Story XXXIX - Die Sitzung

Clive77

Serial Watcher
Tom griff nach seiner Tasse und trank einen Schluck Tee. Er legte die Akte seines nächsten Patienten zur Seite und lehnte sich entspannt zurück. Der Versuchung widerstehend, seine Füße auf den Schreibtisch abzulegen, betrachtete er gedankenverloren die helle Decke seiner Praxis. Er nutzte die Pause zwischen zwei Sitzungen gerne auf diese Weise. Seine Gedanken schweiften zum Abend, der nun nur noch – er blickte kurz auf seine Armbanduhr – knapp drei Stunden oder auch drei Sitzungen entfernt war. Ob er sich auf dem Heimweg Nudeln vom Asiaten mitbringen sollte? Oder doch lieber etwas zurückhalten und mit einem kleinen Salat vorlieb nehmen? Letzteres klänge sicher besser, wenn sich seine Frau nach ihrer Rückkehr nach seiner Ernährung erkundigte. Und das würde sie. Aber was sie nicht erfuhr, konnte …
Tom kam nicht dazu, den Gedanken zu vollenden, da es an der Tür klopfte. Ein weiterer Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass sein Patient exakt zum vereinbarten Termin erschienen war. Rasch stand er auf, glättete sein weißes Hemd und ging am Schreibtisch vorbei auf die Tür zu, um seinen Patienten willkommen zu heißen. Ein Gefühl der Anspannung und auch der Vorfreude stieg ihn im auf, da dies sein erster Termin mit dem Patienten sein würde. Schon bald würde dieser Mensch ihm sein Innerstes offenbaren, die Hoffnung in sich tragend, von seinen seelischen Problemen befreit zu werden. Und Tom konnte dies tun. Mit einem Lächeln öffnete er die Tür.

„Guten Tag, Herr Mertens! Bitte, kommen Sie rein!“

Während er später am Tag alleine auf einem Hocker an seiner Küchentheke saß und sich die gebratenen Nudeln genehmigte, wanderten seine Gedanken immer wieder zu Thorsten Mertens zurück. Der Anblick des Mannes, der ihm gegenübergestanden hatte, hatte ihn für einen kurzen, unprofessionellen Moment aus der Fassung gebracht. Seit drei Jahren betrieb er seine Praxis für Psychotherapie inzwischen. Nie hatte er eine derartige Verzweiflung in den Augen eines Patienten gesehen. Augen, die ihn nicht losgelassen hatten, während er ihn nach dem kurzen Augenblick des Stockens zu den zwei in der Mitte des Raumes positionierten Sesseln geführt hatte. Nachdem sie sich gesetzt hatten, hatte Tom wie gewöhnlich damit begonnen, etwas von sich, seiner Ausbildung und seinem üblichen Behandlungsplan zu erzählen. Normalerweise war diese Phase von Nervosität und Unsicherheit seitens des Patienten geprägt, doch Mertens saß nur unbeweglich in seinem Sessel und schien konzentriert zuzuhören. Er trug einen anthrazitfarbenen Anzug, der offensichtlich schon bessere Tage gesehen hatte. Tom wusste durch die üblichen Modalitäten, dass Mertens seit einem halben Jahr krankgeschrieben war, nachdem er zuvor immer öfter Auffälligkeiten am Arbeitsplatz gezeigt hatte. Die Diagnose, die ihn nun in Toms Hände geführt hatte, lautete Paranoide Persönlichkeitsstörung. Doch Mertens hatte eine eigene Erklärung für sein Verhalten. Tom ermutigte seine Patienten in der Regel dazu, ein bisschen von sich zu erzählen, ohne dabei direkt auf ihr Krankheitsbild zu sprechen zu kommen. Die meisten der Patienten schwenkten nach ein paar Sätzen dennoch in diese Richtung, da es ihr Denken beherrschte. Mertens bildete diesbezüglich keine Ausnahme.

