Willkommen in Istanbul, der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie wollten schon immer mal auf Hausdächer steigen und von dort Granaten werfen, ohne dass sich jemand groß darüber aufregt oder gar die Polizei auftaucht? Dann sind Sie hier genau richtig. Buchen Sie noch heute Ihren Flug in die herrliche Stadt, in der Musiker 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche auf genau der selben Stelle ihrer Tätigkeit nachgehen, in der sie die drei hier angstellten Polizisten gerne auch erschießen dürfen. Und sollte es ihnen zu langweilig werden, schauen Sie doch einfach in der amerikanischen Botschaft vorbei. Dort freut man sich stets über Ihren Besuch, gerne auch ohne vor dem Eingang zu bremsen.
Liam Neeson ist ja schon ein wenig der Chuck Norris des heutigen Kinozeitalters. Er bildete Batman und Obi Wan Kenobi aus, setzte sich beispiellos für die Juden ein, zerstörte das Adlon Hotel, ist der Herrscher des Olymps, überlebte Flugzeugabstürze und Wolfsangriffe und zerlegte auf der Suche nach seiner Tochter mal eben einen ganzen Mädchenhandelring. Nun muss er sich auch noch mit einem unfähigen Regisseur und einem grenzdebilen Drehbuch herumschlagen.
Wenn direkt in der Einführung die Ereignisse mit hyperaktiven Schnitten und Zooms in Videoclipästhetik gezeigt werden, sehen wir uns mit zwei Tatsachen schon konfrontiert, bevor der Film eigentlich richtig begonnen hat: Der vermeintliche AD(H)S-Patient Olivier Megat(r)on hat wieder zugeschlagen. Und von dem herrlich dreckigen Stil von "Taken" alias "96 Hours" bleibt wohl nicht allzu viel übrig - da hilft es auch nicht, einige der Hochglanzbilder mit starkem Filmkorn zu überziehen.
Immerhin besinnt sich Beinahe-Decepticon Megaton (dieses fehlende "r" ist aber auch ärgerlich. Nichtmal dazu hat es gereicht...) bei der Exposition auf die Stärken des Erstlings, wobei er hier vermutlich von dem Drehbuch dazu gedrängt wurde: Bryan Mills und seine Familie dürfen sich wieder einige Zeit friedlich mit Familienproblemchen herumschlagen. Das war schon im Vorgänger toll, konnte man, wenn der kompromisslose Rachefeldzug begann, umso mehr mit dem Rambo-Vater mitfühlen. Nur leider gibt es in "Taken 2" keinen kompromisslosen Rachefeldzug, bei dem es sich mitzufiebern lohnen würde.
Zielgerichtet. Das ist wohl das Wort, das "Taken 1" am besten beschreiben würde. Kaum war Mills in Paris, gab es nur noch ein Ziel: Die Befreiung seiner Tochter. Ein links und rechts gab es dabei nicht. Und dementsprechend ernst war der Grundton. Es war diese Kompromisslosigkeit, die "Taken" aus der Reihe der typischen Actioner hervorhob. Wie eine Zielsuchrakete kämpfte sich Mills bis ans Ziel, war der Polizei immer einen Schritt voraus und auch, wenn die Fäuste immer im Vordergrund standen, hatte der Agent im Ruhestand immer auch einen clevern Schachzug in der Hinterhand.
"Clevere" Schachzüge hat Mills nun auch in der Fortstzung eine jede Menge. Nur ist der gute Mann wohl mittlerweile ein wenig debil geworden. Aber er ist ja auch schon einige Jahre im Rentenalter, da muss man das ja verstehen. Da sich diesmal Mills und seine Frau in der Rolle der entführten wiederfinden, muss eben die gereifte Tochter vermehrt in Aktion treten. Zum Glück hat Daddy eine Möglichkeit gefunden, telefonischen Kontakt zu dem hübschen Nachwuchsmodel zu haben und ihr Anweisungen zu geben. Und die fallen unglaublich raffiniert aus - dachte sich zumindest der Drehbuchautor. Und ja, amüsant sind die Geschehnisse ab diesem Moment in der Tat, Langeweile kommt ganz sicher nicht auf. Ab jetzt darf gelacht werden. Im Verlauf der Rettungsaktion mausert sich Mills mit immer mehr grandiosen Einfällen langsam aber sicher vom coolen wortkargen Vater, der alle nierdermäht, zum parodistischen Abziehbildchen eines eben diesen.
Es sind aber nicht nur einige sehr fragwürdige - ja, leider lächerliche - Drehbucheinfälle, die dem Action-Daddy mehrere Stöcke in den Weg legen. Offensichtlich hat auch Megaton seine Figur und seine Geschichte nicht richtig erfasst. Immer wieder werden einige Actionszenen in einer pseudo-coolen Art umgesetzt, die die Kompromisslosigkeit des Erstlings konterkariert. Da läuft während einer Schlägerei unpassenderweise irgendeine coole Elektromucke, wie sie auch bei Matrix (dort aber passend!) hätte eingesetzt werden können. Oder vor einem Kampf posieren sich Mills und Gegner wie in einem Beat'em Up auf einer Kampfarena und bereiten sich mit Posen auf den Fight vor.
Schlimmer noch als Lächerlichkeiten oder unpassenden Regieeinfällen sind was? Genau: Klischees. Und umschiffte "Taken" auch diese meist in einem großen Bogen, finden wir hier unfassfbar klischeehafte Standardsituationen. Was ein genialer, unerwarteter Moment, als Mills damals in Paris zu seiner Tochter am Telefon sagte, sie solle sich unter dem Bett verstecken - um dann entführt zu werden! Hier wurde ein Klischee nicht nur umschifft, sondern mit ihm gespielt. Nun kommt es auch bei "Taken 2" zu einer Situation, bei der Papa der Tochter sagt, sie solle sich im Schrank vor Entführern verstecken. Und dank eines Zufalls (!) - der Oscar für das beste Drehbuch ist damit sicher
- wird sie im letzten Augenblich selbstverständlich nicht entdeckt. Nur die erste einer Reihe 08/15 Situationen.
Natürlich macht der zweite private Eintführungsfall der Familie Mills auch wieder ordentlich Spaß und hat seine hellen Momente. Das schon aus dem Trailer bekannte Telefonat während der Entführung ist fesselnd. Wie Mills sich den Weg zu seinem Entführungsort einprägt, unlogisch, aber raffiniert oder zumindest interessant. Auch macht es in den meisten Actionszenen wieder viel Spaß, dem so und so immer charismatischen Neeson zuzusehen - Da verzeiht man sogar - beinahe - die zu hektische Kameraführung und einen Autostunt, der eher in "Alarm für Cobra 11" Platz finden würde.
Lohnt sich also ein Kinobesuch für weitere 96 Stunden, die gar keine 96 Stunden sind? Nun, als durchschnittlicher Actionfilm mit einigen herrlichen Übertreibungen funktioniert "Taken 2" schon ganz gut. Je näher das Finale rückt, desto mehr amüsiert man sich über einen Bryan Mills, der sich immer mehr mit kurios-rücksichtlosen Aktionen ins Herz jedes Chuck-Norris-Fans schlägt. Doch vergleicht man auch nur eine Sekunde mit dem bierernsten Erstling, schüttelt man nur mit dem Kopf und fragt sich, was die Macher hier geraucht haben. Das traurigste ist, dass die wohl tatsächlich der Meinung waren, im Sinne des Erstlings gehandelt zu haben. Gemeinsames Gelächter im Kinosaal an einiges Stellen machte jedoch klar: Ziel verfehlt!