glaube nicht, dass gewisse andere Herrschaften wissen, was sie daran hätten.«
Sie kicherte leise und deutete mit einer kurzen Geste in Richtung des Tisches der anderen Gäste. Die redeten jetzt ohne jegliche Rücksicht mit ungedrosselter Lautstärke. Wahrscheinlich dachten sie, sie wären inzwischen allein in der kleinen Weinstube. Die junge Frau, sie schien im selben Alter wie Katharina zu sein, nicht älter als fünfundzwanzig, benahm sich so, wie er es bei Jugendlichen in Feierlaune erwarten würde. Sie lachte und gackerte und schien zumindest ihre beiden Begleiter dabei bestens zu unterhalten.
Marcell ging nach hinten in die Küche. Selbst hier konnte er die junge Frau mit der wilden Frisur mehr als deutlich hören. Bevor er an den Weinlagerschrank ging, fiel sein Blick auf die großen Fenster im hinteren Bereich. Wie konnte er es nur vergessen? Die Angst von vorhin war augenblicklich wieder da und schien ihn für einen Moment zu überwältigen. Hastig lief er zu den Fenstern, hinter denen sich die schwärze der Nacht wie ein Ungetüm gegen die Scheiben drückte. Eilig schloss er die Rollläden und sperrte die Dunkelheit aus. Erst jetzt atmete er erleichtert aus.
Als er mit der Flasche Amarone delle Valpolicella zurückkehrte, sah er, dass die Frau und die beiden Männer bereits ihre Mäntel anzogen und in Begriff waren aufzubrechen. Ihre Gläser auf dem Tisch waren nur halb geleert.
Das war der Moment, vor dem er sich an diesem Abend gefürchtet hatte. Bald würde auch Katharina gehen, und dann musste er den Laden für heute Abend schließen. Und er war dann allein. Das Einzige, was schlimmer war als die Finsternis, war im Dunklen allein zu sein. Allein mit all dem, was dort in den Schatten lauerte. Marcell spürte, wie sich seine Brust wieder zusammenzog, und erneut traten ihm Schweißperlen auf die Stirn.
»Ist alles in Ordnung?«
Marcell hörte die Frage nicht, sondern sah nur zu, wie die beiden Männer mit der Frau durch die Tür nach draußen gingen. Sie waren so in ihrer Unterhaltung vertieft, dass sie nicht merkten wie die Tür hinter ihnen in der Halterung einrastete und offen stehenblieb. Oder sie interessierten sich schlicht nicht dafür. Marcell hingegen sah gerade nichts anderes. Die Flasche stellte er beiläufig ab, als er zur Tür rannte und mit dem Fuß die Halterung löste, die die Tür tagsüber bei warmen Wettern offenhalten sollte. Er wollte nicht hinsehen, aber als er den Kopf hob, war da vor ihm die kleine Straße, die fast völlig in Dunkelheit getaucht war. Wie eine dunkle Präsenz drang sie vor und wurde nur vom schwachen Schein der Straßenlaternen stellenweise aufgehalten. Marcell blieb wie angewurzelt stehen, unfähig sich zu rühren. Die Schatten dort draußen schienen sich zu bewegen, als hätten sie tatsächlich Substanz.
Er wollte fort von hier, einfach nur weg. Dem dunklen Grauen dort draußen entkommen. Irgendwie gelang es ihm, einen Schritt zurückzuweichen dann noch einen und einen weiteren. Mit einem derartigen Schwung stieß er die Tür zu, dass die Fensterscheiben klirrten und er Angst hatte, sie würden bersten. Auf der Stelle warf er sich dagegen und schloss ab, aber dennoch war er noch nicht sicher. Er wusste, das etwas da draußen war und lauerte. Es wartete darauf, dass er einen Fehler beging. Und genau das war heute Abend geschehen.
Er drehte sich um und sah Katharina genau in die Augen, die nun vor ihm stand. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Es schien weder Angst noch Sorge zu sein, aber beunruhigt sah sie dennoch aus. Das war in Anbetracht der Situation aber auch verständlich. Marcell zögerte eine, vielleicht auch zwei Sekunden, dann schrie er kurz auf, als es auf der Straße plötzlich dunkel wurde.
Um halb eins wurden hier die Straßenlaternen ausgeschaltet. Und mit deren Licht erlosch der letzte Schutzwall gegen die eindringende Dunkelheit, die nun ungehindert bis an die Fenster der kleinen Weinstube vordrängte. So schlimm war es für ihn noch nie. Das Gefühl der drohenden Gefahr nagte an ihm und verschlimmerte sich mit jeder Minute. Und dann trat Katharina an ihn heran. Aber sie sah nicht ihn an, sondern knapp neben ihm vorbei durch das Fenster in das Dunkel. Eine kleine Bewegung, nur eine Sekunde, in der ihre Augenbrauen kurz zuckten veranlasste ihn dazu nach vorne zu preschen.
»Wir müssen weg. Schnell!«
Er packte ihr Handgelenk und zog sie schnell eilig hinterher, durch die Stube in Richtung der Küche bis hin zur Kellertreppe. Mehrmals eine Stufe überspringend zog er Katharina mit, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Unten hielten sie vor einer Holztäfelung mit einem kunstvollen Weinregal. Durch einen Schalter an der Wand sprang eine zuvor verdeckte Tür auf und gab den Weg zu einem hell erleuchteten Schutzraum frei. Sobald sie drinnen waren, ließ er Katharina los und zog die schwere Stahltür zu. Mit einem lauten mechanischen Geräusch verriegelte die Tür und ein jetzt aufleuchtendes Display daneben an der Wand zeigte an, dass sie nun gesichert sei. Genau darunter befand sich eine Zeitangabe, die langsam runterzählte.
 