„Ich habe immer Angst!“, waren seine Worte gewesen. In Verbindung mit der zittrigen Stimme, dem ausgezehrten Gesicht und den Augen, die Tom nicht loslassen wollten, ließen ihm diese Worte einen kurzen Schauer über den Rücken laufen. Auch jetzt, als Tom in der heimischen Küche stand und seinen Teller und ein Bierglas abspülte. Wieder hatte er einen kurzen Moment gestockt, bevor er sich, wie er sich jetzt eingestand, zu einer reichlich trivialen Frage hatte hinreißen lassen.
„Wovor?“
„Ich weiß es nicht“, war Mertens Antwort gewesen, und etwa auf diesem Stand hatten sie ihre erste Sitzung 40 Minuten später auch beendet. Tom war sich nicht sicher, was er von diesem Fall halten sollte. Mertens hatte relativ vernünftig gewirkt, während er schilderte, wie ihn von einen Moment auf den anderen ein enormes Angstgefühl befallen hatte, das ihn anscheinend bis zum heutigen Tag nicht losgelassen hatte. Er konnte keine Ursache dafür finden, auch wenn er, wie er ausführlich schilderte, verzweifelt danach gesucht hatte. Er hatte einfach unentwegt Angst.
Tom hatte aufmerksam zugehört und einen Einblick gewonnen, wie Mertens unter der Situation litt. Am Ende der Sitzung, die Mertens offenbar stark mitgenommen hatte, bedankte sich Tom für Mertens offene Worte und zeigte sich zuversichtlich, dass sie gemeinsam dieses Problem in den Griff bekommen würden. Er erinnerte sich, wie sich bei diesen Wort eine starke Portion Skepsis in die tiefen Augen Mertens geschlichen hatte.
Tom registrierte, dass er sich nun seit Minuten die Hände trocknete. „Genug jetzt“, befahl er sich selber. Er ließ das Handtuch auf der Theke, die die offene Küche vom Flur trennte, liegen, und begab sich ins obere Stockwerk des geräumigen Hauses, wo er sich wenig später ins Bett legte. Doch auch hier gelang es ihm nicht gleich, sich gedanklich von der Arbeit und insbesondere von Mertens zu lösen. Erst als er beschloss, sich am morgigen Samstag zumindest kurz hinzusetzen, um sich ein paar Notizen zu machen, schlief er langsam ein.

Das Klingeln des Telefons weckte ihn. Mühsam kam Tom zu sich. Grunzend rutschte er über das Bett auf die Seite seiner Frau, um nach dem Telefon zu greifen. Ob sie spontan einen früheren Flug genommen hatte und abgeholt werden wollte?
„Ja?“, sprach er in den Hörer.
Schweigen auf der anderen Seite. Doch er hörte ein leises, hektisches Atmen.
„Schatz? Bist du das?“, fragte er, obwohl er wusste, dass sie es nicht wahr. Tatsächlich ahnte er die Identität des Anrufers schon, bevor dieser sich schließlich zu Wort meldete.
„Nein, Dr. Stein. Thorsten Mertens hier“, antwortete sein Patient. Seine Stimme zeigte deutliche Erregung, barg aber dennoch eine gewisse Ruhe. Tom war jetzt hellwach. Dies war eine private Nummer. Woher konnte Mertens diese Nummer haben? Er setzte an, genau diese Frage zu stellen, doch Mertens unterbrach ihn.
„Ich weiß jetzt, wovor ich Angst hatte.“
Tom blickte unbewusst aus dem Fenster in das Dunkel der Nacht. Schwach fiel das Licht der Straßenlaterne hinein. Ihm war nicht wohl bei der Sache, ganz und gar nicht, aber er hatte keine Wahl. Er wiederholte seine Frage vom Nachmittag.
„Wovor?“, fragte er. Ein Lufthauch ließ die Gardinen vor dem Fenster wackeln. Er merkte, dass er nun unbedingt wissen musste, zu welcher Erkenntnis sein Patient gelangt war. Mertens antwortete nicht, erneut hörte Tom lediglich das beunruhigende Atmen.
„Wovor hatten sie Angst, Ben?“, setzte er nach, wobei er sich unbewusst der abgeschlossenen Vergangenheitsform ‚hatte‘ anschloss. Doch das registrierte er nur nebenbei. Schließlich antwortete Mertens.
„Vor Ihnen.“

