Story XXIX: Yrrthol – Die Erleuchteten

HurriMcDurr

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Yrrthol – Die Erleuchteten​

Dies sind keine irren Fantastereien. Es wird irgendwann der Tag kommen, an dem die Menschheit Auge in Auge mit dem unfassbaren Schrecken steht, von welchem ich nun berichten werde. Wie gern würde ich behaupten können, ich lieferte kein Glied in der seltsamen und obskuren Ereigniskette, welche langsam aber sicher die finsterste aller Bedrohungen aus den Nebeln längst vergessener Zeiten schleppen wird. Doch im Gegenteil: Ich half noch bei der Meuterei gegen meine eigene Spezies.
Ich war ein junger Mann von zwanzig Jahren als ich im Frühjahr 1896 auf der Seamaid anheuerte, um den allzu autoritären Fängen meines verhassten londoner Elternhauses zu entkommen. Bis dahin hatte ich die beste Bildung genossen, doch ging dies sehr zulasten jeglicher Freiheit und Privatsphäre. Mein Leben war bis dahin zur Gänze der Familie, dem Studium und dieser ekelhaften Studentenverbindung gewidmet. Niemand fragte nach meinen Wünschen und nach den Gründen für meine gelegentlichen Rebellionen. Eben diesem Mangel an Wertschätzung war letztendlich geschuldet, dass ich meinem Freiheitsdrang nachgeben musste. Und was wäre dafür besser geeignet als eine reinwaschende Seereise und ein neues Leben unter neuem Namen in einer neuen Heimat?

Die Seamaid, ein betagter Frachtsegler, sollte nach mehrwöchiger Überfahrt in New York anlegen. Ihr Kapitän hieß Eugene J. Masterson und war ein erfahrener Seemann. Obschon er einen eher gedrungenen Körperbau hatte, wurde er von allen geachtet. Dies war nicht zuletzt seinem eisernen, jedoch stets fairen Führungsstil geschuldet. Die zwölfköpfige Mannschaft unter ihm war, mit zwei Ausnahmen, walisischer Herkunft. Ein für meine Erzählung zentrales Mitglied war ein milchgesichtiger, aber sehr geschickter Junge namens Mahoghany, der jedoch von allen stets "Manny" gerufen wurde. Dann war da noch die zweite nicht-walisische Ausnahme, neben mir als Engländer, nämlich ein Franzose namens Jean Baterau. Seiner Herkunft zum Trotz wurde er vom Rest der Mannschaft mehr als respektiert, was er weniger seinem fließendem Englisch als seiner Vergangenheit als Harpunier und seiner beeindruckenden Statur verdankte.
Meine Zeit an Bord der Seamaid war hart aber bereichernd. Den körperlichen Anforderungen war ich durchaus gewachsen und es machte mir auch nichts aus See, Wind und Wetter in derart hohem Maße ausgesetzt zu sein. Anfangs hatten die anderen Ihre Vorbehalte mir gegenüber. Vor allem Baterau ließ keine Gelegenheit aus, mich zu schikanieren. Respekt verschaffte ich mir erst, als der Franzose handgreiflich wurde. Ich verstehe mich ein wenig auf Techniken fernöstlicher Kampfkunst, so schaffte ich es tatsächlich, den Hünen nach einem kurzen Faustkampf mit zweifach gebrochener Nase auf die Planken zu befördern. Schnell hatte er sich wieder aufgerappelt und zeigte sich von seinen Blessuren wenig beeindruckt, dafür aber umso mehr von meiner Standhaftigkeit. Unvermittelt grinste er breit und ab diesem Zeitpunkt verband uns eine Art ruppige Kameradschaft. Fortan wurde ich auch von den anderen akzeptiert.

