Clive77
Serial Watcher
Tag 1
Im Jahre 2211 warten die „Insekten“ mit den Namen DER und DIE in langen Schlangen auf den Einlass zum kolossalen Bau, um ihre neue Arbeit beginnen zu können. DER ist der Vater der kleinen DIE und sichtlich angespannt, als er als Neuankömmling die zwei Wächter am Haupteingang beobachtet, die die Wartenden in zwei Gruppen einteilen. Mit einem Scanner überprüfen sie die Leistungsfähigkeit der Arbeiter. Sie halten den Scanner an das jeweilige Gelenk, wodurch sich der an der Stirn befindende Strichcode bei der Ergebnisanzeige entweder „rot“ oder „grün“ färbt.
„Grün nach links in die Schleuse!“, ruft der Wächter aus DERs Schlange.
Schon geht der erste Arbeiter durch das grüne Tor und verschwindet im Bau.
„Grün nach links!“, sagt der Wächter der anderen Schlange und ein weiterer Arbeiter begibt sich zum grünen Tor.
„Grün!“
„Grün!“
„Grün!“
Die beiden Wächter wechseln sich mit kurzen und knackigen Ansagen ab. So langsam schöpft DER Hoffnung. Einer nach dem anderem wird durch das grüne Tor geschickt.
„Grün!“
„Grün!“
„Grün!“
„Papa? Mir geht es nicht gut. Mir ist schlecht!“, seufzt DIE, während sie ihren Vater traurig anschaut.
DER wird unruhiger.
„Mein Engelchen, du musst noch etwas durchhalten. Gleich haben wir es geschafft. Es dauert nicht mehr lange! Guck mal die Schlange wird immer kleiner!“
„Aber Papa, ich kann doch nicht mehr!“, sagt DIE und beginnt zu husten.
Die Menschen in der Schlange drehen sich zu den beiden um und weichen erschrocken ein paar Schritte zurück. DER hält den Mund seiner Tochter zu. Er kniet sich zu ihr und flüstert liebevoll in ihr Ohr.
„Ich weiß, mein Engelchen, aber könntest du etwas leiser husten?“
DIE erkennt die Angst in den Augen ihres Vaters und nickt verständnisvoll. DER schaut sich um. Fast alle um ihn herum scheinen stärker und bei vollen Kräften zu sein. Ein Vater weiter vorne in der Reihe wirft seine Kinder in die Luft und fängt sie spielend auf. Auch die Kinder wirken bärenstark und voller Energie. Ihr Bizeps ist größer als der von DER und ihre Pupillen sind weit aufgerissen. Einer von ihnen schafft es sogar, den Vater leicht anzuheben.
„Unfassbar. So viele Starke habe ich selten gesehen!“, denkt DER beeindruckt.
Zweifel kommen in ihm hoch. Plötzlich kratzt es auch in seiner Kehle. Er muss husten, wird nervös. Er blickt sich hektisch um. Kurz bevor er hustet, ertönt ein lautes Geräusch.
„Papa, hast du etwa gepupst?!“, ruft DIE entsetzt.
Die anderen in der Schlange lachen fröhlich.
„Grün!“, ruft der Wächter aus der Ferne. „Los weiter. Nicht trödeln dahinten!“
„Früher habe ich gehustet, damit man meine Blähungen nicht hört und jetzt ist es genau umgekehrt!“, denkt DER.
Er fühlt sich immer schwächer. Demonstrativ nimmt er DIE und wirft sie in die Luft, um Stärke zu symbolisieren.
„Ich wusste nicht, dass sie so schwer ist!“, denkt er.
Er keucht vor Erschöpfung. Als er DIE erneut in die Luft wirft, bricht er zusammen, sodass seine Tochter mit voller Wucht auf den Boden knallt. Sie weint sehr laut.
„Aua! Du hast mich fallen lassen!“
„Psst. Sei doch bitte still, mein Engelchen!“
„Das tut aber so weh!“
Überall herrscht plötzlich Stille. DER blickt sich panisch um.
„Aber die gucken doch gar nicht auf uns!“, denkt er.
„Halt! Das ist das falsche Tor. Sie müssen durch das rote Tor!“, ruft der Wächter in DERs Schlange. „Stehen bleiben! Sofort!“
Eine alte Dame schreit um ihr Leben. Sie versucht sich, von dem Wächter loszureißen und durch das grüne Tor zu rennen, doch es ist vergeblich.
„Halt. Nein. Das muss ein Fehler sein! Ich bin grün. Grün. Ich bin bestimmt grün! Bitte lassen Sie mich durch das grüne Tor gehen! Bitte!“, fleht sie.
DER schaut in das Gesicht der alten Dame. Ihre Augen strahlen Verzweiflung aus. Er kann nicht von dem roten Strichcode auf ihrer Stirn lassen. Er zählt ihre Striche. Es sind 19. So wie bei jedem. Hektisch fährt er sich über die Stirn und zählt nach.
„Es sind 19! Auch bei mir! Eigentlich war das ja auch klar. Aber das Zählen beruhigt mich“, denkt er sich, ehe die Stimme des Wächters ihn aus seinen Gedanken reißt.
„Nein. Der Scanner irrt nicht. Hier steht 0,9. Das ist eine Minderleistung! Rotes Tor! Sofort!“, befiehlt der Wächter.
„Nein. Bitte! Scannen Sie noch einmal! Bitte! Bitte! Es sind doch nur 0,1 Punkte bis zur Minimalleistung!“, winselt die Dame.
„Na gut!“, brummt der Wächter und hält den Scanner an ihr Handgelenk.
„Rot! Immer noch! 0,9!“, sagt er nüchtern.
„Nein. Bitte! Nein. Mir geht es gut. Aber das kann doch nicht sein…“
„Vertrauen Sie mir, werte Dame. Es ist eine 0,9. Ich will Ihnen nichts Böses!“
Der Wächter zieht schnell den Scanner mit der Anzeige weg.
„Hilfe. Nein. Betrug! Da steht aber eine 1,0!“, schreit die Frau. „Hilfe! Hilfe! So helft mir doch! Ich werde betrogen! Hilfe! Hilfe!“
„Bitte vertrauen Sie mir doch! Ich will Ihnen nichts Böses! Das ist nur ein Toleranzwert. Schauen Sie doch selber!“ Der Wächter reißt die Frau zur Seite und hält ihr Gesicht vor einen Spiegel. „Sehen Sie? Rot!“ Dann flüstert er leise in ihr Ohr. „Vertrauen Sie mir. Ihnen wird aber nichts geschehen!“
„Haben Sie kein Mitleid mit einer alten Dame?“
Der Wächter wirkt nachdenklich, so als ob er etwas vertuschen wolle.
