[story] Ignacia

Joel.Barish

dank AF
Diese Geschichte ist nach einer Unterhaltung mit zwei Freunden entstanden. Wir wollten aus Jux heraus jeder eine Kurzgeschichte mit der selben, groben Ausgangsposition schreiben, da wir glauben, dass drei grundverschiedene Geschichten bei rauskommen. Mein Werk möchte ich den Interessierten hier nicht vorenthalten. Für euch kann die Geschichte ja für sich stehen.

Die Vorgaben waren, aus irgendeinem unerklärlichen Grund :biggrin:, Folgende:
- Hauptfigur namens Velázquez (muss nicht der Künstler sein, kann aber)
- Schauplatz "Bahnhof"
- Grundtätigkeit: Velázquez sucht eine Person.
- Länge: Grob zwischen 15.000 und 20.000 Zeichen

>>Ignacia<<[/align]

Schwarzer Qualm zieht dick und schwer aus dem dunklen Schornstein der alten Lok, ehe das schrille Quietschen der Bremsen durch den überfüllten Bahnhof kreischt. Die eilig auf und ab trabenden Menschen denken für einen Moment an eine Sonderaktion, ähnlich den žZügen der Erinnerung, die kürzlich noch in verschiedenen Bahnhöfen in Europa Halt machten, um an den Holocaust zu erinnern. Solche Loks werden im gewöhnlichen Verkehr ja gar nicht mehr gebraucht, denken Einige. Viel mehr als einen kurzen, belustigten Blick, haben die Passanten aber nicht übrig und gehen eilig weiter ihres Weges, während der Zug endgültig zum Stillstand kommt.

Von den meisten Ohren ungehört, macht sich nun Getrampel und Gepolter im Innern des ersten Waggons breit und die aufgeregte Stimme eines etwas älteren Mannes brüllt:
žWelch Höllengefährt ist dies? Lasst mich raus! Raus, sage ich, raus!

Als die schweißfeuchten Hände des Mannes an das kleine Fenster der Waggontür klatschen, blicken die ersten Umstehenden nun etwas genauer zum Zug. Er rüttelt, zerrt und reißt an der Tür und als sie mit einem kleinen Zischen aufgeht, stolpert der eigenartig gekleidete Mann auf den Bahnsteig und steht urplötzlich im Mittelpunkt des Interesses. Unzählige misstrauisch blickende Augenpaare mustern seine abgetragenen Sandalen, den unmodischen Stoff, der, wie ein Gewand, seinen Körper bedeckt und insbesondere den geschwungenen Filzhut, mit der großen Feder daran. Die dunklen Haare sind zerzaust, Schweißperlen hängen in den dichten Augenbrauen und der kräftige Bart hängt wirr und ungepflegt von der Haut, während der Mann keuchend, mit ebenso verwirrtem Blick, auf die umstehenden Gaffer blickt.

žIch bin Velázquez., brüllt der Mann ins weite, betonierte Rund und löst erste, spöttische Reaktionen aus. žIch bin Velázquez, der Künstler. Ich suche meine Tochter. Wo ist sie?, ruft Velázquez erneut, doch mit diesen Aussagen löst er bei den Leuten endgültig die Anspannung.

Diejenigen, die sich nicht schon unbekümmert abwenden, tauschen ihren unfreundlich-misstrauischen Blick, gegen eine gemein auflachende Fratze ein und unzählige zuckende Finger zeigen auf Velázquez, der panisch rückwärts läuft, ehe er an den Waggon schlägt.
Die Menschen verteilen sich wieder. Im Vorbeigehen blitzen die abfällig lachenden Gesichter wieder auf, doch nach einer Weile scheint sich keiner von ihnen mehr aktiv für Velázquez zu interessieren. Als er dies langsam realisiert, tastet er sich vorsichtig wieder nach vorne.
Den Hut mittlerweile nervös zwischen den Fingern knetend, schreitet er orientierungslos über den Bahnhof.

