HurriMcDurr
Well-Known Member
Yrrthol – Die Erleuchteten
Dies sind keine irren Fantastereien. Es wird irgendwann der Tag kommen, an dem die Menschheit Auge in Auge mit dem unfassbaren Schrecken steht, von welchem ich nun berichten werde. Wie gern würde ich behaupten können, ich lieferte kein Glied in der seltsamen und obskuren Ereigniskette, welche langsam aber sicher die finsterste aller Bedrohungen aus den Nebeln längst vergessener Zeiten schleppen wird. Doch im Gegenteil: Ich half noch bei der Meuterei gegen meine eigene Spezies.
Ich war ein junger Mann von zwanzig Jahren als ich im Frühjahr 1896 auf der Seamaid anheuerte, um den allzu autoritären Fängen meines verhassten londoner Elternhauses zu entkommen. Bis dahin hatte ich die beste Bildung genossen, doch ging dies sehr zulasten jeglicher Freiheit und Privatsphäre. Mein Leben war bis dahin zur Gänze der Familie, dem Studium und dieser ekelhaften Studentenverbindung gewidmet. Niemand fragte nach meinen Wünschen und nach den Gründen für meine gelegentlichen Rebellionen. Eben diesem Mangel an Wertschätzung war letztendlich geschuldet, dass ich meinem Freiheitsdrang nachgeben musste. Und was wäre dafür besser geeignet als eine reinwaschende Seereise und ein neues Leben unter neuem Namen in einer neuen Heimat?
Die Seamaid, ein betagter Frachtsegler, sollte nach mehrwöchiger Überfahrt in New York anlegen. Ihr Kapitän hieß Eugene J. Masterson und war ein erfahrener Seemann. Obschon er einen eher gedrungenen Körperbau hatte, wurde er von allen geachtet. Dies war nicht zuletzt seinem eisernen, jedoch stets fairen Führungsstil geschuldet. Die zwölfköpfige Mannschaft unter ihm war, mit zwei Ausnahmen, walisischer Herkunft. Ein für meine Erzählung zentrales Mitglied war ein milchgesichtiger, aber sehr geschickter Junge namens Mahoghany, der jedoch von allen stets "Manny" gerufen wurde. Dann war da noch die zweite nicht-walisische Ausnahme, neben mir als Engländer, nämlich ein Franzose namens Jean Baterau. Seiner Herkunft zum Trotz wurde er vom Rest der Mannschaft mehr als respektiert, was er weniger seinem fließendem Englisch als seiner Vergangenheit als Harpunier und seiner beeindruckenden Statur verdankte.
Meine Zeit an Bord der Seamaid war hart aber bereichernd. Den körperlichen Anforderungen war ich durchaus gewachsen und es machte mir auch nichts aus See, Wind und Wetter in derart hohem Maße ausgesetzt zu sein. Anfangs hatten die anderen Ihre Vorbehalte mir gegenüber. Vor allem Baterau ließ keine Gelegenheit aus, mich zu schikanieren. Respekt verschaffte ich mir erst, als der Franzose handgreiflich wurde. Ich verstehe mich ein wenig auf Techniken fernöstlicher Kampfkunst, so schaffte ich es tatsächlich, den Hünen nach einem kurzen Faustkampf mit zweifach gebrochener Nase auf die Planken zu befördern. Schnell hatte er sich wieder aufgerappelt und zeigte sich von seinen Blessuren wenig beeindruckt, dafür aber umso mehr von meiner Standhaftigkeit. Unvermittelt grinste er breit und ab diesem Zeitpunkt verband uns eine Art ruppige Kameradschaft. Fortan wurde ich auch von den anderen akzeptiert.