„Nein. Mit vielen anderen hier, aber mit Ihnen nicht!“
Die Frau senkt ihren Kopf und geht resignierend durch das rote Tor.
DER wird nervös. Er schaut sich um. Die Menge wirkt verunsichert. Er sieht keine anderen Wächter, die an den Schlangen kontrollieren. Er blickt auf seine Tochter, die immer noch hustet. Sie schläft beinahe und wirkt sehr geschwächt. Hektisch stülpt er ihr eine Mütze über den Kopf. Dann setzt er sich seinen Kapuzenpulli auf. Er atmet ein paar Mal tief ein und aus. Danach wirft er DIE auf seinen Arm und rennt so schnell wie er kann davon. Im Hintergrund erhallen Rufe.
„Halt! Stopp! Wir schießen!“
Niemand schießt. DER dreht sich nicht um. Mit seiner Tochter verschwindet er im Wald.
Tag 3
Am frühen Morgen stehen DER und DIE wieder in der Schlange. Den Vortag verbrachten sie in den Wäldern. Mit Medikamenten und viel Schlaf hatte DER versucht, beide wieder aufzupäppeln.
„Gut, dass wir im Wald nicht gefunden wurden. Flüchtlinge werden sofort erschossen! Wir mussten einfach wieder hier hin! Das ist unsere einzige Chance!“, denkt er.
DER betrachtet seine Tochter, die nicht mehr hustet, aber endlich wieder lächelt. Überall laufen vermummte Patrouillen um die beiden Schlangen herum. Obwohl sie ganz früh erschienen sind, befinden sich noch einige andere vor ihnen in der Reihe.
„Ich will es hinter mich bringen! Und wenn wir durch das rote Tor müssen, dann ist die Scham nicht so groß. Und nicht alle kriegen das mit!“, denkt er.
Er blickt erneut auf seine Tochter, die glücklich seine Hand hält.
„Sie sieht gut aus, sehr gut sogar. Vielleicht sind wir ja doch nicht…“
„Grün!“, ruft einer der Wächter und reißt ihn aus seinen Gedanken.
„Grün!“, schreit der andere.
Beide Wächter tragen dieses Mal eine Maske mit Filter.
Auch heute wirken die anderen „Insekten“ wieder munter und impulsiv, beinahe schon überschwänglich. Auf einmal ertönen Schüsse. Die Leute drehen sich panisch um.
„Ich will so nicht sterben!“, ruft ein anderer Mann.
Wieder rebelliert ein „Insekt“ am Tor. Es ist ein Mann.
„Nein! Nein. Ich bin nicht grün. Ich bin rot! Bitte prüft nochmal nach!“
„Sei still!“, schreit der Wächter ihn an.
„Der Code ist doch grün! Wo ist das Problem!“, denkt sich DER, als er auf die Stirn des Mannes schaut.
„Nein. Ich bin nicht grün!“, brüllt er und versucht, sich loszueisen.
Der Wächter gibt ein Signal. Weitere Männer eilen ihm zur Hilfe und führen den Mann durch das grüne Tor.
„Nein! Hilfe! Hilfe! Ich weiß, was grün wirklich bedeutet! Ich habe es gestern im Radio gehört!“, schreit der Mann.
Brutal wird er von den anderen Wächtern zusammengeschlagen und weggezerrt. Sie halten seinen Mund zu. Die Wartenden werden unruhiger.
„Papa, was ist da los?“, fragt DIE.
„Wenn ich das nur wüsste!“
„Papa? Schaffen wir das?“, fragt sie ängstlich.
„Ja! Natürlich! Ist deine Uhr sauber? Du musst gleich einen guten Eindruck hinterlassen!“
DIE nickt.
„Zeig‘ mal!“
Sie streckt ihre Hand aus und präsentiert ihre schwarze Smart Watch. Sie ist sauber, blitzt sogar in der gleißenden Sonne.
DER küsst den Strichcode auf ihrer Stirn. In seiner Wahrnehmung verfliegt die Zeit. Plötzlich stehen er und DIE vor dem Wächter, der beide Uhren mit dem Scanner auswertet. DER zittert vor Angst. Er atmet ein, dann langsam aus und schließt hoffnungsvoll die Augen. Lange kommt keine Reaktion. Er wird nervöser.
„Papa. Papa. Wir sind rot! Was machen wir jetzt? Ich hab‘ Angst!“, seufzt DIE.
DER blickt auf den Wächter.
„Sicher?“
„Ganz sicher!“
„Würden Sie es mir zeigen?“
„Na gut! Hier!“
Der Wächter streckt ihm den Scanner mit seiner Anzeige entgegen.
„0,7?“
„Kann man da wirklich nichts…?“
„Nein. Kann man nicht!“
DER sieht seine Tochter an. Der Strichcode auf ihrer Stirn leuchtet rot.
„Papa. Ich habe Angst!“
„Ich auch!“, flüstert er und senkt sein Haupt. „Aber alles wird gut!“
„Wirklich?“
„Wirklich, mein Engelchen!“
Schnell werden beide durch die Wächter abgeschirmt. Verunsichert gehen beide durch das rote Tor. Der Eingang hinter ihnen verschließt sich sofort.
***
Stundenlang warten sie vor einer weiteren verschlossenen Türe.
„Papa. Warum folgt uns keiner?“
„Ich weiß es nicht, mein Engelchen!“
Im Hintergrund sind vereinzelt Explosionen zu hören. DER drückt DIE ganz fest an sich.
„Papa, ich habe Angst! Ich will nicht sterben!“
„Das wirst du nicht!“, flüstert er in ihr Ohr. „Versprochen!“
Tag 4
Beide sind auf dem kalten Boden eingeschlafen. Es ist noch Nacht, als die elektronische Metalltür sich vor ihnen öffnet.
„Papa! Aufwachen! Die Tür, guck mal!“
DER reibt sich die Augen. Sein Husten wird schlimmer und seine Halsschmerzen immer größer. Er schaut sich weiter um. Beide sind immer noch alleine. Er nimmt die Hand seiner Tochter und sie schreiten durch das Tor.
„Eine Lagerhalle!“, sagt DIE.
„Mist. Wir sind die einzigen hier!“, jammert DER.
Während er leise zu weinen beginnt und verzweifelt auf seine Knie fällt, unterbricht ihn seine Tochter.
„Nein. Guck mal. Die alte Frau von gestern ist doch auch da!“
„Na toll! Jeder weiß, was das heißt!“, denkt er sich.
DER blickt genauer hin. In der hinteren Ecke der Halle liegt ein lebloser Körper auf einer der zahlreichen Pritschen. Es ist die Frau von Tag 1. Die beiden begeben sich verwundert zu der Dame. DER berührt sanft und vorsichtig ihre Schulter.