Clive77

Serial Watcher
»Was zum Teufel ist denn los? Warum sind wir hier?«
Erst als er ihre Stimme hörte, wurde Marcell bewusst, was er eigentlich getan hatte. Vorsichtig drehte er den Kopf zu Katharina, die überraschend ruhig geblieben war und nun auf eine Antwort wartete. Er hatte tatsächlich eine unschuldige Frau in einen unterirdischen Raum gesperrt, aus dem es kein Entrinnen gab. Er wollte etwas sagen, aber sein Mund war plötzlich so trocken, dass er nicht ein einziges Wort herausbrachte. Auch schaffte er es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Beschämt wich er ihrem Blick aus und ging in einigen Abstand von ihr weg zur anderen Seite des Raums.
»Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was-…«
Völlig durcheinander brach er mitten im Satz ab und überlegte, was er jetzt sagen konnte um die ganze Situation nicht noch weiter zu verschlimmern. Dass Katharina nun einfach nur still dastand und ihn fordernd ansah, machte es für ihn nicht unbedingt leichter. Er hatte erwartet, dass sie panisch werden könnte oder ihn zumindest anschreien würde. Aber sie blieb unerwartet gelassen. Möglicherweise versuchte sie, die Lage abzuschätzen um abzuwägen wann und wo sie einen Fluchtversuch wagen sollte.
»Es tut mir so leid«, sagte er abermals. »Ich habe einfach die Nerven verloren. Ich wollte das alles nicht. Bitte glaube mir.«
Katharina antwortete noch immer nicht. Für gewöhnlich war sie alles andere als wortkarg, und dass sie jetzt nicht das Geringste sagte, beunruhigte Marcell mehr als er sich selbst eingestehen wollte. Langsam ließ sie immer wieder ihren Blick durch den kleinen Raum wandern, als würde sie etwas suchen.
»So habe ich mir das Ende des Tages ganz gewiss nicht vorgestellt«, sagte sie endlich ohne ihn anzusehen.
»Ich habe einfach die Nerven verloren«, sagte Marcell und ließ sich auf das Bett sinken. Seine Panik von eben gerade ebbte mit jeder Sekunde mehr ab und machte Platz für eine ganz andere Art von Unruhe.
»Du hast einen Schutzraum?« Stellte sie mehr fest, als dass sie wirklich fragte.
»Ich kann das erklären, wirklich.«
»Da bin ich aber mal gespannt.«
Sie blieb vor der Tür stehen und untersuchte das Schloss. Zwar zog sie an der Verriegelung, aber durch die Art und Weise wie sie es probierte, schloss Marcell schon, dass sie nicht damit rechnete, diese Tür öffnen zu können.
»Das hat keinen Sinn«, sagte Marcell. »Das sind 14 Zentimeter dicker Stahl, gesichert durch ein Zeitschloss. Niemand kommt hier vor Sonnenaufgang raus … oder rein.«
Zum ersten Mal bemerkte Marcell nun bei Katharina eine Reaktion. Sie hielt inne und drehte sich kurz zu ihm um. Obwohl er sie vor wenigen Minuten scheinbar völlig grundlos in einen Raum gezerrt hatte, aus dem sie erst in ein paar Stunden würde entkommen können, schien sie nicht im Mindesten beunruhigt zu sein. Stattdessen untersuchte sie neugierig ihre Lage. Zumindest bis zu seinem letzten Satz.
»Rein? Denkst du, jemand versucht, hier reinzukommen?«
»Das ist eine lange Geschichte«, winkte Marcell.