žAn Gleis 8 erhält Einfahrt der Eilzug aus Madrid. Eine leicht verzerrte Frauenstimme dröhnt aus den Lautsprechern über den Bahnsteig und lässt Velázquez schreckhaft zusammenfahren. Mit ungläubigem Blick versucht er die Quelle der unwirklich klingenden Stimme zu finden, als ihn eine fremde Schulter kräftig stößt und sein Hut auf dem Boden landet, wo ihn die Füße der Leute treten und forttragen. Velázquez bückt sich, kriecht über den dreckigen Boden und versucht seinen Hut zu fassen. Während neben ihm ein wirres Getöse anschwillt, zwängt er sich an immer mehr ausweichenden Beinpaaren vorbei, ehe er seinen Hut neben zwei glänzenden, schwarzen Schuhen sieht. Die Schuhe gehören zu einer edlen Stoffhose, die kurz darauf in einem schweren, schwarzen Mantel verschwindet. Von oben blickt ein piekfein geschniegelter Mann auf Velázquez herab. Noch bevor dieser rational erfassen kann, was ein Mann mit Wintermantel und schwarzem Regenschirm im Hochsommer hier verloren hat, spricht der Fremde schon in einem merkwürdig wissenden Ton:
žDiego Velázquez. Du bist ziemlich spät.

Als suche er vor lauter Hilflosigkeit Schutz, ergreift Velázquez seinen Hut und klammert ihn eng an sich, während er leicht auf den Knien zurückweicht.
žIch verstehe nicht. Wo bin ich?, stammelt Velázquez. Der Mann bleibt ruhig. Die Hände mit dem Regenschirm verharren locker auf dem Rücken und seine Stimme bleibt ruhig und vertraulich, als er erklärt, es sei völlig egal wo Velázquez sei, solange er wisse warum er hier ist.
žIgnacia!, bringt Velázquez mit weit aufgerissenen Augen hervor. žMeine Tochter. Wo ist meine Tochter? Weißt du, wo sie ist?
Bohrend starrt Velázquez auf den Mann, hat dessen Lippen fest im Blick und wartet ungeduldig auf den Moment, in dem sich diese Lippen öffnen und erklingen wird, wo Ignacia zu finden ist, als sich der Kopf des Fremden plötzlich verneinend hin und her bewegt.
žTut mir leid, mein Freund. Ich kann dir nur sagen, wer es weiß.
žSag es mir! Sag mir, wie ich meine Tochter finden kann!
Der Fremde holt ein weißes Tuch aus einer Tasche und tupft sich den Schweiß von der Stirn, während der panische Velázquez mit seinem übermäßig feuchtem Gesicht zu ihm heraufblickt und endlich die Nachricht hören will, die ihn ans Ziel bringen soll.
žAm östlichen Ende von Gleis 4 - da sitzt ein alter Mann mit einem Hund an einem großen Kasten. Dieser Mann wird dir sagen, wo du deine Tochter finden kannst., spricht der Fremde im immergleich-belehrenden Ton. Velázquez beugt sich, noch immer auf dem Boden kauernd, vor und küsst die glänzenden Schuhe des Mannes und richtet sich eilig auf.
žIch danke Ihnen, mein Herr., kommt ihm knapp über die Lippen, dann entfernt sich Velázquez auch schon und läuft davon.
Vorbei an diesen ganzen Menschen in ihren merkwürdigen Gewändern, die ihn noch immer mit diesem Blick betrachten, der so unfreundlich wirkt. Velázquez läuft und läuft, die Augen weit aufgerissen und doch kaum Wesentliches erfassend, als er plötzlich stoppt.
žGleis 4 Gleis 4 hat er gesagt. Wo ist das? Was ist das? Wirr murmelt er vor sich hin, schwenkt zur Seite aus und dreht sich halb, gedanklich im Prozess zu erfassen, wo ihn der Fremde hinlotsen wollte. Und während er hilflos, wie trunken, hin und her schwankt, mit leeren Augen umher blickt, sind es plötzlich die platschend aufflatternden Flügel einer Taube, die seinen Blick auf die große ž8 lenken, die weiß auf blau auf einem Schild prangt.
žWenn hier die Acht steht, muss ich das Schild mit der Vier finden., spricht Velázquez, mehr in Gedanken, zu sich, ehe er eilig vorwärts prescht und freudig die ž7 erkennt, die gleich anbei zu finden ist. Er eilt an den Rand der Plattform und blickt, über die Gleise hinweg, auf die gegenüberliegende Betoninsel. Die altbekannten Blicke der Passanten ignorierend, springt Velázquez auf die Gleise, überquert die Schienen und gelangt auf die nächste Insel, wo ihm die blaue ž6 und ž5 ins Auge springt. Der logischen Abfolge nachlaufend, rennt er weiter, will erneut über die Gleise, um die nächste Insel zu erreichen, als zwei uniformierte Arme ihn plötzlich ergreifen und zu Boden ringen.