„Hallo? Alles gut bei Ihnen?“
Die Frau lebt. Sie dreht sich langsam um.
„Guten Morgen! Ja, bis auf den Schnupfen und die Schwäche geht es mir gut! Sehr gut sogar. Ihnen auch, wie ich sehe.“
Die Frau wirkt wett, ihre Augen sind ozeanblau und milde.
Eine Explosion bringt plötzlich die Halle zum Beben. Schreie sind zu hören.
DIE beginnt zu weinen und greift DERs Hand.
„Ich hab‘ Angst!“, schreit DIE.
„Das musst du nicht. Wir sind hier sicher!“, sagt die alte Frau in einem beruhigenden Ton.
Als wieder Stille einkehrt, schickt DER seine Tochter in die andere Ecke der Halle, um sich umzuschauen. Dann packt er sich die Frau, zieht sie zur Seite und flüstert ihr aggressiv ins Ohr.
„Natürlich. Sicher?! Wir?! Und gut sehen wir auch aus?! Ist schon klar. Die erschießen uns gleich. Erzählen Sie meiner Tochter doch nicht so einen Mist. Sehen Sie nicht unsere Strichcodes? Sehen Sie auf meine Stirn! Rot. Ich bin Rot! Und gleich sind wir tot!“
„Wissen Sie es wirklich noch nicht?“, fragt die Frau verblüfft.
„Was?“
„Dass die uns angelogen haben! Die ganzen Wochen über! Komplett gelogen!“
„Gelogen? Wer hat gelogen?“
„Die Menschen!“
„Welche Menschen? Wir sind alles Menschen!“
„Das waren wir vielleicht mal vor ein paar Wochen! Vor dem Virus! Wir sind jetzt „Insekten“, einfache „Insekten“!“
„Ja stimmt, aber warum eigentlich? Ich habe die Einstufung, die vor ein paar Wochen gemacht wurde kaum mitbekommen! Ich war damit beschäftigt, am Leben zu bleiben und meine Tochter zu beschützen!“
„Warum, fragen Sie? Weil wir arm sind. Von uns gibt es die meisten. Wie im Tierreich. Wir sind die „Insekten“! Wir sind nichts Besonderes! Und doch gäbe es die Welt ohne uns eigentlich nicht!“
„Und was sind dann die Reichen?“
„Das sind die einzig wahren Menschen, die auch als solche neu klassifiziert wurden! Politiker, Ärzte, Akademiker, Sportler und Wirtschaftsgrößen! Was waren Sie vor der Pandemie?“
„Ich hatte eine Bar.“
„Sehen Sie?! Sie waren wertlos! Ein Insekt! Insekten sind nur zusammen stark. Deshalb müssen wir zusammenhalten!“
„Zusammenhalten? Wir? Warum eigentlich?“
„Um die Menschen zu besiegen. Weil nur der Mensch sich so etwas ausdenkt!“
„Häh? Was denkt sich der Mensch aus?“
DER wird immer angespannter und packt die Frau am Kragen.
„Die Minerion Maxime zum Beispiel!“
„Was ist das? Ich verstehe kein Wort. Sie sprechen in Rätseln.“
„Die Minerion Maxime besagte bis vor kurzem, dass nur die besten Menschen das Virus überleben dürfen! Ich nehme an, dass sie wenigstens das Virus kennen?!“
„Natürlich kenne ich das Virus! Ich bin doch nicht blöd und war vor dem Ausbruch auch nicht im Koma oder so! Die Menschen sterben an dem Virus, wie bei einer Grippe. Nach 40-50 Tagen bricht es aus und man stirbt an Organversagen!“
Die Frau lacht.
„Von wegen Grippe. Organversagen? Na ja. Könnte man auch so sehen! Das hat man versucht, uns weiszumachen! Und es sind auch nicht 40 Tage, sondern 80!“
„Was soll das heißen?“
„Hören Sie nicht die Explosionen?“
„Sie meinen die Schüsse! Das sind die Infizierten, die erschossen werden, damit sie uns nicht anstecken!“
Die Frau lacht noch lauter.
„Zuerst nahm ich dies auch an! Doch denken Sie einmal nach! Glauben Sie wirklich, dass die Regierung dafür Munition verschwenden würde? Da gab es in der Geschichte der Menschheit schon effektivere Methoden als Kugeln!“
„Was wollen Sie mir damit sagen?“
„Das sind keine Schüsse.“
„Was ist das denn sonst?!“
„Die Menschen explodieren durch das Virus.“
„Sie lügen!“, schreit DER. „Niemals! Das ist doch kein scheiß Science-Fiction-Film hier!“
„Haben Sie nicht die starken Menschen gesehen, ihre erweiterten Pupillen, ihre aufgedunsenen Muskeln, selbst bei den kleinen Kindern? Das war doch eigentlich nicht mehr normal!“
„Öhm. Doch! Ja, habe ich! Stimmt! Das war schon seltsam.“
„Eben. Das sind typische Symptome. Und irgendwann, dann platzt der Körper und die Menschen explodieren. Und über diese neue Art von Tröpfcheninfektion verbreitet sich das Virus.“
„Aber schauen Sie uns an! Wir husten doch. Wir haben Schnupfen.“
„Ist das so verwunderlich? Seit wann sind Sie auf der Flucht und wann haben Sie das letzte Mal etwas Vernünftiges gegessen?“
„Das war vor der Pandemie. Das letzte Mal vor sieben bis acht Wochen. Und bis vor kurzem habe ich Desinfektionsmittel hergestellt in einem Lager in Formeria.“
„Sehen Sie! Kein Wunder, dass Sie geschwächt sind! Das ist eigentlich ein gutes Zeichen. Wenn Sie sich wie Herkules fühlen würden, dann würde ich mir Sorgen machen!“
„Ich glaube Ihnen kein Wort. Vor zwei Wochen haben wir in der anderen Fabrik gearbeitet, bis wir hierhin geschickt wurden. Da hieß es, rot gleich tot und die Grünen durften weiterarbeiten.“
„Das dachten wir auch alle! Aber er hat uns alle angelogen!“
„Wer denn?!“
„Magnus Minerion.“
„Dieser Virologe aus den Medien?“
„Genau der! Der wichtigste Berater der Regierung!“
„Warum sollte er so etwas Dummes tun?“
„Weil er bereits diese Symptome hatte und genug Zeit herausspielen wollte, um ein Gegenmittel zu erfinden! Sie haben uns alle angelogen und gestern ist er während der Pressekonferenz explodiert!“
„Und was ist mit den Fieberkranken?“, fragt DER besorgt.
„Alles Propagandaopfer! Die sind alle um sonst gestorben, fürchte ich!“, entgegnet die Frau sichtlich ergriffen.