Nach einem Umweg über Gibraltar nahm unser Kapitän, im Austausch gegen eine stattliche Menge Bargeld noch zwei Passagiere an Bord: Der eine war Harald Synström, ein berühmter norwegischer Professor für Archeologie und Antropologie, von dem selbst ich bereits während meines Studiums gehört hatte, was ich jedoch für mich behielt. Er war ein mürrischer, verschlossener, alter Kauz, der sich ausschließlich in seiner Kajüte oder im Frachtraum aufhielt. Der andere Passagier war der Assistent des Professors, ein deutscher Student namens Erich Brüggenthal. Dieser zeigte sich umtriebiger und gesprächiger, auch wenn man den Eindruck hatte, dass er viel reden konnte ohne auch nur eine einzige konkrete Aussage zu treffen. Die beiden brachten Frachtgut in Form einer einzelnen Holzkiste mit an Bord. Diese war nicht größer als vierzig mal vierzig mal siebzig Zentimeter und es war uns untersagt sie zu öffnen, was Teil eines dreiundfünzig Seiten starken Vertrages war, den Masterson noch am Hafen unterschrieb. Darin war auch die exakte Route festgelegt, die die Seamaid nach New York nehmen sollte. Wäre dieser Vertrag nicht derart lukrativ gewesen, so war ich mir sicher, hätten ihn diese Vorschriften zur Ablehnung des Abkommens bewogen.

Unmittelbar nachdem wir wieder ablegten, wurde ich Zeuge von äußerst verstörenden Ereignissen. Zunächst begann es mit Alpträumen, die einige von uns plagten. Es waren Visionen von versunkenen Städten. In ihren Häuserschluchten schwammen lediglich diffus wahrnehmbare Kreaturen und fraßen sich durch Massen umhertreibender Wasserleichen. Jene von uns, die gewillt waren darüber zu sprechen, stellten dabei merkwürdig exakte Übereinstimmungen fest. Oftmals konnten wir die Schilderungen des jeweils anderen vervollständigen. Mit geringen Variationen teilten wir auch in den Folgenächten den selben Traum. Seemann Pinkett brach an einem Mittwochnachmittag während eines Gesprächs an Deck zusammen. Wir brachten ihn in seine Koje, wo er von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde. Kaum hatte er sich beruhigt, sprang er auf und ritzte mit einem Messer das Abbild eines einzelnen Auges in die Bordwand. Doch war es keinesfalls ein menschliches Auge, denn es hatte fünf Pupillen. Nach der Fertigstellung dieser Schnitzerei brach er erneut zusammen und fiel in ein seltsames Fieber, von dem er sich ebenso schnell wieder erholte wie es ihn ereilt hatte. Er erwachte ohne jede Erinnerung an diese verwirrende Episode.
Für große Verwirrung sorgten auch diverse optische, wie auch akustische Halluzinationen, denen einige von uns erlegen waren. Immer wieder meinten Mitglieder der Mannschaft, fremde Gestalten in ihren Blickwinkeln zu sehen, oder gerade dann leises Stimmengemurmel zu hören, wenn sich nachweislich niemand in der Nähe befand. Versuchte man genauer hinzuhören was die Stimmen sagten, entglitt einem in aller Regel das Gesagte zusehends und sich drängte der Verdacht auf, einer fremden Sprache zuzuhören.

Auch wenn das bisherige alles andere als angenehm war, so sorgten die Vorfälle in welche Manny verwickelt war für wesentlich größeres Aufsehen. So wurde ich eines Nachts Zeuge, wie der Junge völlig aufgelöst die Kajüte stürmte und Baterau zu überzeugen versuchte ihm in den Frachtraum zu folgen. Da sich der Franzose weigerte und auf seinen Schlaf bestand, erklärte ich mich bereit ihn zu begleiten. Wir fanden den Frachtraum zwar abgeschlossen vor, doch konnten wir ein merkwürdiges pulsierendes Leuchten unter dem Türspalt hindurchkriechen sehen. Es war ein Leuchten von unbestimmbarer Farbe, welches intensiv genug war, den ganzen Vorraum und die Tür zur Passagierkajüte gleich mit zu beleuchten. Der Lichtschein irisierte und war je nach Blickwinkel entweder eher Purpur oder ging in ein komplementäres, giftiges Grün über. Diese flackernde Unbestimmbarkeit verwirrte das Auge und bereitete bereits nach kurzer Zeit heftige Kopfschmerzen. Unsere Versuche die Tür zu öffnen, um die Herkunft dieses Leuchtens offenzulegen scheiterten an dem überdimensionierten Vorhängeschloss, welches Kapitän Masterson auf Wunsch der beiden Passagiere hatte anbringen lassen. So beschlossen wir – Manny dabei nur sehr widerstrebend – die Nachtruhe fortzusetzen.
 