Für einen Moment war Toms Kopf leer. Kein Gedanke breitete sich aus. Er blickte noch immer aus dem Fenster, hielt den Hörer an sein Ohr, doch sein Verstand war damit beschäftigt, mit dem eben Gehörten klarzukommen. Daher dauerte es auch einen Moment, bis er merkte, dass kein Geräusch mehr aus dem Hörer kam. Mertens hatte aufgelegt.
Automatisch legte auch er den Hörer zurück in die Ladestation und setzte sich im Bett auf. Was sollte er jetzt davon halten? Er versuchte, sich neutral mit der Sachlage zu beschäftigen. Ein Patient, der aus ihm bisher unbekannten Gründen augenscheinlich irrationale Angstgefühle entwickelt hatte, hatte nun ihn als seinen Psychotherapeuten als Ursache derselbigen festgemacht. Am ersten Tag der Therapie. Tom war sich sicher, dass sie sich noch nie zuvor begegnet waren, doch das spielte auch keine Rolle. Es handelte sich ganz offensichtlich um einen Fall von fehlgeleiteter Projektion. Nun galt es…
Tom realisierte, dass er seit einigen Minuten untätig in seinem Bett saß. So sehr er sich auch sicher fühlte, wenn er den Fall nüchtern analysierte, es blieb der Fakt, dass Mertens ihn mitten in der Nacht auf seine private Nummer angerufen hatte. Er war sich nicht sicher, wie schwierig es war, an eine nicht im Telefonbuch verzeichnete Nummer zu gelangen, aber wenn Mertens das gelungen war, war die Adresse vermutlich kein Hindernis. Dazu der seltsame Tonfall. Irgendwie hektisch, unsicher, aber doch auf eine beunruhigende Art entschlossen. Unwillkürlich musste Tom an seine Frau denken. Die jedes Mal halb vor Ekel ausflippte, sobald ein kleiner Käfer im Haus war, aber keine Ruhe gab, bis sie ihn rausgescheucht hatte. Voller Wille und Widerwille, die sich gegenseitig verstärkten.
Tom wurde immer unruhiger. Er erhob sich vom Bett und ging zum Fenster. Er sah die ruhige Nachbarschaft in der schwach beleuchteten Nacht. Die Straße war menschenleer. Einige vertraute Autos standen in den Einfahrten und am Fahrbahnrand, einige Fahrzeuge waren ihm fremd. Sollte ihn das jetzt überraschen? Er befürchtete, sich komplett irrational zu verhalten. Einfach zurück ins Bett und Mertens bei der nächsten Sitzung auf den Anruf ansprechen. Wobei … wer besucht eine Therapie bei seinem Schreckgespenst? Tom würde wohl demnächst eine Überweisung schreiben müssen.
 