„Dieses Schwein! So viele Unschuldige mit einem Husten oder einer Grippe sind also zu Unrecht hingerichtet worden?!“
„Nein. So würde ich das nicht sehen! Minerion war kein Schwein. Er war viel schlimmer! Er war ein Mensch. Nur Menschen machen so etwas Widerliches!“
„Aber wie konnte er das solange verschleiern?!“
„Wie gesagt. Zahlen wurden gefälscht. Die Inkubationszeit beträgt angeblich mindestens 80-100 Tage und Minerion war einer der ersten Infizierten! Er wollte nicht sterben, hat sich das alles ausgedacht und Berichte gefälscht. Sein ebenfalls infiziertes Team hat ihm natürlich dabei geholfen. Aber nur „Insekten“ wurden und werden kontrolliert. Keiner ist davon ausgegangen, dass Reiche sich anstecken. Die wahren Menschen wohnen doch eh isoliert und kommen doch schon seit Jahren nicht mehr mit uns in Kontakt. Wir sind doch alles nur Nachkommen von Flüchtlingen aus den Jahren 2009-2021 oder haben einen anderen Migrationshintergrund. Wir sind nichts wert!“
DER wird nachdenklich.
„Das heißt also, dass 0,7 in Wahrheit ein guter Wert ist?“
„Richtig. Alle, die über 1,0 lagen und überdurchschnittlich viel leisten konnten, konnten dies nur, weil sie hochgradig infiziert waren. Und ihre Werte steigern sich, bis sie…“
Ein weiterer Knall ist zu hören. Etwas Putz löst sich von der bebenden Decke und rieselt auf die Haare der Frau, die sich grau färben.
„Genau! Das…“, sagt sie und grinst zynisch.
„Woher wissen Sie das denn alles?“
„Wir haben hier drin Radio, seit gestern zumindest! Ein Wächter, der wirklich nicht sehr gut aussah, hatte Mitleid mit mir und hat das Radio eingeschaltet.“ Die Frau lächelt sanft. „So etwas durfte ich seit Wochen nicht mehr hören! Das war wirklich toll!“
„Stimmt. Seit der Pandemie sind soziale Medien Luxus! Deshalb wussten die anderen Menschen da draußen auch nicht Bescheid und wurden in ihr Verderben geschickt.“, ergänzt DER.
„Vorher hatte ich auch keine Ahnung. Gestern dachte ich auch noch, dass ich heute schon längst tot wäre. Die Erkenntnisse sind vollkommen neu oder wurden vor uns geheim gehalten!“
„Und was produzieren wir hier? Masken und Schutzkleidung oder war das auch eine große Lüge?“
„Nein. Das haben Sie schon richtig angenommen! Aber zu dritt wird das schwierig. Es scheint so, als ob fast jeder hier infiziert ist, selbst die Wächter!“
„Wieso?“
„Weil sie keinen mehr hier rein schicken. Als ich ankam, war ich alleine! Und den Wächter von gestern habe ich schon lange nicht mehr gesehen!“
„Warum arbeiten wir dann nicht umso härter, wenn wir eh nur so wenige sind. Dann muss die Taktzahl halt erhöht werden!?!“
„Hören Sie mir nicht zu?! Weil die Wächter wegsterben wie die Fliegen. Keiner kontrolliert uns und weil wir für uns drei genug Kleidung haben, sehe ich es auch nicht ein, zu arbeiten! Die Kleidung liegt übrigens im Nebenraum bei den Maschinen!“
DER wird skeptisch.
„Und warum gehen wir da nicht rein?“
„Schauen Sie doch selber nach! Gucken Sie durch die Luke! Die Tür ist nicht verschlossen, aber ich würde den Nebenraum nicht betreten, wenn ich Sie wäre!“
Die Frau zeigt DER das Guckloch, durch das man in die Nebenhalle schauen kann. Dort befinden sich Dutzende Maschinen, die fleißig Masken produzieren.
„Und warum gehen wir da jetzt nicht einfach rein und schützen uns?“
„Schauen Sie genauer hin!“
Die Frau zeigt mit ihrem Kopf auf den leblosen Körper eines Wächters, der samt seiner schwarzen Schutzkleidung plus Helm auf dem Boden in einer Blutlache liegt.
„Was ist passiert?“
„Boom!“, sagt die Frau und macht die dementsprechende Handbewegung dazu.
„Was ist Ihr Plan?“
„Wir drei warten ein paar Tage ab bis das Virus nicht mehr in der Luft liegt und dann schnappen wir uns die Kleidung und hauen ab!“
DER nickt irritiert. DIE kommt zurück und umklammert das Bein ihres Vaters, an das sie sich kuschelt. Ihr Mund ist nass.
„Ich habe auch Wachbecken gefunden. Es gibt hier Wasser! Da hinten, Papa. Das Wasser ist voll lecker! Endlich habe ich keinen Durst mehr!“, sagt DIE.
„Hallo, mein kleiner Käfer!“, sagt die Frau und fährt durch DIEs Haare. „Ich glaube, dass wir drei großes Glück hatten, dass die Wahrheit noch rechtzeitig aus Herrn Minerion geplatzt ist“, sagt die Frau und schmunzelt. „Wir kommen hier raus!“
„Wirklich?“, fragt DER die Frau.
„Aber klar, Papa! Das hast du mir doch versprochen!“, ruft DIE und lacht.
Tag 19
Ein schwarzer Lastwagen der Regierung hält mitten auf einem Feldweg.
„Warum hältst du? Was soll das?“, fragt der Kommandeur den Fahrer.
„Da ist was! Jetzt sehe ich es. Das sind drei Wächter aus Felicia, nehme ich an! Sie sehen sehr geschwächt aus! Infiziert können sie demnach nicht sein! Die winken uns zu! Aber halt! Das eine scheint entweder ein Liliputaner oder ein Kind zu sein!“
„Zeig mal her! Tatsächlich! Ich habe seit Tagen keine Überlenden mehr gesehen! Die sammeln wir ein! Aber mit Vorsicht!“
***
Der Kommandeur zieht sich Schutzkleidung und einen Helm an. Dann steigt er aus dem Wagen und winkt die drei Personen zu sich. DER, DIE und die alte Dame gehen mit letzter Kraft zu dem Wagen und ziehen ihre Helme aus. Sie wirken völlig erschöpft und ausgezehrt. Sie gehen auf den Kommandeur zu.
„Halt! Nicht so schnell! Bleibt bitte noch auf Abstand. Ein kleiner letzter Test noch! Hier!“
Er schmeißt einen Scanner vor DERs Füße und grinst.
Nach langer Zeit lachen DER und DIE und liegen sich jubelnd in den Armen. Dann hebt DER den Scanner auf.