Nach einem Umweg über Gibraltar nahm unser Kapitän, im Austausch gegen eine stattliche Menge Bargeld noch zwei Passagiere an Bord: Der eine war Harald Synström, ein berühmter norwegischer Professor für Archeologie und Antropologie, von dem selbst ich bereits während meines Studiums gehört hatte, was ich jedoch für mich behielt. Er war ein mürrischer, verschlossener, alter Kauz, der sich ausschließlich in seiner Kajüte oder im Frachtraum aufhielt. Der andere Passagier war der Assistent des Professors, ein deutscher Student namens Erich Brüggenthal. Dieser zeigte sich umtriebiger und gesprächiger, auch wenn man den Eindruck hatte, dass er viel reden konnte ohne auch nur eine einzige konkrete Aussage zu treffen. Die beiden brachten Frachtgut in Form einer einzelnen Holzkiste mit an Bord. Diese war nicht größer als vierzig mal vierzig mal siebzig Zentimeter und es war uns untersagt sie zu öffnen, was Teil eines dreiundfünzig Seiten starken Vertrages war, den Masterson noch am Hafen unterschrieb. Darin war auch die exakte Route festgelegt, die die Seamaid nach New York nehmen sollte. Wäre dieser Vertrag nicht derart lukrativ gewesen, so war ich mir sicher, hätten ihn diese Vorschriften zur Ablehnung des Abkommens bewogen.
Unmittelbar nachdem wir wieder ablegten, wurde ich Zeuge von äußerst verstörenden Ereignissen. Zunächst begann es mit Alpträumen, die einige von uns plagten. Es waren Visionen von versunkenen Städten. In ihren Häuserschluchten schwammen lediglich diffus wahrnehmbare Kreaturen und fraßen sich durch Massen umhertreibender Wasserleichen. Jene von uns, die gewillt waren darüber zu sprechen, stellten dabei merkwürdig exakte Übereinstimmungen fest. Oftmals konnten wir die Schilderungen des jeweils anderen vervollständigen. Mit geringen Variationen teilten wir auch in den Folgenächten den selben Traum. Seemann Pinkett brach an einem Mittwochnachmittag während eines Gesprächs an Deck zusammen. Wir brachten ihn in seine Koje, wo er von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde. Kaum hatte er sich beruhigt, sprang er auf und ritzte mit einem Messer das Abbild eines einzelnen Auges in die Bordwand. Doch war es keinesfalls ein menschliches Auge, denn es hatte fünf Pupillen. Nach der Fertigstellung dieser Schnitzerei brach er erneut zusammen und fiel in ein seltsames Fieber, von dem er sich ebenso schnell wieder erholte wie es ihn ereilt hatte. Er erwachte ohne jede Erinnerung an diese verwirrende Episode.
Für große Verwirrung sorgten auch diverse optische, wie auch akustische Halluzinationen, denen einige von uns erlegen waren. Immer wieder meinten Mitglieder der Mannschaft, fremde Gestalten in ihren Blickwinkeln zu sehen, oder gerade dann leises Stimmengemurmel zu hören, wenn sich nachweislich niemand in der Nähe befand. Versuchte man genauer hinzuhören was die Stimmen sagten, entglitt einem in aller Regel das Gesagte zusehends und sich drängte der Verdacht auf, einer fremden Sprache zuzuhören.
Auch wenn das bisherige alles andere als angenehm war, so sorgten die Vorfälle in welche Manny verwickelt war für wesentlich größeres Aufsehen. So wurde ich eines Nachts Zeuge, wie der Junge völlig aufgelöst die Kajüte stürmte und Baterau zu überzeugen versuchte ihm in den Frachtraum zu folgen. Da sich der Franzose weigerte und auf seinen Schlaf bestand, erklärte ich mich bereit ihn zu begleiten. Wir fanden den Frachtraum zwar abgeschlossen vor, doch konnten wir ein merkwürdiges pulsierendes Leuchten unter dem Türspalt hindurchkriechen sehen. Es war ein Leuchten von unbestimmbarer Farbe, welches intensiv genug war, den ganzen Vorraum und die Tür zur Passagierkajüte gleich mit zu beleuchten. Der Lichtschein irisierte und war je nach Blickwinkel entweder eher Purpur oder ging in ein komplementäres, giftiges Grün über. Diese flackernde Unbestimmbarkeit verwirrte das Auge und bereitete bereits nach kurzer Zeit heftige Kopfschmerzen. Unsere Versuche die Tür zu öffnen, um die Herkunft dieses Leuchtens offenzulegen scheiterten an dem überdimensionierten Vorhängeschloss, welches Kapitän Masterson auf Wunsch der beiden Passagiere hatte anbringen lassen. So beschlossen wir – Manny dabei nur sehr widerstrebend – die Nachtruhe fortzusetzen.