HurriMcDurr

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Diese währte allerdings nur kurz, denn wir wurden wenig später allesamt von einem lauten Poltern sowie markerschütternden Wutschreien aus dem Schlaf gerissen. Sechs von uns, mich eingeschlossen, folgten den chaotischen Geräuschen und stiegen zum untersten Deck des Schiffes hinab. Auf dem Boden des Vorraumes lag das nun beschädigte Vorhängeschloss und die Tür zum Frachtraum stand sperrangelweit offen. Das irisierende Licht war nicht mehr zu sehen, dafür waren weiterhin wilde und blasphemische Flüche zu hören. Deren Quelle war Synström, das verriet uns der Blick hinein. Er hielt Manny am Kragen fest, schüttelte ihn und donnerte ihm eine Reihe von wenig freundlichen Zurechtweisungen und Beschimpfungen ins verdutzte Gesicht. Pinkett und Baterau stürzten sich sofort auf den Professor und lösten seinen Griff von unserem jüngsten Kameraden. Gleich darauf sprang Manny panisch auf die Türe zu, rannte mich beinahe um und hastete die schmale Treppe hinauf. An deren Ende wurde er unsanft vom Kapitän gebremst, um sich die nächste Schelte nebst Strafdienst für eine volle Woche einzuhandeln. Danach kehrte Ruhe ein, wir wurden der Szenerie verwiesen und Masterson bat unsere Passagiere knurrend um Verzeihung. Kurz drauf schärfte er uns unter Androhung heftigster Strafen ein, endgültig die Finger von den Habseligkeiten der beiden Akademiker zu lassen. Die Tür zum Frachtraum konnte nämlich aus Ermangelung an Vorhängeschlössern nicht mehr verschlossen werden. Aus Manny brachten wir indes keine Silbe mehr heraus. Der sonst so heitere Junge sollte nie wieder ein Wort sprechen und nur noch starren Blickes über das Deck schlurfen.

Die einzige Ausnahme dazu bildete jener Abend, es war der siebte Mai, an dem ich ihn – diesmal alleine – abermals im Frachtraum erwischte. Ich meinte das seltsame Leuchten schwach in der Luft wahrzunehmen, doch ganz vorrangig sah ich Manny, der wie im Fieberwahn literweise Petroleum auf dem Boden vergoss. Ich konnte ihn im allerletzten Moment noch daran hindern, die nahestehende Laterne auf den Boden zu schleudern und das halbe Unterdeck in Brand zu setzen. Ich schaffte es ihn zu überwältigen und wieder in den Vorraum zu ziehen, ohne dass ein Unglück geschah. Manny einarmig umklammernd schloss ich gerade die Tür und wollte nach den anderen Rufen, als sich der Junge plötzlich losriss und panisch das Deck stürmte. Ich rannte hinterher, hatte jedoch keine Chance ihn einzuholen. Oben konnte ich nur noch sehen, wie er auf die Reling zulief und sich in den kalten Ozean stürzte. Wir versuchten unser Möglichstes, doch konnten wir ihn im starken Seegang nicht mehr finden. Bis zuletzt waren wir der Auffassung, er sei nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen. Nun weiß ich aber, dass er wohl der Einzige an Bord gewesen sein musste, der noch bei klarem Verstand war und die Situation richtig einschätzte. Mit meinem jetzigen Wissen hätte ich ihm sogar geholfen die Seamaid bis zur Wasserlinie niederzubrennen und zu versenken, auch wenn es mich das Leben gekostet hätte.