Katharina grinste und deutete mit dem Finger auf die Zeitanzeige.
»Es sieht ganz so aus, als hätte ich genug Zeit sie mir anzuhören.«
Damit hatte er nicht gerechnet, aber mit ihrer Bemerkung hatte sie tatsächlich erreicht, dass die Anspannung etwas von ihm abfiel und er sich ein wenig lockerte. Marcel seufzte und dachte darüber nach, womit er anfangen sollte, damit er ihr nicht noch mehr wie ein Verrückter vorkam.
»Ich muss dir vorkommen, als sei ich völlig durchgedreht«, begann er und versuchte sich selbst mit einem Lächeln aufzulockern. Das misslang aber.
»Sagen wir mal, das habe ich so nicht kommen sehen. Du bist zwar immer etwas nervös und wirst zum Abend hin zunehmend unruhiger, aber das hier ist schon etwas seltsam.«
Sie blies die Wangen auf und streifte die Hände an ihrer Hose ab. Kurz darauf hakte sie die Finger ineinander. Anscheinend wusste sie auch nicht so recht, wohin sie damit sollte.
»Nyktophobie«, sagte Marcell ganz unvermittelt.
Katharina horchte auf. Marcell überlegte sich die folgenden Worte genau. Was er erzählen konnte, und was er lieber für sich behalten sollte.
»Seit ich mich erinnern kann, leide ich an einer irrationalen Angst vor der Dunkelheit. Als ich noch ein Kind war machte sich niemand darüber Gedanken. Mein Vater sagte immer, ich hätte nur eine blühende Phantasie und mit der Zeit würde es besser.«
»Aber dem war nicht so«, bemerkte Katharina ernst.
Marcell nickt stumm und brauchte etwas Zeit, bis er dann endlich fortfuhr.
»Im Gegenteil. Es wurde schlimmer. Sehr viel schlimmer. Irgendwann traute ich mich nicht mehr nach draußen, sobald es Dunkel wurde. Ich kann die Dunkelheit einfach nicht ertragen. Ich brauche bloß dran zu denken und mein Herz fängt an zu rasen.«
Marcell stand nun auf und ging einen Schritt auf Katharina zu. Vorsichtig, da er sie nicht erschrecken wollte. Er konnte sich sehr gut vorstellen, dass sie ihm trotz all dieser Neugier noch immer nicht vertraute.
»Und dann eröffnest Du eine Weinstube? Mit so einer Phobie hätte ich eher zugesehen, dass ich vor Sonnenuntergang zuhause bin und die Gardinen zuziehe.«
Sie lächelte tatsächlich ein wenig, rutschte dann die Wand hinab zu Boden und blieb dort einfach sitzen. Die Beine angewinkelt und schon fast gelangweilt. Als sie Marcells Gesichtsausdruck sah, wurde sie gleich wieder ernst und kniff die Brauen etwas zusammen.
»Was ist da noch?«
Marcell hielt kurz den Atem an, da er sich geradezu ertappt fühlte. Sie hatte tatsächlich sofort bemerkt, dass er ihr noch nicht alles erzählt hatte. Resigniert atmete er aus.
»Ich … ich mag dich. Seit Wochen nehme ich mir vor dich anzusprechen. Ich wollte dich näher kennenlernen, und habe mir immer ausgemalt dich zu fragen mit mit auszugehen. Aber ich habe mich nie getraut.«
»Tja, mich dann aus heiterem Himmel in deinen Keller zu sperren, war nun aber weit über das Ziel hinausgeschossen. Du hättest mich auch einfach fragen können, ob wir uns mal privat treffen wollen. Denn mit Ausnahme von dem hier…«
