Wie häufig wurden uns in Filme schon junge Charaktere vorgesetzt, die vor schwerwiegenden Entscheidungen standen. Das Leben noch vor einem, hat jeder Schritt, der getätigt wird, Einfluss auf die Zukunft. Mal wird das alles oberflächlich in Form von lockeren Komödien behandelt, dann wieder sehr tiefgründig. Und es ist auch gut und toll, dass es so viele Filme gibt, die sich mit den Selbstfindungsschwierigkeiten Jugendlicher auseinandersetzen. „Another Year“ nimmt eine äußerst unübliche Perspektive ein und konzentriert sich nicht auf Charaktere, die vor großen Entscheidungen stehen, sondern auf greise Figuren, die bereits unendliche Entscheidungen haben treffen müssen. Und nun mit dem Leben leben dürfen – oder auch müssen – welches aus all den beschrittenen Lebenspfaden resultiert.
In einem Interview antwortete Regisseur Mike Leigh auf die Frage, ob er als besonders mutig ansehen würde, einen Film über alte Menschen zu drehen, dass er sich über die Mutfrage gar keine Gedanken gemacht hat. Ihn haben die Charaktere schlicht interessiert und daher musste diese Geschichte erzählt werden.
Ein Jahr lässt uns Leigh an dem Leben des glücklichen und lebensbejahenden Paars Gerri und Tom teilhaben. Wir lernen sie im Frühjahr kennen und beenden unseren Besuch nach dem Winter. Ein Jahr, in dem uns keine wirkliche Geschichte erzählt wird, sondern vielmehr viele kleine Episoden, Momentaufnahmen unterschiedlicher Schicksale. Mal geht es sehr aufgelockert zu, dann wieder melancholisch. Mal wird es scheinbar trivial, dann wieder bedeutungsschwanger. Nein, Mike Leigh erzählt hier wahrlich keine Geschichte. Er erzählt über das Leben. Noch mehr: Es fängt das Leben in all seinen Facetten so gut es geht filmisch ein.
Gerri und Tom haben alles erreicht, was sich so viele in ihrem Leben wünschen. Sie sind hilfsbereit, hegen noch Leidenschaft füreinander, haben ein tolles Verhältnis zu ihrem Sohn. Direkt wird deutlich, dass beide, ob bewusst oder unbewusst, in ihrem Leben die richtigen Entscheidungen trafen. Beide Lebenswege führten sie in die heimische Situation, in der sie leben. Andere Regisseure wären wohl an diesen beiden Charakteren verzweifelt. Zwei Gutmenschen, die keine bedeutenden Macken oder Abgründe haben. Doch Leigh schafft es, das sympathische Ehepaar faszinierend in Szene zu setzen. In Verbindung mit der unfassbar grandiosen schauspielerischen Leistung von Jim Broadbent und Ruth Sheen wird hier ein Leinwandehepaar geboren, das in dieser intensiven Weise keinen Vergleich findet und schon nach wenigen Szenen die Herzen der Zuschauer für sich gewinnt. Und es ist nicht nur die pure Leinwandpräsenz, sondern auch das Gefühl, dass diese beiden wirklich all die Jahrzehnte schon durch dick und dünn gehen, schon so vieles gemeinsam erlebt haben.
Doch natürlich zeigt uns der „Another Year“ nicht nur das glückselige Leben von Gerri und Tom. Viele nahe stehende Menschen aus dem Bekanntenkreis der beiden haben es lange nicht so gut getroffen wie die beiden liebevollen Zentralcharaktere. Was umso dramatischer ist, da das Alter überschritten ist, bei dem noch ohne weiteres Ratschläge für den weiteren Verlauf des Lebens gegeben werden können. Vielmehr müssen sie zurückblicken auf ein Leben voller Rückschläge uns Schicksalsschläge. Und vor einem klafft ein großes Loch.
Besonders Mary, eine langjährige Arbeitskollegin Gerris und quasi beste Freundin der Familie, sticht heraus und beweist sich schon früh als faszinierendster Charakter des Films. Sowohl oberflächlich und sichtbar in ihrer hibbeligen, hyperaktiven Art, als auch unter der Oberfläche brodelnd. In ihrer Biografie ist so schrecklich viel schief gelaufen. Nun steht sie alleine da, hat keine Perspektive mehr, tut aber alles daran, sich selbst zu betrügen. Sie ist es auch, die im späteren Verlauf der Handlung gar das sonst so ausgeglichene Ehepaar auf eine Probe stellt.
Mike Leigh fängt all diese vielen Auf- und Abwärtswellen des Lebens in schlichten und gleichzeitig auf unaufdringliche Weise faszinierenden Bildern ein. Der leise melancholische Klaviersoundtrack entfaltet eine bedrückend hypnotische Ruhe, die das Gesehene unauffällig zu unterstreichen weiß. So unauffällig, wie viele der Dialoge im ersten Augenblick klingen. Häufig scheinen die Gespräche in Small Talk abzudriften, nichtig zu werden. Doch sind es meist genau diese Augenblicke, die uns am meisten über die Charaktere und deren Geschichten verraten. Und von Zeit zu Zeit ist es nicht einmal besonders kurzweilig, den verschiedenen Figuren um Gerri und Tom bei ihren Tätigkeiten und Konversationen zu beobachten. Doch auch so ist das Leben: Manchmal muss man sich durch kleine Tiefs quälen, um etwas ganz Besonderes erleben zu dürfen. Und wie bei der Gartenarbeit zahlt sich die Geduld aus: Die größte Wirkung entfaltet dieses kleine Meisterwerk nämlich nicht während des Ansehens, sondern danach. Wenn wir uns fragen, wo uns unsere zukünftigen Entscheidungen wohl selbst irgendwann einmal hinführen werden.
9/10 Schrebergärten