Clive77

Serial Watcher
Er versuchte, zu grinsen, doch stattdessen wandte er sich vom Fenster ab und verließ das Schlafzimmer, um ins Erdgeschoss zu gehen. Langsam ging er die Treppe hinunter und behielt dabei die Haustür im Blick. Er hatte sie verschlossen, wie jeden Abend, aber warum nicht auf Nummer sicher gehen? Am Fuß der Treppe blieb er stehen. Links von ihm verlief der Flur, der von der Haustür an der offenen Küche vorbei in Richtung Wohnzimmer führte. Auf der Theke, die Flur und Küche trennte, lag noch immer das Tuch, das er am Abend dort liegengelassen hatte. Rechts von ihm waren lediglich die Garderobe und eine Tür, welche ins Badezimmer führte. Er fragte sich, warum er sich eigentlich so genau umschaute. Selbst wenn Mertens seine Adresse herausgefunden hatte, warum sollte er nachts in das Haus seines Therapeuten eindringen? Der obendrein, und dieses Mal musste Tom wirklich lächeln, offenbar sein größter Alptraum war. Die Situation war wirklich absurd. Er beschloss, kurz an der Haustür zu rütteln, und, um nicht umsonst nach unten gegangen zu sein, ein Glas Wasser zu trinken. Dann würde er zurück ins Bett gehen und sich mit Mertens dann beschäftigen, wenn es angebracht war. Nicht freitagnachts um halb zwölf.
Als er einen weiteren Schritt in Richtung der Haustür tätigte, sah er aus den Augenwinkeln etwas, das ihn innehalten ließ. Er blickte nach links, wo er nun mehr vom Flur und seiner Küche erkennen konnte. Vor der Küchentheke und damit mitten auf dem Flur stand einer seiner Wohnzimmerstühle, die Sitzfläche in Richtung des Wohnzimmers gerichtet. Dieser Anblick war so fremd, dass Tom einige Momente brauchte, um ihn zu verstehen. Er ging einen Schritt in Richtung Küche und konnte somit den ganzen Flur bis zur Glastür, die zur Terrasse führte, überblicken. Noch während er feststellte, dass diese Tür nicht ganz geschlossen war, kam eine Gestalt mit einem weiteren Stuhl in den Händen aus dem Wohnzimmer auf ihn zu. Es war Mertens.

Er machte einen äußerst konzentrierten Eindruck und schien Tom noch nicht bemerkt zu haben. Er trug eine schwarze Hose sowie einen Pullover, der olivgrün wirkte. Tom wich einen Schritt zurück. In diesem Moment blickte Mertens auf, atmete heftig ein und ließ den Stuhl los. Es gab einen kurzen, lauten Knall, als der Stuhl auf den Boden landete. Derweil griff Mertens mit einer hektischen Bewegung an seinen Hosenbund und brachte ein Messer zum Vorschein. Drohend hielt er es in Toms Richtung.
Tom hob die beschwichtigend die Hände, während er versuchte, die Situation einzuschätzen. Er bemühte sich, einen klaren Verstand zu behalten, doch er spürte, wie sein Fluchtinstinkt anschlug. Zwischen ihm und Mertens standen die zwei Stühle, die jeweils mehr als die Hälfte der Flurbreite einnahmen. Wenn er sich umdrehte und zur Haustür eilte, würde Mertens auf jeden Fall zwei Hindernisse zu bewältigen haben. Genug Zeit, die Tür zu öffnen und ins Freie zu fliehen. Theoretisch. Mertens blickte ihn noch immer starr an, das Messer ausgestreckt. Ein dünner Schweißfilm war auf seiner Stirn zu sehen. Er hatte sich seit dem Griff zum Messer nicht bewegt und schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Mit einem Mal war Tom sich sicher, dass er die Situation in den Griff bekommen konnte. Er hob beschwichtigend die Hände und bewegte sich langsam rückwärts.
„Herr Mertens“, begann er mit bemüht beruhigender Stimme, „bitte, was immer Sie vorhaben, wir…“