Die Weiterfahrt verlief, abgesehen von andauernden Alpträumen, ruhig und ohne Zwischenfälle. Doch eineinhalb Wochen nach Mannys Tod, es war der achzehnte Mai, erlebten wir eine merkwürdig plötzlich aufkommende Flaute. Dichter Nebel umgab unser Schiff, welches bei 28 Grad 47 Minuten nördlicher Breite und 61 Grad 29 Minuten westlicher Länge in reglosem Gewässer festsaß. Wir standen an Deck und starrten in einen Nebel hinaus, der eine Einheit mit der spiegelglatten Wasseroberfläche bildete und den Eindruck entstehen ließ, die Seamaid schwebe im luftleeren Raum. Kein Geräusch drang zu uns. Nichteinmal Fische waren zu sehen. Einige von uns beratschlagten gerade, ob wir das Schiff vielleicht mit Beibooten und Rudern aus dem Nebel pullen sollten, um zumindest wieder den Horizont sehen zu können. Unsere beiden Passagiere hatten sich bislang beharrlich im Frachtraum aufgehalten, doch nun kamen auch sie an Deck und das irisierende Leuchten brachten sie gleich mit.
Uns stockte der Atem, einige schrien sogar auf. Nicht etwa wegen der seltsamen Erscheinung des Professors, in ein langes, weißes Gewand gehüllt, welches seine mit obskuren Tätowierungen und schrecklichen Narben übersähte Brust zur Schau stellte. Es war auch nicht der deutsche Assistent des Professors, welcher zwar seinen normalen Anzug trug, dafür allerdings eine doppelläufige Schrotflinte auf uns richtete. Es lag eindeutig am von Synström getragenen Ursprung des nun beinah allgegenwärtigen Glühens, nämlich einem monolithischen pechschwarzen Objekt, von 30 Zentimetern Durchmesser und einer Höhe von circa 55 Zentimetern. Seine Grundform war nicht eindeutig zu erkennen, aber vom ersten Eindruck her pentagonal und in sich gewunden. Je nach Blickwinkel schien seine eigentümliche Geometrie mal eine Seite verschlucken, mal eine zusätzliche entstehen zu lassen. Auch die gewundenen Flächen konnten sich offenkundig nicht entscheiden ob sie nun konkav, konvex oder flach sein wollten. Feine Linienmuster überzogen das Objekt und aus ihnen trat auch das unheilige Licht heraus, pulsierend und ab und zu blendend.

Mit angespanntem Gesicht fuchtelte der Deutsche mit der Waffe herum und bedeutete uns Platz zu machen. Wir gehorchten und so konnte der murmelnde Professor an uns vorbeitreten und an die Reling gelangen. Er war wesentlich stärker und geschickter als uns sein Alter und seine dürre Statur weiß machen wollten, denn völlig mühelos und kerzengerade balancierte er nun auf der Reling und streckte den Monolith von sich. Dieser war nun einige Meter über dem Wasser und augenblicklich registrierten wir eine Bewegung auf der Oberfläche. In gebührlichem Abstand zu den Passagieren sammelten wir uns und blickten hinunter. Wir sahen, wie ein Strudel an der Seite des Schiffs entstand und eine perfekte senkrechte Röhre von einem Meter Durchmesser bildete, welche bis in die schwärzesten Tiefen hinunterreichte, an der Oberfläche aber keinerlei Wellen bildete.
Synström stieß einen spitzen Schrei aus und rezitierte blasphemische Verse in einer unbekannten Sprache: "N'ghun f'trag'n kyorlogg hissk 'ndaar H'pn aylarr Yrrthol!" Dies und ähnlich merkwürdige Worte sagte er mehrmals, bevor er, diesmal verständlich, rief: "Mögen die Erleuchteten über das Angesicht dieser Welt wandeln!" Dann ließ er den nun fast blendenden Monolith los und dieser glitt die Wasserröhre hinab, nahm dabei das Leuchten mit.
 

HurriMcDurr

Well-Known Member
Der Assistent des Professors war von der Szenerie genauso gebannt gewesen wie wir alle, deshalb konnte Baterau zwischenzeitlich unbemerkt an einen langen Bootshaken gelangen, den er nun als Wurfspeer verwendete und damit den Deutschen harpunierte. Dieser ließ die Waffe fallen und brach mit einem ekelhaften Gurgeln zusammen. Im selben Moment schloss sich der Strudel und das Meer wurde plötzlich unruhig. Meterhohe Gischten spritzten empor und hüllten den noch immer auf der Reling balancierenden Professor ein. Ich kann letztendlich nicht sagen was genau mit ihm geschehen war, doch als sich das Wasser wieder herniedersenkte war Synström verschwunden. Ich vermute ihn ereilte das gleiche schreckliche Schicksal wie Seemann Edwards ein paar Sekunden später, denn dieser hatte sich nicht rechtzeitig in die Mitte des Decks zurückgezogen und wurde von etwas gepackt, das aus dem Wasser geschnellt und auf das Schiff gekrochen war. Es war lang und schwarz, versprühte einen beißenden Gestank und hatte Ähnlichkeit mit dem Fangarm eines Oktopus, mit dem Unterschied, dass hieran keine Saugnäpfe zu sehen waren. Dafür feine Äderchen, die eine biolumineszente oder phosphoreszente Flüssigkeit führten. Es strahlte das gleiche Leuchten aus wie der versenkte Monolith. Mit einem Ruck wurde Edwards ins Wasser gerissen und verschwand in den Gischten. Ein weiterer Fangarm, noch größer als der erste, schoss aus den Fluten und packte den Großmast. Er spannte sich kurz und knickte den Mast um, als wäre es ein Streichholz.