Sie machte eine ausladende Handbewegung durch den Raum. »Kann ich dich eigentlich ganz gut leiden. Was meinst du, warum ich so gerne herkomme?«
»D-du magst mich?«
»Schon, aber ich will ehrlich sein. Das alles hier ist schon etwas seltsam.«
Marcell lachte trocken auf.
»Tja, das ist mein verborgenes Talent. Ich kann Dinge kaputtmachen, noch bevor sie richtig laufen.«
»Na ja, von allen Leuten, die ich kenne, hättest du selbst damit noch nicht die größte Macke.«
Marcell war weiterhin in Gedanken und hatte ihren letzten Satz gar nicht wirklich mitbekommen. Er ignorierte es, und konzentrierte sich auf das, was er erzählen wollte. Dieser Teil war der Schwerste.
»Ich sehe Dinge«, sagte er leise und starrte vor sich her, ohne einen bestimmten Punkt anzuvisieren. »Schon als Kind erkannte ich, dass etwas in der Dunkelheit lauert.«
Katharina hob den Kopf und spitzte ihre Ohren. Ihr Lächeln verschwand langsam aus ihrem Gesicht.
»Was für Dinge?«
Vielleicht hätte es ihn wundern müssen, dass sie ihm weiterhin so interessiert zuhörte. Katharina schien tatsächlich nichts Seltsames daran zu finden, sondern verfolgte aufmerksam seinen Erzählungen.
»Ich weiß es klingt komisch, aber dort draußen sind Kreaturen. Sie kommen mit der Dunkelheit. Ich sehe sie nicht sofort, aber ich weiß, dass es sie gibt.«
»Und wie kannst Du dir da sicher sein? Es klingt für mich wie ein Hirngespinst.«
»Das ist es nicht. Wirklich. Ich meine, ich sehe sie nicht nur mit meinen Augen. Diese Kreaturen sind da draußen. Sie wandern in den Schatten. Sie kommen jede Nacht. Hier unten bin ich sicher bis zum nächsten Morgen, aber dennoch kann ich selbst hier hinter diesen Stahlwänden nicht ohne Licht schlafen. Es gibt verschiedene dieser Kreaturen. Manche sitzen oben auf den Häusern, andere kriechen wie schwarzer Nebel über den Boden. Aber sie alle strahlen abgrundtief Böses aus. Ich habe Angst. Ich habe seit Jahren so eine große Angst.«
Er konnte es nicht verhindern, dass ihm plötzlich Tränen über das Gesicht rannen. Er hatte nicht mal mitbekommen, wie ihm das Wasser in die Augen gestiegen war. Im Augenblick verspürte er nur dieselbe ungezügelte Angst, die jede Nacht zusammen mit der Dunkelheit kam.
War sein Blick bisher auf keinen bestimmten Punkt in der Ferne gerichtet, fokussierte er ihn jetzt wieder Katharina. Sie saß still vor ihm. Bleich und mit geweiteten Pupillen. Ein deutliches Zeichen von Angst. Aber da war noch ein anderer Ausdruck in ihrem Gesicht, den er nicht deuten konnte.
»Du denkst nun bestimmt, ich bin verrückt. Vielleicht ist dem wirklich so.«
Katharina schüttelte sachte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie, mehr als dass sie es sagte.
Marcell und Katharina saßen sich gegenüber und sahen sich in die Augen. Eine Sekunde verging, ohne dass jemand etwas sagte, dann eine Minute. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis er sich endlich traute zu fragen, was ihm schon seit Minuten auf der Zunge lag.
»Heißt das, du glaubst mir?«
 

