Für den Drehbuchautor David Simon ist das Fernsehen Avantgarde. Er schreibt die aufregendste Serie aller Zeiten für einen privaten TV-Kanal.
Etwas merkwürdig ist es schon, den Autor einer amerikanischen Kultserie ausgerechnet in Dublin zum Frühstück zu treffen. David Simon, der in Irland ein paar Tage Ferien macht, kommt eine Viertelstunde zu spät in die Lobby des feinen Merrion Hotel. Er versinkt im malvenfarbenen Plüschsessel, hält sich den kahl rasierten Kopf, weil er am Vorabend zu viel Guinness getrunken hat, und murmelt "shit", "Jesus" und "sorry". Dabei hätte man klaglos weitergewartet und diverse Rosinenplätzchen in sich hineingestopft. Schließlich hat der Mann die beste Fernsehserie der Welt geschrieben. "The Wire" heißt sie und läuft seit vier Jahren auf dem US-Kabelsender HBO.
In bisher sechzig Sendestunden hat sie auf amerikanischen Bildschirmen eine Art Querschnitt der Stadt Baltimore gezeichnet, von ihren schwarzen Ghettos bis zur politischen Führungsschicht. Es geht um den Niedergang der amerikanischen Arbeiterklasse, um das marode US-Erziehungssystem und um die Massenmedien. Man erlebt die dumpfen Hierarchien des Polizeiapparats und eine Politik, die nur an niedrigen Verbrechensstatistiken und nicht an einer Veränderung der Verhältnisse interessiert ist. Mit seinem riesigen Figurenarsenal, seinen fließend verwobenen Handlungssträngen, die Junkies und Polizisten, Schüler und Politiker, Dealer und Lehrer allesamt gleichberechtigt behandeln, ist "The Wire" mehr als eine Serie. Es ist ein groß angelegtes Sittenbild und die exemplarische Schilderung einer amerikanischen Stadt zu Beginn des Jahrtausends.
Auf die amerikanische Kritik angesprochen, die "The Wire" einhellig zum ambitioniertesten und aufregendsten Fernsehprojekt aller Zeiten erklärt hat, wird der 46-jährige Simon ein wenig rot, schluckt erst einmal eine Aspirin und bestellt sein Frühstück. "Am Anfang von 'The Wire' stand eine große Wut", sagt er. "Es war die Wut auf ein Land, das sich vor den entscheidenden Fragen drückt: Wer sind wir? Warum können wir unsere Probleme nicht lösen? Wie sieht unsere Gesellschaft aus, und wie steht es um unsere Städte am Ende des amerikanischen Imperiums?"
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