„Stopp!“, schrie Mertens dazwischen. Es schien, als ob Toms Stimme seine Paralyse gebrochen hatte. „Bitte! Seien Sie still!“, fuhr er beinahe flehend fort. Langsam ging er an dem ersten Stuhl vorbei auf Tom zu, wobei er das Messer stets auf Tom gerichtet hielt. Nun war es Tom, der sich nicht bewegen konnte. Mertens Schrei war ihm durch Mark und Bein gefahren. Er hätte nie gedacht, eine derartige Verzweiflung in einem von einem Menschen stammenden Laut zu vernehmen. Mertens war nun zwischen den beiden Stühlen stehen geblieben und wies mit dem Messer auf den vor ihn stehenden.
„Setzen Sie sich!“, forderte er. Tom verfluchte sich innerlich, dass er nicht einfach losgerannt war. Stattdessen gehorchte er nun den Worten seines Patienten und näherte sich langsam dem Stuhl. Während er ihn umrundete, beobachtete Mertens jede seiner Bewegungen genau und bewegte sich beinahe im Gleichklang zurück, bis er an den zweiten Stuhl hinter ihm stieß. Er wartete, bis Tom sich gesetzt hatte. Unsicher beobachtete Tom seinen Patienten, der sich, ohne seinerseits seinen Therapeuten aus den Augen zu lassen, auf den zweiten Stuhl niederließ. Tom wurde klar, dass er sich nun in der Gewalt von Mertens befand. Sein Gegenüber musste nur aufstehen und einen Schritt nach vorne treten, schon war Tom in Reichweite des Messers. Eines Messers, das, wie er nun erkannte, aus seiner eigenen Küche stammte. Er musste nur nach rechts blicken, um die leere Stelle in dem Messerblock, der auf der Arbeitsplatte stand, zu erkennen. Sein Blick blieb kurz an den anderen Messern hängen, doch um diese zu erreichen, müsste er zunächst irgendwie über die Theke gelangen, was ein aussichtsloses Unterfangen war. Was immer auch als nächsten geschah, Mertens war derjenige, der es bestimmte.

Mertens saß steif und angespannt auf seinem Stuhl, die Beine in einem perfekten rechten Winkel geknickt, die Füße fest auf den Boden gedrückt. Seine Hände ruhten auf seinen Oberschenkeln, das Messer in der rechten Hand fest umklammert und leicht nach vorne gerichtet, während die Finger seiner linken Hand nervöse Bewegungen machten. Noch immer starrte er Tom an. Doch er sagte kein Wort.
„Herr Mertens …“, machte Tom einen erneuten Versuch, doch wieder unterbrach ihn dieser sofort mit einem harschen „Stopp“ und eine drohenden Bewegung mit der Messerhand. Tom wich auf seinem Stuhl noch weiter zurück, auch wenn ihm das Messer nicht bedrohlich nahe gekommen war.
„Sie. Dürfen. Nicht. Reden!“, stieß Mertens mühsam hervor, „Bitte!“ Er hielt das Messer weiter in der Luft, die Schneide auf Toms Gesicht gerichtet. Tom merkte, dass er seine Hände zum Schutz erhoben hatte, und ließ sie betont langsam sinken. Er blickte Mertens fest in die Augen, deutete ein Nicken an, um Mertens zu beruhigen, und schwieg. Was sollte er anderes tun? Er registrierte, dass er unbewusst eine ähnliche Haltung wie Mertens angenommen hatte. War das sinnvoll? Konnte er auf diese Weise eine Verbindung herstellen? Oder sollte er etwas nach vorne rücken, um Nähe zu schaffen? Nein, denn das bedeutete auch Nähe zum Messer. Falls Mertens plötzlich beschließen sollte, kurzen Prozess zu machen, wollte Tom ihn nicht auch noch dabei behilflich sein. Unschlüssig blieb Tom, wo er war.

Die Minuten vergingen. Mertens nahm schließlich das Messer wieder etwas zurück, sodass es wie zuvor auf seinem Bein zu liegen kam. Ununterbrochen starrte er Tom an. Mertens atmete noch immer schnell und mit tiefen, gut hörbaren Zügen. Es war sichtbar, wie er mit sich kämpfte, auch wenn Tom nicht sagen konnte, worum. Nach einiger Zeit – Tom konnte nicht sagen, ob es fünf Minuten oder zwanzig waren – beschleunigte sich Mertens Atmen sogar noch. Er verzog das Gesicht und legte den Kopf in den Nacken, die Augen fest geschlossen. Fest trommelte er mit den Füßen auf den Boden. Toms Gedanken überschlugen sich. Er fixierte das Messer, das in Mertens zur Faust geballten Hand nun in Richtung Deckung wies, überlegte, ob er direkt danach greifen sollte, entschied, dass es sinnvoller wäre, sich einfach auf Mertens zu stürzen, vielleicht mit dem Kopf gegen dessen ungeschützte Kehle, dann den Schwung nutzen...
Mit einem lauten Ausatmen bewegte Mertens sich in seine Ausgangsstellung zurück und öffnete die Augen. Offensichtlich sah er die Anspannung, die von Tom Besitz ergriffen hatte. Kurz hob er das Messer und schüttelte nachdrücklich den Kopf. Obwohl diese Drohgebärde deutlich schwächer ausfiel als zuvor, entmutigte sie Tom weitaus mehr. Es lag nun eine gewisse Gelassenheit in Mertens Bewegungen, als ob er sich mit dem abgefunden hätte, was er unweigerlich zu tun hatte. Auch sein Atem beruhigte sich nun allmählich. Tom konnte es nicht beschreiben, doch Mertens machte eindeutig eine innerliche Veränderung durch. Er war sich nicht sicher, ob ihm der nervöse und angespannte oder dieser zunehmend selbstbewusster wirkender Mertens lieber war. Er überlegte kurz, einen erneuten Versuch der Kommunikation zu unternehmen, als Mertens sich plötzlich erhob.

