HurriMcDurr
Well-Known Member
Und auf einmal: Monster!
Als Kind las ich immer gerne Spuk- und Schreckensgeschichten. Als ich ein bißchen älter wurde, bereitete mir besonders der Autor H.P. Lovecraft ein besonderes Vergnügen. Seine klassischen Spukszenerien mit der dichten, gefährlichen Atmosphäre, vergiftet von der Angst oder dem Hass der Leute, die wussten, dass in ihrer Heimat etwas grauenvolles, nicht-irdisches regierte. Und dann die Beschreibungen des abgrundtief Hässlichen. Vor mir öffnete sich eine Welt des Glibbers, des Ekels, der Tentakeln, voller Schaum, Säure, Gestank. Während mir in meiner näheren Umgebung nur wenig alltäglicher Grusel begegnete, versuchte ich meiner Phantasie etwas mehr satanisches zu entlocken. Da bekam der alte, schwere Massiveichenschrank meiner Oma beispielsweise ein ganz neue Facette: Schwere, dunkle Pelze wurden zu großen, gefährlichen Halbwesen. Der Plastiküberzug der Kostüme zur reptilienartigen Oberfläche fremder Weltenbewohner. Der Schmuck zeugte von alten, verwunschenen Artefakten großer Götter und der Geruch der Mottenkugeln deutete die Anwesenheit von naheliegenden Portalen zu einer tieferen, stinkenden Welt an. Trotz meiner Nähe zu Monstern, Unholden, Göttern und Dämonen war ich mindestens genauso erstaunt wie der Rest meiner Kleinstadt, als Big Boy bei uns einzog.
Der Morgen schien noch relativ ereignislos zu verlaufen. Ich war damals in der 3. Klasse der Grundschule und überzeugter Störenfried. Beim Basteln hatte ich nicht nur das Blatt, sondern auch mich, den Tisch und meinen Tischnachbarn angemalt. Grade als ich zum Waschbecken lief, um meinen Becher neu aufzufüllen, um eine wirklich große Wasserfarbenschlacht anzuzetteln, vibrierte der Boden. Alle wirkten erstarrt. Dann eine weitere Vibration, etwas heftiger als die vorige. Stimmgewirr machte sich breit, Lärm auf den Fluren kündete eine Panik an, die ersten Mitschüler begannen zu weinen. Die Vibration wuchs sich zu einem rhythmischen Beben aus. Hektische Rufe machten uns Kindern klar, dass auch die Erwachsenen diese Situation nicht überschauen konnten. Sie führten uns raus auf den Schulfhof. Immer zu zweit standen die Schüler Arm in Arm weinend, schreiend, schockiert in Gruppen zusammen. Bis der Schatten sichtbar wurde. Der Himmel verdunkelte sich und die Stimmen verstummten. Selbst das leiseste Schluchzen erstickte in den abertausenden Kehlen der Stadtbewohner.
Wie in einem Daligemälde schlangen sich dünne (im Gegensatz zum Restkörper, tatsächlich hatten sie die Größe von massiven Betonsäulen) Stäbe in die Luft, immer dicker werdend, antiproportional und unlogisch verschlungen. Keinem Gesetz der Physik gehorchend befand sich am Ende der Stangen, die sich als Beine entpuppten ein massenhafter Körper. Der Körper überragte die Hausdächer um ein vielfaches. Ich erinnere mich, dass ich mich umdrehte, um unseren Wasserturm zu erspähen. Obwohl er auf einem Hügel lag, erreichte er nicht einmal die 'Knie' oder sagen wir vorsichtshalber die Hälfte der Beine. Mit einer menschlichen Anatamoie hatte der riesenhafte Körper über uns entsprechend wenig zu tun. Auch die Oberflächenstruktur oder das Vorhanden- oder Abwesensein von Sinnesorganen war aus der Entfernung nicht auszumachen. Diese Dinge ließen sich erst einige Wochen später mit den Aufnahmen von Militärhubschraubern klären.