žSie können doch nicht einfach über die Gleise rennen! Sind Sie denn lebensmüde?, fragt der junge Mann im engen, blauen Hemd.
žLasst mich los! Ich muss weiter. Ich muss wissen wo meine Tochter ist!
Mehr Personen reihen sich um den am Boden in der Umklammerung strampelnden Velázquez, auch weitere Männer in Uniform. Der, der ihn am Boden hält, spricht zu seinen Kollegen:
žEr scheint geistig verwirrt. Vermutlich Hitzeschlag.
žIch bin nicht geisteskrank. Ich will zu meine Tochter! Lasst mich los, verdammte Hunde!
žWo ist ihre Tochter? Ist sie hier auf dem Bahnhof?
žIch weiß es nicht. Er muss es mir doch sagen.
žWer muss es ihnen sagen?
žDer Mann an Gleis 4!
Auf den klebrig-staubigen Boden gepresst, den Blick forcierend auf die so nahe nächste Insel, bemerkt Velázquez nicht, wie die uniformierten Männer einander zu nicken und ihn nun gemeinsam aufrichten und forttragen. Unter wildem Geschrei und den amüsiert-besorgten Blicken der Umstehenden, wird Velázquez die Treppe heruntergetragen und verschwindet im Dunkel der Bahnhofsgänge. Der Filzhut mit der Feder trudelt einsam, von einem Fuß getreten, den Rand der Plattform herunter und bleibt an den Gleisen liegen.

[...]
 

Brick

Der mit der Mütze
der erste teil bisher garnicht so übel schön voll mit rätseln zweiten lese ich später
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Jetzt habe ich mir etwas mehr Zeit genommen und sich auf diese (etwas lange) Story eingelassen.
Und sie hat mir gefallen. Sprachlich sehr schön, Aufbau ist ebenfalls gut, nur die Auflösung habe ich nicht so ganz verstanden. Ist er ein zeitreisender Geist?

Und so ein paar kleine Sachen:
...so als hätte man ihr um eine übermäßig lästige Aufgabe zugeteilt...
Hier scheint sich ein Satzbaufehler eingeschlichen zu haben :wink:

...für Sentimentalität war jetzt keine Zeit, spricht er sich selbst beruhigend zu...
Und hier würde ich "war" durch "ist" ersetzen.

Ansonsten eine wirklich gute Geschichte.
 

Joel.Barish

dank AF
Ja, danke fürs lesen. :wink: Ja, die Geschichte ist lang, wie bei meinen Kurzgeschichten so üblich. Maß halten ist bei sowas eine Schwäche von mir.:squint:

Ich weiß nicht mehr genau, wie wir auf Velázquez kamen. Wir hatten die Idee mit den Geschichten schon vorher und jetzt wollten wir Nägel mit Köpfen machen und da wurde rumgeblödelt und rumgealbert und irgendwann stand Velázquez am Bahnhof rum und das wurde dann genommen. Irgendwie. :ugly:

Deswegen sind manche Dialoge auch etwas "platter". Es sollte etwas altmodisch klingen, beim Mann im Mantel und bei der Frau mit dem Spiegel zusätzlich noch etwas von oben herab. Und etwas unrealistisch.

Was die Auflösung betrifft... also "zeitreisender Geist" ist mir etwas zu platt. Mir ging es auch gar nicht darum, was es ist, sondern was es bedeutet. Velázquez, also der Künstler, hatte wirklich eine Tochter, die kurz nach der Geburt gestorben ist. Das war meine Inspiration und ich wollte dieses nicht-loslassen-wollen darstellen und eben nicht loslassen bis in eine Zeit, in die man nicht gehört. Es ist mehr symbolisch, als Science-Fiction-mäßig.
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Original von Joel.Barish
Velázquez, also der Künstler, hatte wirklich eine Tochter, die kurz nach der Geburt gestorben ist. Das war meine Inspiration und ich wollte dieses nicht-loslassen-wollen darstellen und eben nicht loslassen bis in eine Zeit, in die man nicht gehört. Es ist mehr symbolisch, als Science-Fiction-mäßig.
Siehst du, der Name sagte mir nichts, deshalb kam mir diese Idee nicht :wink:
 
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