HurriMcDurr
Well-Known Member
Das Schmonster
Tom stand am Grab seines Bruders und trauerte. Natürlich tat er das. Es war früher Abend, der Wind frischte langsam auf und er war, soweit er es überblicken konnte, der einzige Friedhofs-Besucher. Theresa, seine Frau, hatte ihn vor einigen Minuten alleine gelassen. Mit Sicherheit hatte sie gespürt, dass er noch einen Moment allein mit seinem Bruder brauchte. Noch ein paar gemeinsame Minuten, nach den 73 gemeinsamen Jahren.
Tom trauerte nach vielen Jahren erneut um einen Bruder, doch dieses Mal war es keine bittere Trauer. Stefan war 76 Jahre geworden, und irgendwann war auch mal gut. Das sah zumindest Tom, der nun auch schon auf die 75 zuging, so. Und so verzog er nicht voller Trauer das Gesicht, er weinte nicht oder haderte mit dem Schicksal. Nein, er lächelte, und dachte an die gemeinsame Zeit mit seinem Bruder. Und schließlich landeten seine Gedanken beim Schmonster.
Tom schmunzelte. Das Schmonster! Wie lange hatte er daran nicht mehr gedacht? Aber natürlich musste es in dieser Situation, am Grab seines älteren Bruders, wieder zum Vorschein gekommen. Er dachte an die kindliche Angst zurück, die ihm das Schmonster bereitet hatte. Immer kurz davor, die Angst als unbegründet abzutun, waren dann doch immer wieder die Zweifel gekommen: Was, wenn es doch existierte und auf seine Chance lauerte? Was, wenn er oder sein Bruder im falschen Moment übertrieben und sein Opfer würden?
Und nun hatte es schließlich wieder zugeschlagen, oder nicht? Doch dieses Mal war es Stefan gewesen, der nicht aufgepasst hatte...
Tom riss sich mit Gewalt aus seinen absurden Gedanken. Nun übertreib mal nicht, dachte er sich, und warf einen letzten Blick zum Grab seines Bruders.
„Mach's gut, großer Bruder“, sprach er zu dem Grabstein, auf dem „Stefan Wetzel, 1986-2062“ geschrieben stand. Er wandte sich um und ging die stillen Reihen des Friedhofs entlang zum Ausgang, um Theresa nicht länger im Auto warten zu lassen.
Er verließ den Friedhof und trat auf die Straße. Noch immer wollte ihm das Schmonster nicht aus dem Kopf gehen. Er blickte sich um, doch niemand hatte sich in diesen frühen Abendstunden in die Nähe des Friedhofs verirrt. Theresa wartete sicher im Auto, dass sie zwei Querstraßen weiter geparkt hatten. Es herrschte bis auf entfernten Autolärm und dem Rascheln der Blätter im Wind Stille. Tom lächelte wehmütig, schaute sich erneut um, richtete sich etwas auf und holte tief Luft.
„HEY! HIER BIN ICH! KOMM DOCH!“, schrie er in die Nacht. Der Schrei verhallte, ohne das sich irgendeine Reaktion zeigte. Mit offenem Mund verharrte Tom einige Sekunden. Dann lächelte er und ging die Straße entlang, um seine Theresa nicht länger warten zu lassen.
Früher
Stefan saß an einem langen Tisch und amüsierte sich. Natürlich tat er das. Es war schließlich seine Hochzeit. In diesem Moment lachte er ganz besonders beherzt, während Laura ('Seine Frau') neben ihm verschmitzt lächelte und ein wenig errötete. Verursacher dieser Heiterkeit war Tom, Stefans Bruder. Dieser hatte sich vor einigen Momenten von seinem Sitz erhoben, mit übertrieben feierlicher Mine gegen sein Bierglas geschlagen und, als die 83 anderen Gäste, die sich an diesem Abend in dem Festsaal des Hotels versammelt hatten, ihm die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hatten, zu einer ausufernden Rede zu Ehren des Hochzeitpaares angesetzt. Wie recht bald ersichtlich wurde, hatte Tom zu dieser Zeit am frühen Abend schon ein paar mehr Bier intus als der durchschnittliche Hochzeitsgast, sodass er kein Blatt vor dem Mund nahm und schonungslos drauflos kalauerte. Stefan war recht dankbar, dass sich eine der Angestellten des Hotels am anderen Ende des Saal um die anwesenden Kinder kümmerte, sodass Toms Worte zumindest nicht an die aller jüngsten Ohren gelangten.