Clive77

Serial Watcher
Sie nickte ganz leicht. Marcells Herz schien einen Schlag auszusetzen. Für die nächste Frage musste er seine ganze Kraft aufbringen. »Kannst du sie ebenfalls sehen.«
Katarina antwortete nicht sofort. Ihr Gesicht schien jetzt voller Sorge zu sein.
»Du darfst sie niemals wissen lassen, dass du von ihnen weißt. Hörst du?«
»Was meinst du?«
»Wenn sie erfahren, dass du sie sehen kannst, werden sie dich jagen und töten. Sie hören nicht auf, bis sie dich haben.«
»Ich verstehe nicht …«
Doch, er verstand.
»Nein«, sagte er leise und glaubte, seine Stimme würde jeden Moment versagen. »Bitte nicht.«
Katharina kam auf ihn zu. Sie sah traurig aus und sah ihn mit einem wehmütigen Blick an.
»Ich mag dich wirklich«, sagte sie und versuchte sich an einem Lächeln. »Und ich hätte dich wirklich gerne näher kennengelernt. Oh Du Ärmster! Da versteckst du dich Nacht für Nacht hier unten um Schutz vor den Kreaturen in der Dunkelheit zu suchen, und bringst ausgerechnet mich hier runter.«
Marcell standen die Tränen in den Augen. Er schüttelte immer wieder den Kopf, als könne er damit irgendetwas an dem ändern, was heute Nacht geschah.
»Nein, nein, nein«, krächzte er leise. »Das kann nicht sein.«
»Schhht«, machte Katharina und Marcell spürte, wie sie ihre Arme um ihn schlang und seinen Kopf an ihre Brust zog.
»Es ist alles gut«, sagte sie.
»Was bist du?«
»Ab heute … Sieh mich einfach als deinen Schutzengel. Und nun schließe deine Augen.«
Marcell tat, wie im geheißen wurde. Er bekam noch mit wie Katharina etwas zurückwich und ihn losließ. Als er irgendwann seine Augen öffnete, war er allein. Er sah sich um, aber außer ihm befand sich niemand in diesem Raum, und nichts deutete darauf hin, dass Katharina je hier bei ihm gewesen war. Aber eine Sache war doch anders. Er konnte es sich nicht erklären, aber er hatte keine Angst mehr. Den Rest der Nacht verbrachte er so entspannt wie noch nie zuvor.

Als sich nach ein paar Stunden das Zeitschloss öffnete, trat er vorsichtig nach draußen. Es war nun helllichter Tag, und Marcell spürte, dass etwas anders war. Still stieg er die Treppe zur Weinstube rauf. Auch hier sah alles noch genau so aus, wie er es am Abend zuvor zurückgelassen hatte. Gestern hatte er nicht aufgeräumt, darum holte er es nun nach. Aber während der ganzen Zeit spürte er eine angenehme Ruhe in sich.

Wie viel sich wirklich für ihn verändert hatte, erfuhr er erst am Abend. Als das Tageslicht zurückwich, um der Dunkelheit zu weichen, spürte er keine Angst mehr. Eine gewisse Unruhe war noch immer da, und er sah noch immer, was sich dort in den Schatten verborgen hielt. Aber es ängstigte ihn nicht mehr. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte er sich trotz Dunkelheit sicher.

Am späten Nachmittag öffnete er die Weinstube wieder für Gäste. Alles war wie sonst auch, mit einer Ausnahme. Den kleinen Tisch in der hinteren Ecke hatte er nun für eine ganz bestimmte Person reserviert und würde es von nun an jeden Abend tun.
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Eine sehr schöne Geschichte :top:
Guter Aufbau und Atmosphäre und wunderbar geschrieben. Man schwankt als Leser hin und her (besonders am Anfang): Ist seine Angst berechtigt oder nur eine Phobie? Zum Ende hin wird es halbwegs geklärt, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, wer oder was diese Frau war. Das ist wirklich gut gemacht.

Von der technischen Seite fand ich nur ein paar Kleinigkeiten etwas unglücklich fomuliert, z.B.: Am Anfang werden in zu kurzer Zeit dreimal seine zitternden Hände erwähnt und in diesem Teil würde ich das "unerwartet" im zweiten Satz weglassen, weil es sonst doppelt gemoppelt ist:
Er hatte erwartet, dass sie panisch werden könnte oder ihn zumindest anschreien würde. Aber sie blieb unerwartet gelassen.