ENDE
Im Jahre 2211 warten die „Insekten“ mit den Namen DER und DIE in langen Schlangen auf den Einlass zum kolossalen Bau, um ihre neue Arbeit beginnen zu können. DER ist der Vater der kleinen DIE und sichtlich angespannt, als er als Neuankömmling die zwei Wächter am Haupteingang beobachtet, die die Wartenden in zwei Gruppen einteilen. Mit einem Scanner überprüfen sie die Leistungsfähigkeit der Arbeiter. Sie halten den Scanner an das jeweilige Gelenk, wodurch sich der an der Stirn befindende Strichcode bei der Ergebnisanzeige entweder „rot“ oder „grün“ färbt.
„Grün nach links in die Schleuse!“, ruft der Wächter aus DERs Schlange.
Schon geht der erste Arbeiter durch das grüne Tor und verschwindet im Bau.
„Grün nach links!“, sagt der Wächter der anderen Schlange und ein weiterer Arbeiter begibt sich zum grünen Tor.
„Grün!“
„Grün!“
„Grün!“
Die beiden Wächter wechseln sich mit kurzen und knackigen Ansagen ab. So langsam schöpft DER Hoffnung. Einer nach dem anderem wird durch das grüne Tor geschickt.
„Grün!“
„Grün!“
„Grün!“
„Papa? Mir geht es nicht gut. Mir ist schlecht!“, seufzt DIE, während sie ihren Vater traurig anschaut.
DER wird unruhiger.
„Mein Engelchen, du musst noch etwas durchhalten. Gleich haben wir es geschafft. Es dauert nicht mehr lange! Guck mal die Schlange wird immer kleiner!“
„Aber Papa, ich kann doch nicht mehr!“, sagt DIE und beginnt zu husten.
Die Menschen in der Schlange drehen sich zu den beiden um und weichen erschrocken ein paar Schritte zurück. DER hält den Mund seiner Tochter zu. Er kniet sich zu ihr und flüstert liebevoll in ihr Ohr.
„Ich weiß, mein Engelchen, aber könntest du etwas leiser husten?“
DIE erkennt die Angst in den Augen ihres Vaters und nickt verständnisvoll. DER schaut sich um. Fast alle um ihn herum scheinen stärker und bei vollen Kräften zu sein. Ein Vater weiter vorne in der Reihe wirft seine Kinder in die Luft und fängt sie spielend auf. Auch die Kinder wirken bärenstark und voller Energie. Ihr Bizeps ist größer als der von DER und ihre Pupillen sind weit aufgerissen. Einer von ihnen schafft es sogar, den Vater leicht anzuheben.
„Unfassbar. So viele Starke habe ich selten gesehen!“, denkt DER beeindruckt.
Zweifel kommen in ihm hoch. Plötzlich kratzt es auch in seiner Kehle. Er muss husten, wird nervös. Er blickt sich hektisch um. Kurz bevor er hustet, ertönt ein lautes Geräusch.
„Papa, hast du etwa gepupst?!“, ruft DIE entsetzt.
Die anderen in der Schlange lachen fröhlich.
„Grün!“, ruft der Wächter aus der Ferne. „Los weiter. Nicht trödeln dahinten!“
„Früher habe ich gehustet, damit man meine Blähungen nicht hört und jetzt ist es genau umgekehrt!“, denkt DER.
Er fühlt sich immer schwächer. Demonstrativ nimmt er DIE und wirft sie in die Luft, um Stärke zu symbolisieren.
„Ich wusste nicht, dass sie so schwer ist!“, denkt er.
Er keucht vor Erschöpfung. Als er DIE erneut in die Luft wirft, bricht er zusammen, sodass seine Tochter mit voller Wucht auf den Boden knallt. Sie weint sehr laut.
„Aua! Du hast mich fallen lassen!“
„Psst. Sei doch bitte still, mein Engelchen!“
„Das tut aber so weh!“
Überall herrscht plötzlich Stille. DER blickt sich panisch um.
„Aber die gucken doch gar nicht auf uns!“, denkt er.
„Halt! Das ist das falsche Tor. Sie müssen durch das rote Tor!“, ruft der Wächter in DERs Schlange. „Stehen bleiben! Sofort!“
Eine alte Dame schreit um ihr Leben. Sie versucht sich, von dem Wächter loszureißen und durch das grüne Tor zu rennen, doch es ist vergeblich.
„Halt. Nein. Das muss ein Fehler sein! Ich bin grün. Grün. Ich bin bestimmt grün! Bitte lassen Sie mich durch das grüne Tor gehen! Bitte!“, fleht sie.
DER schaut in das Gesicht der alten Dame. Ihre Augen strahlen Verzweiflung aus. Er kann nicht von dem roten Strichcode auf ihrer Stirn lassen. Er zählt ihre Striche. Es sind 19. So wie bei jedem. Hektisch fährt er sich über die Stirn und zählt nach.
„Es sind 19! Auch bei mir! Eigentlich war das ja auch klar. Aber das Zählen beruhigt mich“, denkt er sich, ehe die Stimme des Wächters ihn aus seinen Gedanken reißt.
„Nein. Der Scanner irrt nicht. Hier steht 0,9. Das ist eine Minderleistung! Rotes Tor! Sofort!“, befiehlt der Wächter.
„Nein. Bitte! Scannen Sie noch einmal! Bitte! Bitte! Es sind doch nur 0,1 Punkte bis zur Minimalleistung!“, winselt die Dame.
„Na gut!“, brummt der Wächter und hält den Scanner an ihr Handgelenk.
„Rot! Immer noch! 0,9!“, sagt er nüchtern.
„Nein. Bitte! Nein. Mir geht es gut. Aber das kann doch nicht sein…“
„Vertrauen Sie mir, werte Dame. Es ist eine 0,9. Ich will Ihnen nichts Böses!“
Der Wächter zieht schnell den Scanner mit der Anzeige weg.
„Hilfe. Nein. Betrug! Da steht aber eine 1,0!“, schreit die Frau. „Hilfe! Hilfe! So helft mir doch! Ich werde betrogen! Hilfe! Hilfe!“
„Bitte vertrauen Sie mir doch! Ich will Ihnen nichts Böses! Das ist nur ein Toleranzwert. Schauen Sie doch selber!“ Der Wächter reißt die Frau zur Seite und hält ihr Gesicht vor einen Spiegel. „Sehen Sie? Rot!“ Dann flüstert er leise in ihr Ohr. „Vertrauen Sie mir. Ihnen wird aber nichts geschehen!“
„Haben Sie kein Mitleid mit einer alten Dame?“
Der Wächter wirkt nachdenklich, so als ob er etwas vertuschen wolle.