Unlängst war Panik ausgebrochen, um mich herum verschwanden die Mannschaftsmitglieder und ich danke Gott, dass ich so geistesgegenwärtig war und mich nur flach über den Boden hinweg bewegte. Ich krabbelte auf allen Vieren zur Leiche des Assistenten und griff nach dem Gewehr darunter. Es war keine Zeit für Ekel oder Pietät, denn keine zwei Meter neben mir wurde Baterau von einem der glühenden Tentakel gepackt. Ich zielte und schoss beide Schrotladungen darauf ab. Das Ende des Fangarms fiel leblos vom Stumpf, welcher unter konvulsivischen Zuckungen davonglitt und dabei dickflüssiges, psychedelisch leuchtenes Blut spie. Kurz darauf meinte ich ein tiefes, vibrierendes Brüllen zu vernehmen. Mit einem Mal brach die Wasseroberfläche auf. Ein gigantischer, schalen- und schuppenbewährter Buckel rammte den Bug des Schiffes und brachte noch mehr von dem ekelerregenden Geruch mit. Das riesige Etwas richtete sich ein wenig auf und ich glaubte meinen Verstand zu verlieren, als mich plötzlich ein Auge anglotzte, das die Ausmaße eines Wagenrades besaß. Auch hatte es nicht bloß eine, sondern gleich fünf Pupillen in wirrer Anordnung.
Während ich noch völlig starr vor Furcht war, hatte sich der große Franzose bereits wieder gefasst und schleuderte den noch blutigen Bootshaken ein weiteres Mal. Mit einem widerwärtigen Geräusch drang er in das große Auge ein und das monströse Lid schloss sich darum. Ein Beben erfasste die Seamaid, als der Koloss erneut brüllte. Planken barsten, als sich ein wahrer Wald riesiger, glühender Fangarme um die Mitte des Schiffes wickelte und fest zudrückte. Die kräftige Hand Bateraus packte mich am Revers und zog mich zu dem Rettungsboot, welches Kapitän Masterson und Seemann Pinkett gerade zu Wasser gelassen hatten, dann jedoch im Meer verschwunden waren. Das alles geschah keine Sekunde zu früh, denn kaum stießen wir die Ruder ins Wasser, brach die Seamaid entzwei. Noch immer schlangen sich Tentakel um ihre Überreste, obschon bereits jetzt nicht eine Planke mehr offen lag. Blubbernd versank das einst so stolze Segelschiff im glühenden Gewässer. Wir legten uns weiter in die Riemen, bis das unirdische Glühen endlich im Nebel verschwand. Kein Geräusch. Kein Schreien. Niemand wahr mehr am leben.

Plötzlich zuckten Blitze über den Himmel und starker Regen vertrieb den Nebel. In diesem Moment erkannte das ganze Ausmaß meines Fehlverhaltens gegenüber dem jungen Manny, denn ich sah, dass etliche weitere biolumineszente Höllenhunde aus den abyssalen Schlunden des Atlantik empor kamen. Sie stoben in alle Himmelsrichtungen davon und schlugen dabei turmhohe Wellen, die unsere Schaluppe fast zum kentern brachten. Ich sah tausende gigantische Wesen, davon eines größer als das andere und alle noch riesenhafter als jenes, welches die Seamaid in die Tiefe gezogen hatte. Sie brachten die See bis zum Horizont zum leuchten. Dann umfing mich endlich die gnädige Bewusstlosigkeit und mein letzter klarer Gedanke galt der verzweifelten Hoffnung, dass ich bloß einer Sinnestäuschung erlegen war.