Die Militärhubschrauber waren mit die ersten Maßnahmen, die unternommen wurden. Zu allererst hörte ich die Fliegersirenen. Ein mir nur aus Erzählungen und Dokumentationen bekanntes Geräusch. Wir Schüler wurden von Polizeibeamten nach Hause eskortiert. Einige Häuser jedoch, die in der Nähe der Füße standen, wurden evakuiert. Nach einigen Stunden rückten zusätzlich zu unserer heimischen Polizisten und Feuerwehrmännern dann das Militär an. Sie errichteten mit Zäunen umschlossene Sperrzonen um die Füße, stellten Flutscheinwerfer auf und patroullierten in der gesamten Stadt. Einige Monate gingen so ins Land. Immer neue Expertentrupps wurden in die Sperrzonen gelassen. Weder tags noch nachts brach das Geräusch kreisender Hubschrauber ab. Die ganze Stadt wurde umzäunt, um die Fernseh- und Reporterteams abzuhalten. Wir sahen Berichte im Fernseh von Camps, die sich um unsere Stadt gebildet hatten: Reporter und Schaulustige bedienten sich an den Verkaufständen der mobilen Imbissbuden, verwirrte Leute hielten Schilder hoch und fielen auf die Knie um zu beten, andere wiederrum verkauften T-Shirts. Nach ca. einem dreiviertel Jahr wurden die großflächigen Camps von kleineren abgelöst, die schlussendlich vom Militär verjagt werden konnten. In die Stadt herrschte weiterhin Einreiseverbot. Genehmigungen und Passierscheine für Verwandte waren nur schwer zu erhalten und so dachte meine Familie darüber nach, die Stadt zu verlassen, doch wir blieben.
Nach einigen Jahren hatte sich die Stadt, so wie man sie einstmals kannte, vollkommen verändert: Viele Familien waren abgewandert, wodurch einzelne Familien ganze Mehrfamilienhäuser bewohnten. Auch die Militär- und Forscherteams waren sesshaft geworden. So hatten sich nicht nur mehrere Amüsierviertel für erwachsene Männer, sondern auch eine stattliche Universität gebildet. Ich selbst besuchte sie, um meinen Abschluss mit Auszeichnung zu bestehen.
Auch die Vegetation veränderte sich: die Stellen an denen das Monster seinen Schatten warf, waren auf einmal unberührt von der Sonne. Nur wenige Pflanzen gediehen. Einige Versuche mit fleischfressenden Pflanzen hatten seltsame Mutationen hervorgerufen. Andererseits fiel natürlich auch kein Regen an diese Stellen und so bauten sich einige kleine Hütten ohne Dach auf das Gelände. Solche Spielereien verloren aber häufig nach wenigen Monaten ihren Reiz. So hatte der Bürgermeister erst den Plan gehegt, einen Freizeitpark zu errichten, war aber von findigeren Geschäftsleuten ausgebotet worden, die bereits aus dem Setting der ehemaligen Sekten- und Hippiekommunen außerhalb der Stadtmauern ein zweites 'Burning-Man' geformt hatten. Tatsächlich erscheinen mir die abwechselnden Stimmungen und Ideen immernoch absurd liebenswürdig.
Heute gehöre ich zu dem wichtigsten Forschungsteam um Big Boy. Deshalb war ich auch einer der Ersten, die die Nachrichten vom Seismographenteam bekamen. Big Boy reiste wieder ab. Eigentlich merkwürdig, dass die Leute ähnlich erschrocken reagierten, wie am allerersten Tag. Dabei hatte ein Großteil seine Anreise begleitet und sie alle wussten, dass wir nie hinter sein Geheimnis gekommen waren. Warum waren sie also alle so überzeugt gewesen, dass er bleiben würde? Als er dann im Nichts verschwand (auch die Herkunft und sein Ziel waren trotz seiner erschreckenden Größe niemals ergründet worden) waren viele Anwohner fast schon beleidigt. Immerhin war er jahrelang ihr Wahrzeichen gewesen und sie hatten sich doch so brav an ihn angepasst. Niemals hatten sie geflucht 'warum wir?', sondern waren immer aufgeschlossen und glücklich über ihren neuen Nachbarn gewesen.
Ein Jahr nachdem Big Boy verschwunden ist, sitze ich nun auf meiner Dachterasse und höre im Radio der Diskussion zu, ob die alten Big Boy Feiertage (sein Erscheinen, die Woche in der er einmal laut gehustet hatte – soweit man das ohne Wissen über vorhandene Lungen feststellen konnte – und der Tag andem er eine Mondfinsternis erzeugt hatte) noch gefeiert werden sollten oder nicht. Ganz normaler Alltag in einer Stadt, die für eine Sekunde der Rastplatz eines Monsters war.