HurriMcDurr
Well-Known Member
Patholo und Nekrolo
Als kleiner Bub waren es die imaginären Wesen, die je nach Laune unter seinem Bett oder im Schrank lauerten und die Stromrechnung seiner Eltern in die Höhe schnellen ließen, als Josef, der von seinen modernen, Amerika affinen Eltern nur Joe genannt wurde, bei eingeschaltetem Licht Zähne knirschend auf die obligatorische beruhigende Gute Nacht- Geschichte seiner Mutter wartete.
Doch seit Monaten schon sehnte sich Joe zurück nach dieser Zeit, als fiktive leuchtende Augen ihm den Schlaf raubten und er jede Nacht fürchtete gebissen, zerkaut, entführt, geschlagen, zerteilt, geköpft, erdolcht, ausgesaugt und verschluckt zu werden oder dass außerirdische Riesenschlangen Eier in seinen Körper legten und diese früher oder später in seinen Organen schlüpfen würden. Joe schlief aus diesem Grund als Kind immer mit der Bettdecke über seinen Kopf und hielt seinen Mund stets geschlossen, mit der Hoffnung, dass seine Angst auch im Schlaf dafür sorgte, dass sein Mund sich nicht öffnete und Kreaturen somit keine Dinge in seinem Körper ablegen könnten.
Joe hätte nie gedacht, dass er diese Zeit heute einmal so vermissen würde und es andere Monster geben sollte, die ihm nun um seinen Schlaf bringen sollten. Diese Monster konnten sich beliebig verwandeln. Während der Computerbildschirm das Zimmer erhellte und ihm nur noch zwei Stunden blieben, um sich endlich aus den Fesseln der neusten Dämonen seines Lebens befreien zu können und Joe wie ein besessener um sein Leben tippte, erinnerte er sich zurück an seine Kindheit. Er erinnerte sich daran, warum die Dämonen von damals nicht halb so Angst einflößend waren wie die, mit denen er es seit einigen Monaten zu tun hatte und welche ihm in diesem Moment wieder eine schlaflose Nacht bescherten, obwohl er sie noch nie gesehen hatte.
„Clint? Das war doch Clint?!“, fragte sich Joe. Er öffnete das Fenster und schaute heraus. Draußen schien der Mond und es war bitterkalt. Joe blickte auf den natürlichen Satellit der Erde, vor dem er sich immer noch ein wenig fürchtete. Es schauderte ihm leicht. Joe lehnte seinen Kopf weit aus dem Fenster. Er konnte niemanden erkennen. Es kam ihm gerade so vor, als ob er eines der Monster im Spiegelbild des Fensters gesehen hatte. Erschöpft rieb er sich die Augen, schloss das Fenster und dachte an früher zurück. Und es kam ihm eine Idee wie er das Unglück vielleicht doch noch abwenden konnte.
Alles fing damit an, als Joes Eltern eines Tages als er sechs Jahre alt war, seinen Onkel Karl darum baten das Babysitting für ihren jüngsten Spross zu übernehmen. Was sie jedoch nicht ahnten war, dass Karl sich gerne an der eigentlich stets abgeschlossenen hauseigenen Minibar bediente und dass Karl jedoch wusste wo sich der Schlüssel befand und dass seine Fantasie nach den ersten Schlücken Jack Daniels exorbitante Dimensionen annahm. Während „Onkel Karl“ es sich mit dem klischeehaften Eimer Popcorn auf der Couch von Joes Eltern gemütlich gemacht und das Licht ausgeschaltet hatte, beleuchtete nur das Flimmern des alten, leicht rauschenden Röhrenfernsehers das Wohnzimmer. Die Atmosphäre mit dem flackernden Bildschirm ähnelte der eines guten Teen-Horror-Splatter B- Movies, nur dass es keine Angst einflößende Hintergrundmusik gab und Karl diesen Tag entgegen des späteren Wunsches der gesamten restlichen Familie überleben sollte.