An die folgenden, überraschend wenigen Tage des Wartens kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern. Ich weiß noch, daß uns bald schon die Mannschaft eines Fischerbootes aus Neuengland barg. Die Männer waren von mürrischer, verschwiegener Natur und hatten zudem etwas höchst Eigenartiges an sich. Sie besaßen alle ein sehr abstoßendes Erscheinungsbild, mit einem plumpen watschelnden Gang, aufgequollenen Gesichtszügen und starren Glubschaugen, welche niemals blinzelten. Trotzalledem schienen sie alle exzellente Seemänner zu sein, so virtuos wie sie ihren heruntergekommenen Kahn im unnatürlich plötzlich aufkommenden Wind zur Heimatküste jagten. Schon nach sechs Tagen erreichten wir den Hafen von Boston im Staate Massachusetts. Dort brachte uns die Mannschaft kurz vor Mitternacht von Bord. Ihr namenloser Segler wurde nie wieder gesehen.
Zwei Monate lang gab sich Baterau dem Suff hin, um sich anschließend eine Kugel durch den Kopf zu jagen. In seinem an mich adressierten Abschiedsbrief schrieb er noch, er könne nicht mehr länger mit dem Wissen leben, die Welt an den Rand des Abgrundes getrieben zu haben. Ich selbst wäre im Irrenhaus gelandet, hätte ich jemandem von den prophetischen Träumen erzählt, welche mich fortan jede Nacht heimsuchen. Es sind Visionen von einer Invasion aus dem Meer, von leuchtenden Monstrositäten, welche jedes Hochhaus überragen und diese mit Leichtigkeit dem Erdboden gleich machen. Sie führen eine Armee nackter Missgeburten an, Mischwesen aus Fisch, Frosch und Mensch, die mit den Leuchtenden aus den Weltmeeren steigen und ihnen dabei zur Hand gehen, die Menschheit erst zu versklaven und dann auszurotten, bis kein Haus, keine Knochen, keine Bilder, keine Schriften oder Gedanken mehr von ihrer einstigen Existenz Zeugnis trägt.
 

Sittich

Well-Known Member
Lovecraft.

Love craftlove. Craft lovecraft lo Ve craftlo vecraft. :wink: Love, craft lovec raft, Lovecraft lov ecraft.

Lovecraft: love Craft :top:
 

Clive77

Serial Watcher
Ich fand die Geschichte auch ziemlich gut. Einziger Kritikpunkt wäre, dass es eben im späten 19. Jahrhundert spielt und daher keinen Schauer den Rücken runter laufen lässt. Und eben, dass es sich thematisch bei Lovecraft bedient.

Witzigerweise wäre meine Geschichte (die ich hoffentlich später noch posten werde, hoffentlich nächstes Wochenende und selbstverständlich außer Konkurrenz) recht ähnlich abgelaufen, grob gesehen. Lovecraft war schon ein genialer Autor und geht heute noch unter die Haut. Aber diese Geschichte steht bei mir nach erster Lesung aller Geschichten schonmal vorne mit dabei. :top:
 

Mrs. Rotwang

New Member
Ja. Lovecraft. Mehr als eindeutig und kaum verschweigbar Lovecraft. Und weil sich hier sicherlich niemand mit dem Original messen will (das kann sicherlich keiner hier, nichtmal der Endgegner Tyler, wie ich ihn fortan nur noch nennen werde), werte ich die Geschichte als Fan-Story. Als solche ist sie exzellent (wirklich guter Stil und eine wunderschöne Orthographie), aber sie bleibt eine Fan-Story. Für mich fällt sie damit leider irgendwie aus dem Wettbewerb. Immerhin wurden hier Stil, Motive, Sujets und Grundgedanken, sowie andere Kleinigkeiten, wie Namensgebungen, etc. also die größtenteilige Idee des Ganzen von einem anderen Autor übernommen. Damit wirst du leider für mich aus der Wertung rausfallen. Das tut mir Leid, aber ich hoffe du kannst dieses Argument nachvollziehen...

Zuletzt:
Wenn du sagst
Es sind Visionen von einer Invasion aus dem Meer, von leuchtenden Monstrositäten, welche jedes Hochhaus überragen und diese mit Leichtigkeit dem Erdboden gleich machen.
dann frage ich mich obs Ende des 19. Jahrhunderts schon Hochhäuser gab und ob der Vergleich nicht hinkt, weil du von der Höhe sicherlich auf moderne Hochhäuser hinaus willst, die der Erzähler trotz seiner Visionen nicht kennen dürfte. Minikleiner Losikfehler also wahrscheinlich. Da hatte Lovecraft den Vorteil, dass er in seiner zeitlichen Umgebung geschrieben hat.
Mein neues Lieblingswort ist dank dir jetzt übrigens 'Schaluppe' und bei dem Satz
weißes Gewand gehüllt, welches seine mit obskuren Tätowierungen und schrecklichen Narben übersähte Brust zur Schau stellte.
musste ich lachen und an diesen unsäglichen Trailer zu einer Lovecraftverfilmung denken (Minute 1:20).

