Story XXX: Der Semmelweis-Reflex

HurriMcDurr

Well-Known Member
Der Semmelweis-Reflex​

Sehr geehrter Dr. Brendler,

in Ihrem Artikel vom 28. Juli äußerten Sie sich in höchst unschmeichelhaften Worten über meine Psychose-Theorie. Bevor ich Ihnen ihre Richtigkeit beweise, möchte ich Ihnen die Geschichte von Ignaz Semmelweis erzählen, die Ihnen meine Sicht der Dinge verdeutlichen wird.

Ignaz Semmelweis studierte Philosophie in Pest, bevor er 1837 nach Wien kam und ein Studium der Rechtswissenschaften an der dortigen Universität begann, welches er jedoch ein Jahr später abbrach. Stattdessen fing er ein Medizin-Studium an, das er sechs Jahre später abschloss und Magister der Geburtshilfe wurde. Im Jahr darauf hatte er einen Doktortitel der Chirurgie; ein weiteres Jahr später war er ein Assistenzarzt der Geburtshilflichen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses in Wien.
Dort fiel ihm die ungewöhnlich hohe Todesrate bei Patientinnen auf, die an Kindbettfieber starben. In seiner Abteilung, in der Ärzte und Medizinstudenten arbeiteten, fielen deutlich mehr Frauen dieser Krankheit zum Opfer als es in der Hebammen-Abteilung der Fall war. Als sein befreundeter Gerichtsmediziner Jakob Kolletschka eines Tages beim Sezieren einer Leiche mit einem Skalpell verletzt wurde und kurz darauf an Blutvergiftung starb, erkannte Ignaz den Zusammenhang: Es waren die Ärzte und die Medizinstudenten, die ihre Patientinnen mit der tödlichen Krankheit ansteckten, denn oft gingen sie vom Seziersaal direkt zu den Frauen und untersuchten sie, ohne sich vorher die Hände gewaschen zu haben. Die Sterblichkeitsrate in der Abteilung der Hebammen war wesentlich geringer, weil sie mit keinen Leichen in Berührung kamen.
Da die Symptome einer Blutvergiftung denen des Kindbettfiebers glichen und die Krankheit einen ähnlichen Verlauf zeigte, gelangte er zu der Überzeugung, dass winzige Leichenteile auf die Hände der Ärzte und von dort in das Blut der Patientinnen gelangten und sie ansteckten.

Als er dem Ärztestab und den Studenten von seinem Verdacht erzählte, erntete er Spott. Insbesondere die Mediziner, die in den hohen Kreisen verkehrten oder adeliger Abstammung waren, fühlten sich durch seine Äußerungen zutiefst beleidigt - sagte er doch, dass sie mit ihrer Unreinheit den Tod unzähliger Frauen verschuldet hatten. Dennoch setzte er sich mit viel Hartnäckigkeit durch und wies seine Studenten an, die Hände vor jeder Untersuchung mit einer Chlorlösung zu desinfizieren. So gelang es ihm, die Sterblichkeitsrate von 12,3 auf 1,3 Prozent zu senken.
Zu seiner Verwunderung waren die meisten Ärzte nicht begeistert. Er, ein niemand aus dem ungarischen Teil Österreichs, ohne Verbindungen zur High Society, hatte sie nicht nur auf einen Fehler hingewiesen, sondern damit auch noch recht behalten. Die meisten von ihnen fühlten sich zutiefst gedemütigt von diesem Bauerntrampel und weigerten sich, seine Theorie - so offensichtlich ihr Wahrheitsgehalt inzwischen auch war - anzuerkennen. Manche konnten die Vorstellung, den Tod ihrer Patientinnen selbst verursacht zu haben, nicht ertragen und begingen Selbstmord.
Ignaz Semmelweis schied 1849 aus dem Dienst, nachdem die Verlängerung seiner Tätigkeit als Assistenzarzt abgelehnt wurde. Die Gesellschaft der Ärzte beschloss die Bildung einer Kommission zur Überprüfung seiner Thesen, doch sein ehemaliger Vorgesetzter Dr. Klein nutzte seine hohe Stellung und erzielte die Ablehnung einer solchen Untersuchung.
Als Ignaz 1850 zum Privatdozenten für theoretische Geburtshilfe mit Übungen am Phantom ernannt wurde, konnte er diesen Hohn nicht mehr ertragen. Er verließ Wien und kehrte zurück nach Pest, wo er 1855 eine Professur für Geburtshilfe erhielt.