„Nein. Mit vielen anderen hier, aber mit Ihnen nicht!“
Die Frau senkt ihren Kopf und geht resignierend durch das rote Tor.
DER wird nervös. Er schaut sich um. Die Menge wirkt verunsichert. Er sieht keine anderen Wächter, die an den Schlangen kontrollieren. Er blickt auf seine Tochter, die immer noch hustet. Sie schläft beinahe und wirkt sehr geschwächt. Hektisch stülpt er ihr eine Mütze über den Kopf. Dann setzt er sich seinen Kapuzenpulli auf. Er atmet ein paar Mal tief ein und aus. Danach wirft er DIE auf seinen Arm und rennt so schnell wie er kann davon. Im Hintergrund erhallen Rufe.
„Halt! Stopp! Wir schießen!“
Niemand schießt. DER dreht sich nicht um. Mit seiner Tochter verschwindet er im Wald.
Tag 3
Am frühen Morgen stehen DER und DIE wieder in der Schlange. Den Vortag verbrachten sie in den Wäldern. Mit Medikamenten und viel Schlaf hatte DER versucht, beide wieder aufzupäppeln.
„Gut, dass wir im Wald nicht gefunden wurden. Flüchtlinge werden sofort erschossen! Wir mussten einfach wieder hier hin! Das ist unsere einzige Chance!“, denkt er.
DER betrachtet seine Tochter, die nicht mehr hustet, aber endlich wieder lächelt. Überall laufen vermummte Patrouillen um die beiden Schlangen herum. Obwohl sie ganz früh erschienen sind, befinden sich noch einige andere vor ihnen in der Reihe.
„Ich will es hinter mich bringen! Und wenn wir durch das rote Tor müssen, dann ist die Scham nicht so groß. Und nicht alle kriegen das mit!“, denkt er.
Er blickt erneut auf seine Tochter, die glücklich seine Hand hält.
„Sie sieht gut aus, sehr gut sogar. Vielleicht sind wir ja doch nicht…“
„Grün!“, ruft einer der Wächter und reißt ihn aus seinen Gedanken.
„Grün!“, schreit der andere.
Beide Wächter tragen dieses Mal eine Maske mit Filter.
Auch heute wirken die anderen „Insekten“ wieder munter und impulsiv, beinahe schon überschwänglich. Auf einmal ertönen Schüsse. Die Leute drehen sich panisch um.
„Ich will so nicht sterben!“, ruft ein anderer Mann.
Wieder rebelliert ein „Insekt“ am Tor. Es ist ein Mann.
„Nein! Nein. Ich bin nicht grün. Ich bin rot! Bitte prüft nochmal nach!“
„Sei still!“, schreit der Wächter ihn an.
„Der Code ist doch grün! Wo ist das Problem!“, denkt sich DER, als er auf die Stirn des Mannes schaut.
„Nein. Ich bin nicht grün!“, brüllt er und versucht, sich loszueisen.
Der Wächter gibt ein Signal. Weitere Männer eilen ihm zur Hilfe und führen den Mann durch das grüne Tor.
„Nein! Hilfe! Hilfe! Ich weiß, was grün wirklich bedeutet! Ich habe es gestern im Radio gehört!“, schreit der Mann.
Brutal wird er von den anderen Wächtern zusammengeschlagen und weggezerrt. Sie halten seinen Mund zu. Die Wartenden werden unruhiger.
„Papa, was ist da los?“, fragt DIE.
„Wenn ich das nur wüsste!“
„Papa? Schaffen wir das?“, fragt sie ängstlich.
„Ja! Natürlich! Ist deine Uhr sauber? Du musst gleich einen guten Eindruck hinterlassen!“
DIE nickt.
„Zeig‘ mal!“
Sie streckt ihre Hand aus und präsentiert ihre schwarze Smart Watch. Sie ist sauber, blitzt sogar in der gleißenden Sonne.
DER küsst den Strichcode auf ihrer Stirn. In seiner Wahrnehmung verfliegt die Zeit. Plötzlich stehen er und DIE vor dem Wächter, der beide Uhren mit dem Scanner auswertet. DER zittert vor Angst. Er atmet ein, dann langsam aus und schließt hoffnungsvoll die Augen. Lange kommt keine Reaktion. Er wird nervöser.
„Papa. Papa. Wir sind rot! Was machen wir jetzt? Ich hab‘ Angst!“, seufzt DIE.
DER blickt auf den Wächter.
„Sicher?“
„Ganz sicher!“
„Würden Sie es mir zeigen?“
„Na gut! Hier!“
Der Wächter streckt ihm den Scanner mit seiner Anzeige entgegen.
„0,7?“
„Kann man da wirklich nichts…?“
„Nein. Kann man nicht!“
DER sieht seine Tochter an. Der Strichcode auf ihrer Stirn leuchtet rot.
„Papa. Ich habe Angst!“
„Ich auch!“, flüstert er und senkt sein Haupt. „Aber alles wird gut!“
„Wirklich?“
„Wirklich, mein Engelchen!“
Schnell werden beide durch die Wächter abgeschirmt. Verunsichert gehen beide durch das rote Tor. Der Eingang hinter ihnen verschließt sich sofort.
***
Stundenlang warten sie vor einer weiteren verschlossenen Türe.
„Papa. Warum folgt uns keiner?“
„Ich weiß es nicht, mein Engelchen!“
Im Hintergrund sind vereinzelt Explosionen zu hören. DER drückt DIE ganz fest an sich.
„Papa, ich habe Angst! Ich will nicht sterben!“
„Das wirst du nicht!“, flüstert er in ihr Ohr. „Versprochen!“
Tag 4
Beide sind auf dem kalten Boden eingeschlafen. Es ist noch Nacht, als die elektronische Metalltür sich vor ihnen öffnet.
„Papa! Aufwachen! Die Tür, guck mal!“
DER reibt sich die Augen. Sein Husten wird schlimmer und seine Halsschmerzen immer größer. Er schaut sich weiter um. Beide sind immer noch alleine. Er nimmt die Hand seiner Tochter und sie schreiten durch das Tor.
„Eine Lagerhalle!“, sagt DIE.
„Mist. Wir sind die einzigen hier!“, jammert DER.
Während er leise zu weinen beginnt und verzweifelt auf seine Knie fällt, unterbricht ihn seine Tochter.
„Nein. Guck mal. Die alte Frau von gestern ist doch auch da!“
„Na toll! Jeder weiß, was das heißt!“, denkt er sich.
DER blickt genauer hin. In der hinteren Ecke der Halle liegt ein lebloser Körper auf einer der zahlreichen Pritschen. Es ist die Frau von Tag 1. Die beiden begeben sich verwundert zu der Dame. DER berührt sanft und vorsichtig ihre Schulter.