„Ich weiß noch“, fuhr Tom nun fort, nachdem die Reaktionen über seinen letzten Spruch abgeklungen waren, „wie Stefan mir das erste Mal von Laura erzählt hat.“
Nein, das wagt er nicht, dachte sich Stefan und warf einen erschrockenen Blick zu seiner Gemahlin, die gebannt an Toms Lippen hing. Auch seine Eltern, die neben Laura saßen, konzentrierten sich ganz auf ihren jüngeren Sohn. Sein Vater wirkte erheitert, doch in der Miene seiner Mutter erkannte er schon den Ansatz dieses einen Blickes. Das nahm Tom aber nicht zur Kenntnis, oder er wollte es nicht.
„Und was soll ich sagen? Er schwärmte hemmungslos von dieser Frau. Naja, und dann...übergab er sich einfach weiter.“
Er hatte es getan. Die Menge schwieg für einen Moment ob der unerwarteten Pointe, brach dann aber erneut in Gelächter aus. Zumindest ein Großteil. Auch Stefan musste beinahe gegen seinen Willen lachen. Es stimmte, er hatte Laura seinem Bruder gegenüber noch in der Nacht, in der er sie kennengelernt hatte, erwähnt. Das war nach einer Studentenparty gewesen, und er hatte sich irgendwann vor seinem Klo wiedergefunden, Tom mit einem Bier in der Hand neben sich auf der Wanne hockend, während er der Toilette seine Alkoholsünden gebeichtet hatte. Er wusste nicht mehr ganz genau, was er in dieser Situation von sich gegeben hatte, aber Tom holte diese Anekdote bei jedem ihrer Zusammentreffen hervor. Bisher allerdings noch nie in Lauras Anwesenheit, ganz abgesehen von den restlichen Leuten, von denen Stefan nur gut zwei Drittel kannte.
Er erwiderte Lauras Blick, die ihn prustend ansah, und gab ihr dann einen Kuss. Derweil ließ Tom sich glücklicherweise recht kurz über das Geschehen aus und ging dann dazu über, einzelnen Gästen ironische Komplimente über ihre Garderobe zu machen. Stefan nippte an seinem Sektglas und hörte mit halben Ohr zu. Dabei fiel sein Blick erneut auf seine Mutter, die auf der Brautseite des Tisches saß. Sie hatte ihren 'Mein Sohn wieder ich weiß nicht woher er das hat'-Blick noch etwas verschärft. Als sie Stefans Aufmerksamkeit bemerkte, wies sie mit einem kantigen Kopfnicken in Richtung seines Bruders. 'Sohn, zügele dein Bruder, aber flott!', schien diese Geste ihn anzuschreien. Er erwiderte sie mit einem Lächeln und einem Achselzucken, was soviel wie 'Ach komm schon. Lass ihn doch. Es ist meine Hochzeit, und die Leute amüsieren sich!' bedeutete. Er rechnete mit einer resignierenden Antwort, doch seine Mutter wiederholte einfach ihre vorherige Geste, diesmal noch etwas vehementer. Dieses Mal folgte Stefan der Bewegung und sah schließlich den eigentlichen Grund für den Kummer seiner Mutter.
Theresa. Theresa in ihrem wirklich hübschen Kleid mit den dazu passenden roten Wangen. Theresa, die neben Tom, ihren Freund, saß, und sich in ihrem Sitz so klein wie möglich zu machen versuchte. Natürlich, das hätte er kommen sehen müssen. Stefan kannte die neue Freundin seines Bruders noch nicht lange, doch er hatte sie als herzensgute, aber unheimlich schüchterne Frau kennengelernt. Einer Frau, die es tunlichst vermied, in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken und nun eine Armlänge von eben diesem entfernt saß.
Stefan hatte zunächst nicht recht verstanden, wie Theresa und sein Bruder zusammenpassten. Tom war schon immer sehr extrovertiert gewesen. Eine Eigenschaft, die sich seit jenem Tag vor vier Jahren beinahe aus Trotz, wie es schien, noch weiter verstärkt, hatte. Doch dann war Stefan klar geworden, dass Tom jemanden wie Theresa in seinem Leben einfach brauchte. Sein Bruder wollte, ja musste endlich zur Ruhe kommen. Deswegen hatte die Familie Theresa beinahe intuitiv herzlich in ihrem Kreis aufgenommen. Und dort musste sie so lange wie möglich festgehalten werden. Daher gefiel Stefan Theresas Blick in diesem Moment gar nicht. Sie schien sich wahrhaft unwohl zu fühlen, während alle Augen auf ihren Freund gerichtet waren und dieser wagemutig am Rande des guten Geschmacks entlang balancierte. Nein, dieser Eindruck durfte sich nicht in ihr festsetzen. Es galt, Tom zu seinem eigenen Wohl etwas auszubremsen.