Ignaz verfasste ein Buch über die wahren Ursachen von Kindbettfieber, doch der Erfolg blieb aus - die überwiegende Mehrheit der Ärzte hing immer noch an der alten Theorie, dass die Krankheit durch schlechte Luft oder Menstruationsprobleme verursacht wurde. Hygiene galt weiterhin als Zeitverschwendung. Er rief seine Kollegen in offenen Briefen dazu auf, ihre veralteten Ansichten aufzugeben, doch nur wenige Mediziner schlossen sich ihm an. Mit jeder Niederlage wuchs seine Verbitterung. In einem seiner Briefe drohte er den Ärzten, sie öffentlich als Mörder anzuprangern, wenn sie seine Hygienevorschriften weiterhin missachteten. Im Juli 1865 wurde er - ohne Diagnose - von drei Kollegen für geisteskrank erklärt und in eine psychiatrische Anstalt in der Nähe von Wien eingewiesen.
Über seinen Tod gibt es verschiedene Spekulationen. Manche sagen, er hätte sich einen Kampf mit dem Anstaltspersonal geliefert, sich dabei verletzt und infolgedessen an einer Blutvergiftung gestorben. Andere sagen, er hätte sich selbst absichtlich mit einem verunreinigten Messer verletzt und so mit seinem Tod durch Blutvergiftung einen weiteren Beweis für seine Theorie geliefert. Fakt ist, dass bei der Exhumierung seines Körpers zahlreiche Frakturen an den Armen und am Brustkorb festgestellt wurden.

Der Schriftsteller Robert Anton Wilson führte später den Begriff "Semmelweis-Reflex" ein, um solche Fälle von Ablehnung neuer wissenschaftlicher Thesen aufgrund von bestehenden Paradigmen, konservativer Einstellung oder purer Arroganz zu beschreiben.

Sehen Sie, worauf ich hinaus will, Dr. Brendler? Ich bin mir nicht sicher, aus welchem Grund Sie meine Theorie zerrissen haben, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie mich nicht verstanden haben. Deshalb versuche ich, es Ihnen zu erklären.
Wie Ihnen bekannt sein dürfte, wurden psychische Störungen früher nicht als Krankheiten anerkannt - werden es in großen Teilen der Bevölkerung immer noch nicht. Neben organischen und genetisch bedingten Psychosen gibt es zahlreiche Störungen, die durch die Umwelt entstehen. So wie die Mediziner der vergangenen Jahrhunderte irgendwann einsehen mussten, dass Krankheiten durch Keime von einem auf den anderen Menschen übertragen werden konnten, so müssen die heutigen Ärzte endlich akzeptieren, dass auch psychische Krankheiten ansteckend sein können - nicht durch Bakterien, sondern durch Worte, Verhalten und Handlungen.
Ein Beispiel sind die vielen Fälle von induzierter wahnhafter Störung, die auch als Folie à deux bezeichnet wird (wobei die Dunkelziffer enorm sein dürfte). Dabei übernehmen Personen (meist Familienangehörige oder Ehepartner) die Wahnvorstellungen, teilweise ein gesamtes Wahnsystem eines Geisteskranken und teilen diese mit ihm.
Oder denken Sie an das Dritte Reich, als Hitler mit seinen Wahnideen Millionen verzweifelter Menschen ansteckte. Denken Sie an Ron Hubbard mit seiner Scientology und an andere Sekten. Am anfälligsten sind dafür Menschen, die psychisch labil oder aufgrund äußerer Umstände (finanzielle und/oder berufliche Probleme) verzweifelt sind. Menschen mit einem geschwächten Immunsystem.

Wie viel Leid hätte den Menschen erspart werden können, wenn die Krankheitsträger früh genug isoliert und behandelt worden wären? Stattdessen ließ man sie ihre Krankheiten immer weiter verbreiten und die Menschen in den Wahnsinn treiben. Wie Sie wissen, sind viele Geisteskranke gemeingefährlich, erst recht wenn sie als Gruppe agieren und ihr Verhalten dabei für normal halten. Besonders im heutigen Internet-Zeitalter ist das Ansteckungsrisiko enorm, denn jeder mit einem Internetzugang kann seine verrückten Ideen verbreiten.
Wenn wir die Ausbreitung der psychischen Krankheiten eindämmen wollen, müssen wir die Infizierten ausspähen und sie in Quarantäne stecken. Wir müssen die Keime (das können Texte, Filme oder Lieder sein) vernichten, die sie auf die Menschheit losgelassen haben.
Das Seltsame ist, dass es auch unter den Verbreitern von Psychosen die Dauerausscheider gibt. Die Typhus-Marys. Viele von den Astrologen und anderen Scharlatanen glauben selbst nicht an den Humbug, den sie vertreten, und dennoch reden sie es den anderen ein - meistens weil es ihnen eine Menge Geld einbringt.