„Hallo? Alles gut bei Ihnen?“
Die Frau lebt. Sie dreht sich langsam um.
„Guten Morgen! Ja, bis auf den Schnupfen und die Schwäche geht es mir gut! Sehr gut sogar. Ihnen auch, wie ich sehe.“
Die Frau wirkt wett, ihre Augen sind ozeanblau und milde.
Eine Explosion bringt plötzlich die Halle zum Beben. Schreie sind zu hören.
DIE beginnt zu weinen und greift DERs Hand.
„Ich hab‘ Angst!“, schreit DIE.
„Das musst du nicht. Wir sind hier sicher!“, sagt die alte Frau in einem beruhigenden Ton.
Als wieder Stille einkehrt, schickt DER seine Tochter in die andere Ecke der Halle, um sich umzuschauen. Dann packt er sich die Frau, zieht sie zur Seite und flüstert ihr aggressiv ins Ohr.
„Natürlich. Sicher?! Wir?! Und gut sehen wir auch aus?! Ist schon klar. Die erschießen uns gleich. Erzählen Sie meiner Tochter doch nicht so einen Mist. Sehen Sie nicht unsere Strichcodes? Sehen Sie auf meine Stirn! Rot. Ich bin Rot! Und gleich sind wir tot!“
„Wissen Sie es wirklich noch nicht?“, fragt die Frau verblüfft.
„Was?“
„Dass die uns angelogen haben! Die ganzen Wochen über! Komplett gelogen!“
„Gelogen? Wer hat gelogen?“
„Die Menschen!“
„Welche Menschen? Wir sind alles Menschen!“
„Das waren wir vielleicht mal vor ein paar Wochen! Vor dem Virus! Wir sind jetzt „Insekten“, einfache „Insekten“!“
„Ja stimmt, aber warum eigentlich? Ich habe die Einstufung, die vor ein paar Wochen gemacht wurde kaum mitbekommen! Ich war damit beschäftigt, am Leben zu bleiben und meine Tochter zu beschützen!“
„Warum, fragen Sie? Weil wir arm sind. Von uns gibt es die meisten. Wie im Tierreich. Wir sind die „Insekten“! Wir sind nichts Besonderes! Und doch gäbe es die Welt ohne uns eigentlich nicht!“
„Und was sind dann die Reichen?“
„Das sind die einzig wahren Menschen, die auch als solche neu klassifiziert wurden! Politiker, Ärzte, Akademiker, Sportler und Wirtschaftsgrößen! Was waren Sie vor der Pandemie?“
„Ich hatte eine Bar.“
„Sehen Sie?! Sie waren wertlos! Ein Insekt! Insekten sind nur zusammen stark. Deshalb müssen wir zusammenhalten!“
„Zusammenhalten? Wir? Warum eigentlich?“
„Um die Menschen zu besiegen. Weil nur der Mensch sich so etwas ausdenkt!“
„Häh? Was denkt sich der Mensch aus?“
DER wird immer angespannter und packt die Frau am Kragen.
„Die Minerion Maxime zum Beispiel!“
„Was ist das? Ich verstehe kein Wort. Sie sprechen in Rätseln.“
„Die Minerion Maxime besagte bis vor kurzem, dass nur die besten Menschen das Virus überleben dürfen! Ich nehme an, dass sie wenigstens das Virus kennen?!“
„Natürlich kenne ich das Virus! Ich bin doch nicht blöd und war vor dem Ausbruch auch nicht im Koma oder so! Die Menschen sterben an dem Virus, wie bei einer Grippe. Nach 40-50 Tagen bricht es aus und man stirbt an Organversagen!“
Die Frau lacht.
„Von wegen Grippe. Organversagen? Na ja. Könnte man auch so sehen! Das hat man versucht, uns weiszumachen! Und es sind auch nicht 40 Tage, sondern 80!“
„Was soll das heißen?“
„Hören Sie nicht die Explosionen?“
„Sie meinen die Schüsse! Das sind die Infizierten, die erschossen werden, damit sie uns nicht anstecken!“
Die Frau lacht noch lauter.
„Zuerst nahm ich dies auch an! Doch denken Sie einmal nach! Glauben Sie wirklich, dass die Regierung dafür Munition verschwenden würde? Da gab es in der Geschichte der Menschheit schon effektivere Methoden als Kugeln!“
„Was wollen Sie mir damit sagen?“
„Das sind keine Schüsse.“
„Was ist das denn sonst?!“
„Die Menschen explodieren durch das Virus.“
„Sie lügen!“, schreit DER. „Niemals! Das ist doch kein scheiß Science-Fiction-Film hier!“
„Haben Sie nicht die starken Menschen gesehen, ihre erweiterten Pupillen, ihre aufgedunsenen Muskeln, selbst bei den kleinen Kindern? Das war doch eigentlich nicht mehr normal!“
„Öhm. Doch! Ja, habe ich! Stimmt! Das war schon seltsam.“
„Eben. Das sind typische Symptome. Und irgendwann, dann platzt der Körper und die Menschen explodieren. Und über diese neue Art von Tröpfcheninfektion verbreitet sich das Virus.“
„Aber schauen Sie uns an! Wir husten doch. Wir haben Schnupfen.“
„Ist das so verwunderlich? Seit wann sind Sie auf der Flucht und wann haben Sie das letzte Mal etwas Vernünftiges gegessen?“
„Das war vor der Pandemie. Das letzte Mal vor sieben bis acht Wochen. Und bis vor kurzem habe ich Desinfektionsmittel hergestellt in einem Lager in Formeria.“
„Sehen Sie! Kein Wunder, dass Sie geschwächt sind! Das ist eigentlich ein gutes Zeichen. Wenn Sie sich wie Herkules fühlen würden, dann würde ich mir Sorgen machen!“
„Ich glaube Ihnen kein Wort. Vor zwei Wochen haben wir in der anderen Fabrik gearbeitet, bis wir hierhin geschickt wurden. Da hieß es, rot gleich tot und die Grünen durften weiterarbeiten.“
„Das dachten wir auch alle! Aber er hat uns alle angelogen!“
„Wer denn?!“
„Magnus Minerion.“
„Dieser Virologe aus den Medien?“
„Genau der! Der wichtigste Berater der Regierung!“
„Warum sollte er so etwas Dummes tun?“
„Weil er bereits diese Symptome hatte und genug Zeit herausspielen wollte, um ein Gegenmittel zu erfinden! Sie haben uns alle angelogen und gestern ist er während der Pressekonferenz explodiert!“
„Und was ist mit den Fieberkranken?“, fragt DER besorgt.
„Alles Propagandaopfer! Die sind alle um sonst gestorben, fürchte ich!“, entgegnet die Frau sichtlich ergriffen.