Toms Stuhl bewegte sich ruckartig, als er reflexartig zurückwich. Mit den Händen vor dem Gesicht versuchte er, sich vor dem kommenden Angriff zu schützen. Doch der kam nicht. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Mertens sich wieder setzte. Mit pochendem Herzen wandte sich Tom ihm wieder zu. Als erstes fiel ihm Mertens leichtes Lächeln auf. Dann die ihm zugewandten, leeren Handflächen, die auf Mertens Oberschenkeln ruhten. Dort, wo er vorher das Messer umklammert hatte, war nun lediglich ein roter Abdruck zu sehen. Toms Blick pendelte erneut zu Mertens Gesicht und von dort aus, geführt durch einen kurzen, beinahe gutmütig wirkendem Seitenblick, zur Theke rechts von ihm, wo er die Klinge schließlich ausmachte. Mertens hatte nichts anderes getan als sie dort hin zu legen. Sie lag etwa in mittlerer Entfernung zwischen ihnen beiden. Tom hatte sogar den Eindruck, dass der Griff leicht in seine Richtung wies. Mit einer raschen Bewegung könnte er sie erreichen. Aber rechnete Mertens nicht exakt damit? War das eine Falle? Wollte Mertens seine Tat am Ende noch als eine absurde Form von Notwehr tarnen?
 

Clive77

Serial Watcher
Tom bemerkte, dass sich Mertens Haltung verändert hatte. Statt steif auf seinem Stuhl zu sitzen, hatte er sich nach vorne gebeugt, die Ellenbogen auf den Oberschenkel abstützend, die Hände unter dem Kinn. Er beobachtete Tom noch immer, doch sein vorher stets angespannter Blick war nun einer Art interessiertem Beobachten gewichen. Irgendetwas schien er in Toms Gesicht zu sehen, das ihn noch weiter entspannen ließ. Sein Lächeln war nun noch deutlicher hervorgetreten. Es drückte Sicherheit und eine Art von Selbstzufriedenheit aus, die Tom schaudern ließ. Die durchdringende Verzweiflung, die Mertens seit ihrem Kennenlernen ausgemacht hatte, war verschwunden. Angespannt blickte Tom von Mertens zum Messer und wieder zurück. Er wusste nicht, was er tun sollte. Irritiert und verunsichert war er nicht imstande, eine Entscheidung zu treffen. Er sackte zusammen.
„Bitte“, keuchte er und blickte von unten zu Mertens herauf, „Was wollen Sie?“
Mertens ließ einige Sekunden verstreichen. Gerade, als Tom dachte, dass diese Scharade sich ewig fortsetzen würde, stand Mertens auf. Er ging einen Schritt auf Tom zu und blickte auf ihn hinab. Tom wich auf seinem Stuhl zurück, die feuchten Hände fest um die Sitzfläche geklammert, die Augen ebenso fest geschlossen.
„Das“, sagte Mertens und ging an Tom vorbei zur Haustür. Entfernt hörte Tom, wie die Tür geöffnet und kurz danach wieder geschlossen wurde. Er öffnete die Augen und drehte sich langsam um. Mertens war weg. Mit wackligen Beinen erhob er sich und stützte sich an der Theke ab, als ihm schwindlig wurde.