Hoffentlich können Sie meinen Standpunkt jetzt besser verstehen und sehen ein, dass ich mit meiner Theorie recht habe.

Hochachtungsvoll
Peter Wepper

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Sehr geehrter Herr Wepper,

die Geschichte von Ignaz Semmelweis ist mir selbstverständlich bekannt und Folie à deux ein Begriff. Dennoch enthält Ihre Theorie zahlreiche Denkfehler und Argumentationsschwächen.
Zunächst einmal sind Psychosen nicht mit Kindbettfieber vergleichbar und ihre Ursachen von Fall zu Fall unterschiedlich.
Was mich jedoch mehr stört, sind Ihre Forderungen, wie mit 'infizierten' Menschen umgegangen werden soll. Selbst wenn es technisch möglich wäre, sämtliche Bürger so gründlich zu überwachen, dass wir ihren psychischen Zustand beurteilen und im Fall einer Erkrankung diagnostizieren könnten; selbst wenn es in den Kliniken genug Platz und in der Staatskasse genug Mittel gäbe, um sie von den Gesunden zu isolieren, wäre es ein grober Eingriff in die Privatsphäre der Menschen, um nicht zu sagen ein Verbrechen gegen die Würde des Menschen. Die Bevölkerung würde völlig zurecht gegen eine derart strenge Zensur und gegen die Errichtung eines Überwachungsstaates protestieren.
Falls es eines Tages doch noch dazu kommen sollte, würde ich dafür plädieren, Ihre Theorie als Erstes zu verbannen, um die Menschen nicht damit krank zu machen. Sie scheinen den Bezug zur Realität vollkommen verloren zu haben.

Vom Boden der Tatsachen
Dr. Heinrich Brendler
 

Clive77

Serial Watcher
Ich weiß nicht. Der erste Teil ist in etwa eine umgeschriebene Form des Wikipedia-Artikels (oder einer anderen Quelle) zu Ignaz Semmelweis. Es wäre an der Stelle vielleicht auch angebracht gewesen, kurz die Stadt "Pest" zu erklären, die ein Teil des heutigen "Budapest" ist - ich hab' da zuerst an die Seuche gedacht ( :ugly: ).

Die Idee mit den zwei Briefen war mal was neues. Ich glaube aber, die meisten Leser (und Leute mit gesundem Menschenverstand) werden sich auf der Seite von Dr. Brendler wiederfinden. Vielleicht hätte man besser die Folie à deux oder den Semmelweis-Reflex als Grundlage einer Geschichte verwendet. Einen echten Spannungsbogen sehe ich jedenfalls in der Geschichte nicht, was schade ist. Denn geschrieben wurden die beiden Briefe sehr gut.
 

Mrs. Rotwang

New Member
Ich seh das wie Clive77: gut geschriebene Briefe. Leider fügt sich das ganze in kein Gesamtkonzept einer Geschichte ein. Briefromane oder der Aufbau in dieser Art des Dialogs sollten trotzdem noch einen roten Faden und einen Spannungsbogen in ihrer Gesamtheit besitzen.
Ähnlich wie bei der Geschichte 'Das Gedankenexperiment' habe ich aber mal wieder was gelernt. Das ist doch schon ein erfolgreicher Aspekt dieser Runde :biggrin:
 

Deathrider

The Dude
Die Anrede, welche Wepper benutzt wirkt ziemlich gestelzt, dafür passt der Rest aber sprachlich schonmal sehr gut, wobei ich mir erst gegen Ende von Weppers Schrieb bewusst wurde, dass es sich hier nicht um einen Briefwechsel aus den 20ern handelt (was die zu Beginn etwas gestelzte Sprache erklären würde), aber bis dahin macht es auch keinen Unterschied.

Die Semmelweis Geschichte war mir so nicht bekannt, aber das was da nach ihm benannt wurde kenne ich nur allzu gut. Interessante Sache das alles. Liest sich sehr authentisch. Bloß habe ich ein bisschen das Gefühl, dass hier 75% des Platzes auf einen Nebenschauplatz angewendet wird und der Kern der Sache (nämlich den der Folie à deux) deutlich zu kurz kommt. Andererseits hätte die Sache auch schnell in Langeweile ausarten können, wenn man den Schlussteil zu sehr gestreckt hätte.