Zaghaft kletterte der kleine Joe die Stufen der Holztreppe hinunter. Seinen 1,50m großen Kuschellöwen Heinz, der ihn vor bösen Geistern und Massenmördern beschützen sollte und ihm von seiner damals in Indien lebenden und ,zum damaligen Entsetzen aller zum Buddhismus konvertierten großen Schwester Petra geschenkt wurde, zog der kleine Junge über die Stufen schleifend hinter sich her. Joe war von dem lauten schrillen Schrei einer Frau geweckt worden. Im Wohnzimmer angekommen blieb er hinter der Couch stehen und blickte verschwommen auf den flimmernden Bildschirm. Schlaftrunken rieb er sich die Augen. Nach einigen Sekunden konnte er klarer sehen. Seine Pupillen fixierten einen Mann mit blauen Augen, der in einem Bett lag. Es herrschte absolute Stille. Wie aus dem nichts durchbohrte ein Spitzer Gegenstand von unten durch das Bett hindurch den Hals des Mannes. Das Blut spritzte, ohne dass man sah, wer für die Tat verantwortlich war. In diesem Moment ließ Joe Heinz auf den Boden fallen und kreischte laut. Er ahmte unbewusst die exakt schrille Sequenz des Schreis der Frau nach, die er zuvor gehört hatte. Karl, der für den Abend kurzfristig auf sein erstes Date mit Klaudia Löpelmann verzichten musste und ohnehin nicht begeistert war auf seinen verwöhnten und klugscheißenden Neffen aufpassen zu müssen, schrak panisch hoch und stieß dabei den Eimer Popcorn um, so dass sich der ganze Inhalt auf dem Seidenteppich von Urgroßmutter Hedwig verteilte. „Du Arschloch!“, schrie Onkel Karl ihn in einem hardcorebayrischem Akzent erschrocken an. Nach dem kurzen Schreck korrigierte Karl die Begrüßung an seinen Neffen. „ Ähm…Du Lümmel meinte ich… Was machst du hier? Weißt du eigentlich wie sehr du mich erschrocken hast?“ Joe blickte auf das „Godzilla vs. King Kong“- Shirt seines Onkels und begann zu weinen. Danach setzte er sich neben Karl auf die Couch. Dort erblickte er auf dem Tisch eine Reihe von Videokassetten auf denen ein großer Mann mit einer Eishockeymaske zu sehen war. „Der Mann ist tot… Ich habe Angst, dass da oben etwas unter meinem Bett ist, was mit mir dasselbe macht. Ich kann da niemals mehr schlafen. Niemals!“, jammerte Joe. Leicht angenervt versuchte der 30 Jährige Langzeitsingle Karl seinen aufgelösten Neffen zu beruhigen. „Das ist doch nur ein Film!“ hauchte er ihm mit einer leichten Alkoholfahne ins Gesicht und drückte seinen Neffen kurz an sein seit Tagen ungewaschenes mit Bratensoße besprenkeltes Shirt. „Du bist doch kein Mädchen?! Oder?!“ Joe rieb sich die Augen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Natürlich nicht!“, schrie Joe ihn patzig an. Weißt du was Mama und Petra immer sagen?! Ich bin ein Löwenkrieger, sagte er und streckte Karl seinen Plüschlöwen mit beiden Händen vor das Gesicht und scheiterte kläglich bei einem Versuch das Brüllen eines Löwen zu imitieren. Karl, der sich von seinem nicht minderintelligenten Kontrahenten herausgefordert fühlte, lachte laut und griff zur Fernbedienung des Fernsehers. Kompromisslos zappte er durch das Nachtprogramm bis eine Reportage über moderne Gerichtsmedizin die Aufmerksamkeit auf sich zog. „Mach das weg!“, motzte Joe und hielt sich die Finger vor das Gesicht. „Wenn du kein feiges Weibsstück bist, dann schaust du dir das mit mir an!“ Joe, der aufgrund seines Geburtsjahres 1989 und der Tatsache, dass er im Haus seiner relativ konservativen Eltern noch keinen Kontakt zum Internet hatte, war eines der Kinder das mit Hinblick auf die FSK- Vorschläge der Gesellschaft tatsächlich nahezu in jungfräulicher Prüderie erzogen wurde, nahm die Herausforderung an und saß sich, nachdem er schon kurz davor war zu fliehen, wieder neben Karl auf die Couch.