Mit zitternder Hand griff er nach dem Messer.
 

Joker1986

0711er
Am Anfang echt gut, hat mich die Geschichte gefesselt und ich wollte wissen was passiert.
Aber das Ende war dann für mich unbefriedigend. Er hatte also Angst vor seinem Therapeuten (schon bevor er ihn kannte) und hat seine Angst besiegt, in dem er ihn in Angst versetzt hat? :check:
Irgendwie war mir das zu wenig.
Trotzdem solide geschrieben. Wird wahrscheinlich knapp an den Punkten vorbei schrammen.
 

Clive77

Serial Watcher
Die Geschichte fing gut an und ließ sich auch sehr flüssig lesen.
An einer Stelle ist mir aber was aufgefallen:
Clive77 schrieb:
„Wovor hatten sie Angst, Ben?“
Wer ist Ben? Hieß Mertens nicht mit Vornamen Thorsten?

Anfangs fand ich die Idee sehr gut, dass ein Mensch (Mertens) einfach nur Angst verspürt, ohne eine echte Erklärung dafür zu haben. Angstzustände aus dem Nichts heraus haben etwas Unheimliches, was mir spontan beim Lesen eine Gänsehaut gegeben hat.
Leider hat mir die Konfrontation (oder vielmehr das Ende) zwischen den beiden Figuren dann weniger zugesagt, auch weil ich mir da schlicht eine andere "Auflösung" erhofft hätte.

Punkte? Will ich nicht ausschließen, aber leider eher unwahrscheinlich.
 

MamoChan

Well-Known Member
Ich fand die ganze Geschichte durchgängig etwas zäh erzählt, so dass sie nie wirklich Fahrt aufnehmen kann. Dennoch ist der Anfang ganz interessant. Der Zeitsprung war nicht so meins, aber das ist vielleicht nur Geschmackssache. Mein Problem liegt vielmehr in der zweiten Hälfte. Ich kann es schwer in Worte fassen, aber es kam mir irgendwie nicht rund vor.
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Vom Schreibstil her hat mir die Geschichte gut gefallen, aber was die Handlung betrifft, muss ich mich meinen Vorrednern anschließen. Mertens hatte diese Störng doch schon bevor er den Psychiater traf, deswegen landete er ja überhapt in seiner Praxis. Die zweite Hälfte des Plots fand ich unrund und abstrus.
Bei dem Telefonat fiel mir eine Kleinigkeit auf. Auf Toms Frage, wovor Mertens Angst hat, sagt dieser: "Vor Ihnen". Woher weiß Tom, dass er damit gemeint ist und nicht die klassischen "sie", von denen Patienten mit paranoider Persönlichkeitsstörng oft reden (also die Regierung, die CIA oder sonstwer). Tom kann ja am Telefon nicht sehen, dass "Ihnen" großgeschrieben ist :wink:

Ansonsten eine ordentliche Story.
 

Schneebauer

Targaryen
Solide geschrieben. Aber schließe mich der Meinung meiner Vorredner an - bin mit der 2. Hälfte; der ganzen Konfrontation nicht zufrieden. Das kam irgendwie zu plötzlich und war kaum nachzuvollziehen. Hier hätte man das Zeichenlimit dahingehend nutzen können, dem Leser mehr Hintergrundinfos, oder Entwicklung des Patienten zu liefern, anstatt die Konfrontation (in der ja an sich kaum was passiert) solange zu strecken.
 

Woodstock

Verified Twitter Account ☑️
Ich muss mich meinem Vorrednern leider anschließen, so richtig hat mich dei Geschichte nicht gepackt. Sie ist zwar gut geschrieben aber der Plot wollte mich nicht mitreißen.
 