Insgesamt ist es aber eine starke Geschichte. :thumbup:
 

MamoChan

Well-Known Member
Tja, was schreibe ich bloß dazu? Im grunde fand ich die Geschicht eganz ok, aber der große Wurf war sie meiner Ansicht nach nicht. Wer war diese Frau denn jetzt? Und wieso nimmt sie das alles so gelassen hin?
Auch ein fand ich einige Formulierungen nicht ganz rund.
 

Sittich

Well-Known Member
Die Geschichte erinnert mich an eine Kurzgeschichte von Stephen King, mit einer Gargoyle-Frau oder ähnlichem. Die tötet den Mann allerdings am Ende, wenn ich mich recht erinnere. Deswegen habe ich das auch hier erwartet und war positiv überrascht, dass ein anderes Ende gewählt wurde.

Auch diese Geschichte hat mir gut gefallen, beide Geschichten im Wettbewerb bewegen sich auf hohem Niveau. :top:
 

TheReelGuy

The Toxic Avenger
Die Geschichte hat mir echt gefallen, auch wenn die Auflösung etwas unrund wirkt und der Schutzraum etwas unplausibel. Doch die Atmosphäre und auch die Zweifel an der Hauptfigur machen hier einiges wieder wett.​
 

soserious

Well-Known Member
Schöne Geschichte, die Fragezeichen in meinem Kopf hinterlassen hat (aber ich mag sowas)
Vielen Dank für diese Geschichte. :smile:
 

MamoChan

Well-Known Member
So, da der Wettbewerb nun vorbei ist, kann ich auch hier nochmal was dazu schreiben. Diese Geschichte ist von mir, und die Idee kam mir schon relativ früh, aber die Feinarbeit hat sich ewig hingezogen. Ich war eigentlich nie zufrieden und habe immer weiter an Formulierungen herumgedoktert. Aber so wirlkich glücklich war ich nie damit. :squint:'
Um so mehr freut e smich, dass euch die Geschichte gefallen hat. :smile:

Tyler Durden schrieb:
Eine sehr schöne Geschichte :top:
Guter Aufbau und Atmosphäre und wunderbar geschrieben. Man schwankt als Leser hin und her (besonders am Anfang): Ist seine Angst berechtigt oder nur eine Phobie? Zum Ende hin wird es halbwegs geklärt, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, wer oder was diese Frau war. Das ist wirklich gut gemacht.

Vielen Dank. :smile: Tatsächlich hatte ich lange Zeit eine Auflösung bezüglich ihrer Person in der Geschichte, habe diese aber quasi in den letzten Minuten rausgeworfen, weil es einer der Punkte war, mit denen ich nie so wirklich zufrieden war.


Tyler Durden schrieb:
Von der technischen Seite fand ich nur ein paar Kleinigkeiten etwas unglücklich fomuliert, z.B.: Am Anfang werden in zu kurzer Zeit dreimal seine zitternden Hände erwähnt und in diesem Teil würde ich das "unerwartet" im zweiten Satz weglassen, weil es sonst doppelt gemoppelt ist:
Er hatte erwartet, dass sie panisch werden könnte oder ihn zumindest anschreien würde. Aber sie blieb unerwartet gelassen.

Ja, das war tatsächlich wieder meine Betriebsblindheit. :sad: Wenn ich das jetzt so lese, frage ich mich, wieso es mir entgehen konnte. :squint:'


Sittich schrieb:
Die Geschichte erinnert mich an eine Kurzgeschichte von Stephen King, mit einer Gargoyle-Frau oder ähnlichem. Die tötet den Mann allerdings am Ende, wenn ich mich recht erinnere. Deswegen habe ich das auch hier erwartet und war positiv überrascht, dass ein anderes Ende gewählt wurde.

Ja, jetzt wo Du es sagst, erinnere ich mich auch an diese Geschichte. :smile: Es gab sogar mal einen Film dazu, vor dem ich mich als Kind sehr gefürchtet habe. Aber ich muss zugeben, dass ich nie in Betracht gezogen habe, dass er am Ende sterben könnte.
 
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