„Dieses Schwein! So viele Unschuldige mit einem Husten oder einer Grippe sind also zu Unrecht hingerichtet worden?!“
„Nein. So würde ich das nicht sehen! Minerion war kein Schwein. Er war viel schlimmer! Er war ein Mensch. Nur Menschen machen so etwas Widerliches!“
„Aber wie konnte er das solange verschleiern?!“
„Wie gesagt. Zahlen wurden gefälscht. Die Inkubationszeit beträgt angeblich mindestens 80-100 Tage und Minerion war einer der ersten Infizierten! Er wollte nicht sterben, hat sich das alles ausgedacht und Berichte gefälscht. Sein ebenfalls infiziertes Team hat ihm natürlich dabei geholfen. Aber nur „Insekten“ wurden und werden kontrolliert. Keiner ist davon ausgegangen, dass Reiche sich anstecken. Die wahren Menschen wohnen doch eh isoliert und kommen doch schon seit Jahren nicht mehr mit uns in Kontakt. Wir sind doch alles nur Nachkommen von Flüchtlingen aus den Jahren 2009-2021 oder haben einen anderen Migrationshintergrund. Wir sind nichts wert!“
DER wird nachdenklich.
„Das heißt also, dass 0,7 in Wahrheit ein guter Wert ist?“
„Richtig. Alle, die über 1,0 lagen und überdurchschnittlich viel leisten konnten, konnten dies nur, weil sie hochgradig infiziert waren. Und ihre Werte steigern sich, bis sie…“
Ein weiterer Knall ist zu hören. Etwas Putz löst sich von der bebenden Decke und rieselt auf die Haare der Frau, die sich grau färben.
„Genau! Das…“, sagt sie und grinst zynisch.
„Woher wissen Sie das denn alles?“
„Wir haben hier drin Radio, seit gestern zumindest! Ein Wächter, der wirklich nicht sehr gut aussah, hatte Mitleid mit mir und hat das Radio eingeschaltet.“ Die Frau lächelt sanft. „So etwas durfte ich seit Wochen nicht mehr hören! Das war wirklich toll!“
„Stimmt. Seit der Pandemie sind soziale Medien Luxus! Deshalb wussten die anderen Menschen da draußen auch nicht Bescheid und wurden in ihr Verderben geschickt.“, ergänzt DER.
„Vorher hatte ich auch keine Ahnung. Gestern dachte ich auch noch, dass ich heute schon längst tot wäre. Die Erkenntnisse sind vollkommen neu oder wurden vor uns geheim gehalten!“
„Und was produzieren wir hier? Masken und Schutzkleidung oder war das auch eine große Lüge?“
„Nein. Das haben Sie schon richtig angenommen! Aber zu dritt wird das schwierig. Es scheint so, als ob fast jeder hier infiziert ist, selbst die Wächter!“
„Wieso?“
„Weil sie keinen mehr hier rein schicken. Als ich ankam, war ich alleine! Und den Wächter von gestern habe ich schon lange nicht mehr gesehen!“
„Warum arbeiten wir dann nicht umso härter, wenn wir eh nur so wenige sind. Dann muss die Taktzahl halt erhöht werden!?!“
„Hören Sie mir nicht zu?! Weil die Wächter wegsterben wie die Fliegen. Keiner kontrolliert uns und weil wir für uns drei genug Kleidung haben, sehe ich es auch nicht ein, zu arbeiten! Die Kleidung liegt übrigens im Nebenraum bei den Maschinen!“
DER wird skeptisch.
„Und warum gehen wir da nicht rein?“
„Schauen Sie doch selber nach! Gucken Sie durch die Luke! Die Tür ist nicht verschlossen, aber ich würde den Nebenraum nicht betreten, wenn ich Sie wäre!“
Die Frau zeigt DER das Guckloch, durch das man in die Nebenhalle schauen kann. Dort befinden sich Dutzende Maschinen, die fleißig Masken produzieren.
„Und warum gehen wir da jetzt nicht einfach rein und schützen uns?“
„Schauen Sie genauer hin!“
Die Frau zeigt mit ihrem Kopf auf den leblosen Körper eines Wächters, der samt seiner schwarzen Schutzkleidung plus Helm auf dem Boden in einer Blutlache liegt.
„Was ist passiert?“
„Boom!“, sagt die Frau und macht die dementsprechende Handbewegung dazu.
„Was ist Ihr Plan?“
„Wir drei warten ein paar Tage ab bis das Virus nicht mehr in der Luft liegt und dann schnappen wir uns die Kleidung und hauen ab!“
DER nickt irritiert. DIE kommt zurück und umklammert das Bein ihres Vaters, an das sie sich kuschelt. Ihr Mund ist nass.
„Ich habe auch Wachbecken gefunden. Es gibt hier Wasser! Da hinten, Papa. Das Wasser ist voll lecker! Endlich habe ich keinen Durst mehr!“, sagt DIE.
„Hallo, mein kleiner Käfer!“, sagt die Frau und fährt durch DIEs Haare. „Ich glaube, dass wir drei großes Glück hatten, dass die Wahrheit noch rechtzeitig aus Herrn Minerion geplatzt ist“, sagt die Frau und schmunzelt. „Wir kommen hier raus!“
„Wirklich?“, fragt DER die Frau.
„Aber klar, Papa! Das hast du mir doch versprochen!“, ruft DIE und lacht.
Tag 19
Ein schwarzer Lastwagen der Regierung hält mitten auf einem Feldweg.
„Warum hältst du? Was soll das?“, fragt der Kommandeur den Fahrer.
„Da ist was! Jetzt sehe ich es. Das sind drei Wächter aus Felicia, nehme ich an! Sie sehen sehr geschwächt aus! Infiziert können sie demnach nicht sein! Die winken uns zu! Aber halt! Das eine scheint entweder ein Liliputaner oder ein Kind zu sein!“
„Zeig mal her! Tatsächlich! Ich habe seit Tagen keine Überlenden mehr gesehen! Die sammeln wir ein! Aber mit Vorsicht!“
***
Der Kommandeur zieht sich Schutzkleidung und einen Helm an. Dann steigt er aus dem Wagen und winkt die drei Personen zu sich. DER, DIE und die alte Dame gehen mit letzter Kraft zu dem Wagen und ziehen ihre Helme aus. Sie wirken völlig erschöpft und ausgezehrt. Sie gehen auf den Kommandeur zu.
„Halt! Nicht so schnell! Bleibt bitte noch auf Abstand. Ein kleiner letzter Test noch! Hier!“
Er schmeißt einen Scanner vor DERs Füße und grinst.
Nach langer Zeit lachen DER und DIE und liegen sich jubelnd in den Armen. Dann hebt DER den Scanner auf.
ENDE