Sittich

Well-Known Member
Das ist meine Geschichte. Auch wenn ich dieses Mal gar nicht gut abgeschnitten habe: Wie immer danke für's Lesen und Kommentieren. Ich möchte auf ein paar Kommentare eingehen.

Clive77 schrieb:
Anfangs fand ich die Idee sehr gut, dass ein Mensch (Mertens) einfach nur Angst verspürt, ohne eine echte Erklärung dafür zu haben. Angstzustände aus dem Nichts heraus haben etwas Unheimliches, was mir spontan beim Lesen eine Gänsehaut gegeben hat.
Ja, diese Vorstellung finde ich auch ziemlich...angsteinflößend. Das war - zusammen mit der Figur des Psychotherapeuten - der Ausgangspunkt für die Geschichte. Rückblickend hätte man aus diesem Ansatz wohl mehr machen können. Mir ging auch durch den Kopf, das Ganze in eine unheimliche, lovecraftsche Richtung wandern zu lassen, aber da praktisch in jedem Wettbewerb sowieso schon mindestens eine Horror-Story auftaucht, habe ich das sein lassen (abgesehen davon, dass ich das stimmungsgemäß sehr wahrscheinlich gar nicht hinbekäme :squint:).
Den nächtlichen Anruf des Patienten finde ich eigentlich auch noch ganz gelungen.

Tyler Durden schrieb:
Mertens hatte diese Störng doch schon bevor er den Psychiater traf, deswegen landete er ja überhapt in seiner Praxis.
Ja, das ist ja der Witz an der Sache. Mertens Verhalten ist komplett irrational. Da ist ein Mann, der aus dem Nichts einfach Angst bekommen hat. Er weiß nicht, woher es kommt, aber er will verzweifelt, dass es endet. So verzweifelt, dass etwas in seinem Kopf schließlich beschließt, dass jetzt einfach irgendein Grund herhalten muss. Und dann trifft es eben seinen Psychotherapeuten. Er hatte ihn vorher nicht getroffen, aber er hatte auch nie gewusst, wovor er Angst hatte. Jetzt redet er sich ein, es plötzlich wissen zu müssen, und projiziert dieses neue Wissen auf ein neues Element in seinem Leben, dass diese Erkenntnis hervorgerufen haben kann.

Ich bin mir sicher, dass genauso in der Geschichte erklärt zu haben. :whistling: Natürlich ist die ganze Situation trotzdem ziemlich erzwungen. Vor allem die Auflösung, die Joker beinahe treffend zusammengefasst hat

Er hatte also Angst vor seinem Therapeuten (schon bevor er ihn kannte) und hat seine Angst besiegt, in dem er ihn in Angst versetzt hat?
ist zugebenermaßen sehr erzwungen und aus psychologischer (und realistischer) Sicht wahrscheinlich höchst fragwürdig. Ich hing auch ziemlich lang am Anruf fest und wusste nicht so recht, wie es weitergehen sollte. DIe Variante, die ich schließlich gewählt habe, war rückblickend nicht die beste. Vor allem, da sie beinahe nur aus Beschreibungen von Sitzhaltungen und Blicken besteht, was selten besonders aufregend ausfällt. :squint:

Tyler Durden schrieb:
Bei dem Telefonat fiel mir eine Kleinigkeit auf. Auf Toms Frage, wovor Mertens Angst hat, sagt dieser: "Vor Ihnen". Woher weiß Tom, dass er damit gemeint ist und nicht die klassischen "sie", von denen Patienten mit paranoider Persönlichkeitsstörng oft reden (also die Regierung, die CIA oder sonstwer). Tom kann ja am Telefon nicht sehen, dass "Ihnen" großgeschrieben ist :wink:
In der Tat. :ugly: Das wäre mir auch beim 34. Lesen nicht aufgefallen, aber das ist natürlich ein berechtigter Einwand.

So viel zu meiner Geschichte. Das nächste mal haue ich wieder eine Sexszene rein, dann gibt's auch wieder mehr Punkte. :squint:
 
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