@Hurri: Super!
 

Sittich

Well-Known Member
Hurri, dir ist bewusst, dass du jetzt der Fairness halber zu jeder Geschichte eine Illustration anfertigen musst? :biggrin:
 

Deathrider

The Dude
Da Lovecraft sich selbst an Kollegen und Neulingen gleichermaßen wandt und alle dazu aufforderte seine Mythologie zu erweitern und fortzusetzen und auch sonst bereits FanFiction in den BG-Schreibwettbewerben eingereicht wurden (ich kann mich mindestens an was von "Star Trek" und auch an was von "Alien" erinnern), sehe ich das anders als Mrs. Rotwang und werde die Story mit in die Wertung nehmen. Erstens weil gut und zweitens weil ich generell keine Story aus der Wertung nehme, weil da ja schließlich Arbeit hinter verbirgt und drittens weil es mich freut, dass hier offensichtlich noch andere meinen H.P.L. Enthusiasmus teilen. :squint:

Stilistisch und inhaltlich ist das ziemlich authentisch, auch wenn sich Lovecraft selbst in oft noch sehr viel ausschweifenderen Schilderungen verstiegen hätte. Auch das hier liest sich wie eine Adjektiv-Orgie, aber trotzdem bleibt vieles noch sehr oberflächlich. Z.B. sind die vielen Figuren recht Stereotyp. Die hätten gerne noch mehr Charakter bekommen können. Interessant wäre auch noch Ein Rahmen für diese Erzählung gewesen, aber es gibt ja schließlich auch noch eine Zeichengrenze. Bei der Story die ich zuerst las, wäre mehr mehr gewesen. Hier ist es andersrum. Gerade wenn man ein solches Format wählt, verhebt man sich gerne mal.
Ansonsten ist die Sache spannend, auch wenn sie einem wohlbekannten Schema folgt. Die große Überraschung bleibt zwar aus, braucht's aber auch nicht so wirklich. Ist halt durch und durch klassisch. Erinnert an "Ruf des Cthulhu", ohne das Ding schlicht zu kopieren.

Das mit den Hochhäusern ist tatsächlich ein Fehler. Da muss man rügen! :thumbdown:

Ansonsten hat's mir gefallen. Kommt in die nähere Auswahl.

@ Hurri: Sehr geil. :squint:
 

Tyler Durden

Weltraumaffe
Teammitglied
Eine schöne Fan-Fiction-Geschichte (oder Lovecraft-Hommage), die gut geschrieben ist und Spaß macht. Finde zwar auch, dass sie nicht eigenständig ist und viel von einem anderen Autor übernimmt, aber ich werde ihr wohl trotzdem einen Punkt geben.

Das mit den Hochhäusern sehe ich nicht unbedingt als Fehler. Es gab damals schon Hochhäuser und wenn er wirklich eine Zukunftsvision hat, dann können (müssen sogar) dort auch Dinge vorkommen, die er nicht kennt. Theoretisch könnte er auch Hubschrauber in seinen Visionen sehen, wenn der Aufstieg der Monster in unsere Zeit fällt.
 

Sittich

Well-Known Member
Verzeihung, ich sehe gerade, dass ich in meiner ersten Kritik nur Unsinn geschrieben habe.

Aber viel mehr gibt es dazu auch nicht zu sagen. Nur so viel: Ich hatte während des ersten Lesens den Eindruck, die Geschichte bereits gelesen zu haben. Das kann man jetzt auf zweierlei Arten bewerten: 1.) Die Geschichte ist eine simple Nachahmung bewährter Mechanismen, die beinahe von alleine ihre Wirkung entfalten und von Seiten des Autors nicht viel verlangen oder 2.) Der Autor versteht sich gut darin, die typische Schreibweise seiner offensichtlichen Vorbilder einzufangen und schafft es damit, die gleiche Stimmung wie bei der Lektüre der Schriften ebendieser hervorzurufen, ohne sich dabei auf's simple Kopieren zu beschränken.

Ich bin für mich schließlich zu der letzteren Meinung gekommen. Das Schema mag zwar bewährt sein, aber dennoch erfordert es einiges an Können und Stilempfinden, dieses auf authentische Art umzusetzen. Das ist hier gelungen.

