Epilog
Bad Krozingen
Martin war langweilig. Seit Tagen hockten sie jetzt schon in der Schule und warteten. Der alte Kunze hatte ihnen allen verboten, nach draußen zu gehen. Dabei hatte der davor nie was zu sagen gehabt. Doch die, die was zu sagen gehabt hatten, waren verschwunden. Waren einem seltsamen Funkspruch gefolgt, dem Martin zufällig gelauscht hatte. Irgendetwas von einem Panzerzug und der Biker-Gang, die ihnen das Leben schwer machte. Sofort hatte wilde Aufbruchstimmung geherrscht und Rufe wie "Jetzt oder nie!" oder "Die schnappen wir uns!" waren gefallen. Sie hatten sich praktisch alle Schuss- und Nahkampfwaffen gegriffen und waren davongezogen. Zurückgeblieben waren nur die Kinder und die Alten.
Sie hatten gewartet. Waren zusammengezuckt, als aus der Ferne in kurzer Folge zwei heftige Detonationen ertönt waren. Die Kleineren hatten angefangen zu weinen, während die Alten versucht hatten, sich und den Kindern Mut zuzureden. Dann waren weitere Schüsse und Knalle zu hören gewesen, dieses mal ganz in der Nähe. Alle, die in der Schule Zuflucht gefunden hatten und auf den Schutz der wenigen gesunden Erwachsenen vertraut hatten, waren eng beieinander gerückt und hatten gebangt und gewartet. Doch auch lange, nachdem Ruhe eingekehrt war, war keiner ihrer Beschützer zurückgekehrt.
Das war vor drei Tagen gewesen. Martin hatte es satt, in der Schule eingesperrt zu sein. Deswegen war er am frühen Morgen, nachdem alle ihr wenig schmackhaftes Frühstück verzerrt hatten, heimlich durch die Hintertür geschlichen, um einfach mal ein bisschen im langsam schmelzenden Schnee zu spielen. Ganz allein mit sich beschäftigt rollte er jetzt einen Schneeball die Wiese entlang, um ihn langsam zu einer mächtigen Kugel für seinen Schneemann zu formen. Er bemerkte den Mann erst, als er mit seiner Schneekugel gegen dessen Beine stieß. Der Schneeball fiel in sich zusammen. Martin guckte hoch.
"Na, Kleiner? Ganz allein hier draußen?", sagte der Mann, dem ein alter Schlapphut beinahe rechts vom Kopf zu fallen schien. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen, das Martin nicht sonderlich gefiel. Langsam wich er zurück.
"Äh, ja. Aber ich wollte gerade wieder reingehen", sagte er. Mit einer schnellen Bewegung wandte er sich um, doch der Mann war schnell und packte ihn an der Schulter.
"Das glaube ich nicht!", flüsterte er und machte sich daran, Martin zu sich zu ziehen. Der Junge versuchte mit aller Kraft, sich aus dem Griff zu befreien. Doch nach einer kurzen Rangelei gelang es den Fremden, Martin aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er stürzte mit dem Rücken auf den Schnee. Sofort war der Mann über ihm. Wie aus dem Nichts hielt er ein kleines Messer in der Hand, genau vor Martins Augen.
"Ein Schrei und ich stech dir die Augen aus!", zischte der Mann, "Wir werden gleich zusammen aufstehen und du kommst ganz friedlich mit mir, verstanden?"
Martin starrte seinem Peiniger in Todesangst entgegen, unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Er spürte den nassen Schnee, der unter ihm schmolz und seine Kleidung durchnässte. Er sah das Messer, dass Zentimeter vor seinen Augen im Griff des Mannes zitterte. Er fühlte das Gewicht des Fremden, das ihm beinahe vollständig die Luft raubte. Er setzte an, dem Mann mit einem Nicken notgedrungen seine Zustimmung zu zeigen, als sich der Himmel verdunkelte. Vielmehr verlosch die Sonne, als sich ein gewaltiger Schatten über ihn und den Fremden legte. Martin blickte durch einen Tränenschleier nach oben und sah eine imposante Gestalt hinter ihnen aufragen. Auch sein Angreifer schien die Veränderung bemerkt zu haben und schaute Martin mit einem beinahe komischen Blick der Verwirrung an. Dann weiteren sich seine Augen, als sich eine gewaltige Pranke um seinen Nacken legte und fest zudrückte. Es ertönte ein lautes Knacken. Mit einem Ruck verschwand das Gewicht von Martin, als der Körper seines Angreifers mühelos in die Luft gehoben und davongeschleudert wurde. Er hörte einige Meter entfernt einen vom Schnee gedämpften Aufprall. Der Schlapphut des Mannes segelte neben ihm langsam neben ihm zu Boden.
Martin keuchte und stützte sich mühsam auf seinen Ellbogen ab. Mit vor Schreck geweiteten Augen blickte er den Riesen, der vor ihm stand, an. Der Riese schien genauso aufgebracht zu sein wie er selbst. Sekundenlang verharrten sie in dieser Position.
Dann sagte der große Mann ein Wort.