Lirumlarum... Ihr merkt: Ich bin zwiegespalten... aber trotzdem soweit angetan, auch wenn die Story nicht unbedingt mein bisheriger Favorit ist.
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Bei dieser Runde sind alle Geschichten ziemlich kurz und lesen sich schnell, so auch hier. Das muss der kürzeste Briefwechsel der Literaturgeschichte sein. :squint:
Die Semmelweis-Geschichte kannte ich schon, aber das ist nicht so schlimm. Was mir hier ein wenig gefehlt hat, war eine Handlung. Schreibtechnisch in Ordnung.
 

Sittich

Well-Known Member
Mir war der Semmelweis-Reflex bisher noch keine Begriff, daher fand ich den Teil der Geschichte sehr interessant. Das war auch alles sehr schön formuliert und verständlich. Außerdem steht dieser lange, sehr sachliche Teil auch in einem interessanten Kontrast zu den doch sehr extremen Ansichten, die gegen Ende des ersten Briefes durchscheinen.

Ich fand's gut :smile: Ob's für einen Punkt reicht, weiß ich nicht genau, da im Zweifel die ein oder andere Geschichte sicherlich kreativer waren. Aber vom Schreibstil fand ich diese am angenehmsten.
 

MamoChan

Well-Known Member
Obwohl ich mit der Geschichte von Ignaz Semmelweis ziemlich vertraut bin, war mir der Semmelweis-Reflex dennoch neu. Ich fand es sehr interessant, aber irgendwie dauerte es mir zu lange bis die Geschichte endlich auf den Punkt kam. Die Biographie von Semmelweis war mir persönlich auch zu lang, vielleicht aber auch, weil ich das Meiste bereits kannte. Aber auch so denke ich, hätte man das Wirken von Semmelweis auch in einem kurzen Absatz beschreiben können.
DIe Idee der zwei Briefe finde ich übrigens sehr gut, nur die Umsetzung hat mir halt nocht so sehr zugesagt. :smile:
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Diese Story ist von mir. Ich war damit selbst nicht zufrieden, von daher wundert es mich nicht, dass ich diesmal so schlecht abgeschnitten habe. Aber ein paar Rechtfertigungen will ich trotzdem schreiben:biggrin:
Clive77 schrieb:
Ich weiß nicht. Der erste Teil ist in etwa eine umgeschriebene Form des Wikipedia-Artikels (oder einer anderen Quelle) zu Ignaz Semmelweis.
Naja, ich denke, so ziemlich jede Biografie (oder biografische Geschichte) über Semmelweis wird dieselben Ereignisse seines Lebens in derselben Reihenfolge bringen:wink:

Es wäre an der Stelle vielleicht auch angebracht gewesen, kurz die Stadt "Pest" zu erklären, die ein Teil des heutigen "Budapest" ist - ich hab' da zuerst an die Seuche gedacht ( :ugly: ).

Ich dachte, es wäre jedem klar, dass ich nicht die Seuche meinte, wenn ich schrieb "studierte Philosophie in Pest". Zumal der Autor des Briefes das an einen Professor schreibt, der über Pest/Budapest sicher bescheid weiß. Deshalb muss er dazu keinen erklärenden Sätze schreiben.

Briefromane oder der Aufbau in dieser Art des Dialogs sollten trotzdem
noch einen roten Faden und einen Spannungsbogen in ihrer Gesamtheit
besitzen.
Einen Spannungsbogen hatte die Geschichte nicht, aber einen roten Faden schon. Der Verfasser des ersten Briefes erzählt über Semmelweis, der damals die Ansteckungsgefahr in der Pathologie erkannt hat, weil er meint, eine Ansteckungsgefahr der psychischen Erkrankungen erkannt zu haben. Und so wie niemand auf Semmelweis hören wollte, hört jetzt niemand auf ihn. Ich will nicht sagen, dass er im Recht ist, aber er fühlt sich im Recht.

Hat wieder Spaß gemacht, Danke fürs Lesen und Kommentieren :top:
 

Manny

Professioneller Zeitungsbügler
Ich weiß, ich bin ein bisschen spät, aber bisher fehlte mir einfach die Lust, etwas zu den einzelnen Geschichten zu schreiben......

Die Geschichte ließ sich flüssig lesen. Gröbere bzw. überhaupt Rechtschreibfehler waren mir jetzt nicht aufgefallen.
Allerdings war mir das einfach zu wenig Handlung und - wie von anderen ja schon geschrieben - irgendwie zu sehr Wikipedia Artikel.
Wobei mich letzteres in dem Umfang weniger gestört hätte, wenn die Geschichte insgesamt länger gewesen und mehr Handlung gehabt hätte.
 
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