Es fehlen hier und da Kommas und es gibt ein paar wenige Fehlerchen, die sind aber verschmerzbar. Mein persönlicher Satz, der irgendwie nicht hinhaut, ist in dieser Geschichte der folgende:

HurriMcDurr schrieb:
In ihren Häuserschluchten schwammen lediglich diffus wahrnehmbare Kreaturen und fraßen sich durch Massen umhertreibender Wasserleichen
Zum Schluss sei noch kurz angemerkt, dass mir beim Auftauchen des "Manny"s kurz der Gedanke kam, dass hier tatsächlich mal Forumsmitglieder in einer Geschichte verarbeitet wurden. Für einen Moment sah ich dies auch durch Eugene J. Masterson und Jean Baterau (wie in Joel Barish) bestätigt, aber bei den restlichen Namen geriet die Therorie ins Schwanken. :rolleyes: :squint:
 

MamoChan

Well-Known Member
Das Bild ist ja wohl richtig geil. :smile:

Die Geschichte selbst ist toll, großartig geschrieben, wirklich sehr gut formuliert, die Atmosphäre ist dicht, die Monster hervorragend eingebaut, im Grunde würde ich sagen, das ist der SIeger dieser Runde. Aber schon bei den ersten Zeilen ahnte ich, dass es eine Lovecraft Geschichte sei, allerspätestens als er auf dem Schiff angeheuert hatte, wusste ich auch wie die Geschichte ausgeht. Genau dieselbe Geschichte gab es schon in viel zu vielen Variationen, und wie Mrs. Rotwang sehe auch ich diese Geschichte nur als Fanfiction an, die einfach nur die bekannten Lovecraft-Elemente unter anderem Namen neu zusammenlegt.
 

Deathrider

The Dude
Sooo, dann will ich jetzt auch mal nach meinem krass undercovermäßigen Ninja-Kommentar zur eigenen Story nochmal einen richtigen Kommentar abgeben.

Hatte einige Probleme mit dem Beitrag, daher bin ich ziemich überrascht, dass die Story so gut ankam. Mein erster Entwurf hatte gewaltige Logikfehler und Konstruiertheiten, die ich irgendwie rauswerfen musste. Irgendwie hatte ich mir zudem anfangs zu viel vorgenommen, sodass ich niemals innerhalb des Zeichenlimits bleiben konnte. Beim Kürzen verlor die Geschichte den erzählerischen Rahmen, der den Protagonisten nochmal stärker beleuchtet hätte. Auch sollten die Erleuchteten mehr sein als ein Shogothenabklatsch. Synström war eigentlich so angelegt, dass er sich als Retter der Menschheit verstand und eine unterseeische Macht heraufbeschwören wollte, um sie den Kampf gegen Cthulhu und seine Schergen ausfechten zu lassen, was natürlich nicht aufgeht, zumindest nicht ohne die Menschheit als Kollateralschaden. Er sollte sich dabei noch auf archeologische Funde beziehen und so weiter. Das hätte die Geschichte zwar konkreter im Cthulhu-Mythos verortet und ihr damit eine gewisse Daseinsberechtigung verschafft, aber es wäre alles viel zu viel geworden. Auch die Innsmouth-Fischer hatten ursprünglich mehr zu tun. Jetzt wirken sie nur noch wie eine weitere zusammenhangslose Remineszenz.

Einige haben die fehlende Eigenständigkeit negativ angesprochen. So im Nachhinein muss ich den Kritikpunkt teilen. Trotzdem hat es viel Spaß gemacht die Geschichte zu schreiben. Ich wollte einfach etwas Klassisches zum Thema Monster absondern und was gibt's denn klassischeres als Seeungeheuer? Und da ich den HPL-Stil sehr ansprechend finde, lag diese Kombination sehr nahe.

Das mit den Hochhäusern (ich hatte tatsächlich Wolkenkratzer vor dem geistigen Auge) war übrigens ein Überbleibsel aus einer vorherigen Fassung, die den Zeitpunkt des Erzählens noch im Jahre 1933 hatte.


An dieser Stelle auch nochmal danke für die Stimmen und die konstruktive Kritik. :squint:
 

Deathrider

The Dude
Ich habe auf jeden Fall vor die Urfassung zu rekonstruieren (manches ist bereits als volltext da, vieles aber nur als Notiz). Ohne die Zeichengrenze steht mir da ja nix im Wege (außer die Zeit).
 
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