HurriMcDurr
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Das Gedankenexperiment
Stefan machte sich bereit für sein lang ersehntes Experiment. Jahrelang hatte er ausgetüftelt, wie er es am sichersten durchführen konnte und dabei versucht, alle Eventualitäten zu berücksichtigen. Zeitreisen waren kompliziert, das war ein Fakt. Es wäre ihm sehr leicht gewesen, eine Reise in die Zukunft durchzuführen. Prinzipiell vollzogen tausende von Leuten tagtäglich eine kleine Zeitreise in die Zukunft, ohne dass sie es merkten. Zeit ist relativ und bereits ein Höhenunterschied von 10 Km zur Erdoberfläche lässt z.B. den Reisenden in einem Flugzeug einen kleinen Trip in die Zukunft machen - allerdings so minimal, dass er es nicht merkt. Würde man hingegen mit einem Raumschiff in ferne Welten aufbrechen, noch dazu mit sehr hoher Geschwindigkeit, könnten bei der Rückkehr Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte vergangen sein, obwohl die eigene Flugzeit nur Jahre beträgt. Das war ein Grund, weshalb Stefan nur wenig mit Science Fiction Filmen anfangen konnte, die sich mit Reisen zu fernen Planeten beschäftigten: Sie alle berücksichtigten die Zeitdilatation nicht, obwohl es sich geradezu anbieten würde, Themen wie das Zwillingsparadoxon aufzugreifen.
Aber Stefan ging es nicht um eine Reise in die Zukunft. Er wollte in die Vergangenheit reisen, seine eigene Zeitlinie verändern. Dabei gab es aber verschiedene Probleme: Alle theoretischen Ansätze, die eine solche Reise möglich machten, entzogen sich einer praktischen Lösung. Am plausibelsten wäre die Nutzung eines Wurmlochs in die Vergangenheit möglich, aber abgesehen vom energetischen Aufwand wäre die Nutzung (selbst falls es überhaupt möglich wäre, so eine Singularität berechenbar zu erzeugen) mit ungeahnten Konsequenzen verbunden. Stefan war im Laufe seiner Forschungen mehr und mehr überzeugt davon, dass es physikalisch schlicht unmöglich ist, Materie von der Gegenwart in die Vergangenheit zu befördern. Was sich Astronomen jede Nacht ansahen, war die Vergangenheit von fernen Sternen. Das Licht der Himmelskörper, was auf der Erde ankam, war je nach Entfernung uralt und die Schranke, die es zu durchbrechen galt, war die Lichtgeschwindigkeit der im Ruhezustand masselosen Photonen. Körper, die sich schneller bewegten, hätten im Ruhezustand eine imaginäre Masse (das Quadrat ihrer Masse wäre negativ), weshalb die Lichtgeschwindigkeit eine ernsthafte Hürde für alle Teilchen darstellte - jedenfalls, wenn man Singularitäten außen vor ließ.
Die Lösung für diese Probleme und eine Reise in die Vergangenheit, kam Stefan eines Abends in einem Geistesblitz: Wenn er in seine eigene Vergangenheit reisen wollte, musste er lediglich sein Bewusstsein auf diese Reise schicken. Das menschliche Gehirn, wo sich das Bewusstsein aller Menschen befand, nutzt elektrische Signale im neuronalen Netz. Mittels eines EEGs lassen sich diese Signale messen. Wenn es Stefan möglich wäre, sein neuronales Netz ähnlich eines Radiosignals in die eigene Vergangenheit zu schicken, könnte er mit seinem heutigen Wissen in seinen zwanzig Jahre alten Körper zurück kehren. Der Gedanke war verlockend. Zwar würde die feste Struktur seines Gehirns nicht deckungsgleich mit der heutigen sein, aber Stefan war überzeugt davon, dass sich sein jüngeres Gehirn anpassen würde. Seine eigene Zeitmaschine bestand aus einem Sender, der sein Bewusstsein seinem Körper im Hier und Jetzt entnehmen und mit Überlichtgeschwindigkeit in die eigene Vergangenheit schicken würde. Wenn seine Theorie stimmte, brauchte er dafür nicht einmal genau wissen, wo er sich in der Vergangenheit aufgehalten hatte. Ein ungefähreres Areal reichte und die Signale würden ihren Zielpunkt in der Vergangenheit finden. Die technische Lösung für die Reise hatte einiges an Zeit in Anspruch genommen und stellte ihn ebenfalls vor große Herausforderungen. Vor allem den halbwegs genauen Zeitpunkt zu bestimmen, in dem sein Bewusstsein in der Vergangenheit ankommen würde, war nicht einfach. Er wollte schließlich nicht riskieren, in die Zeit vor seiner Geburt geschickt zu werden (denn dann bestand die Gefahr, dass sein Bewusstsein ohne Empfänger einfach verpuffen würde) und die Berechnungen gestalteten sich als äußerst schwierig. Aber er hatte die Lösung. Vielleicht nicht auf das Jahr genau, aber gut genug, um in den eigenen zwanziger Jahren anzukommen - zur Zeit seines Studiums, wo er sich stets in der gleichen Stadt aufhielt.
Bevor er das Experiment in Angriff nahm, gingen ihm verschiedene Gefahren durch den Kopf. Vor allem das bekannte Großvater-Paradoxon kam ihm in den Sinn. Allerdings waren die meisten Paradoxa zu Zeitreisen an die Überlegung angelehnt, dass Zeit eine lineare Größe ist. Das menschliche Gehirn dachte nun einmal gerne in linearen Abläufen - erst die Ursache, dann die Wirkung, niemals umgekehrt - aber Stefan glaubte nicht an die Zeit als lineare Größe. Sollte man wirklich in der Vergangenheit auf den eigenen Großvater treffen und ihn umbringen, bevor er einen Nachkommen gezeugt hat, würde sich das nicht auf die eigene Zukunft auswirken. Das Paradoxon würde durch die nicht-lineare Gestalt der Zeit aufgehoben werden. Oder besser und auf „quantenmechanisch“ gesagt: Die Viele-Welten-Interpretation bot eine plausible Lösung für derartige Probleme. Demnach können mehrere unterschiedliche Zustände gleichzeitig existieren, was sich im Gedankenexperiment von Schrödingers Katze hervorragend ausdrücken ließ. Stefan glaubte jedenfalls daran, dass diese Interpretation sich auch auf die Zeit und Zeitreisen anwenden ließ und ging deshalb davon aus, dass er in einer parallelen Vergangenheit landen würde, die er gefahrlos nach seinen Wünschen formen konnte.
Er könnte sein jetziges Wissen mit in die Vergangenheit nehmen und dort erweitern, seinen Werdegang als Wissenschaftler verbessern und später, wenn er wieder alt geworden war, auf eine neue Reise gehen und so weiter. Er könnte ewig existieren.
Für den Fall, dass etwas schief ging, hatte er seinen alten Freund und Kollegen Jochen dabei. Jochen würde im Jetzt seinen medizinischen Zustand überwachen und das Experiment abbrechen, sobald es unvorhergesehene Fehler mit der Zeitmaschine gab. Sicher war sicher. Stefan war zwar überzeugt davon, dass er nichts übersehen hatte - schließlich hatte er alle Systeme doppelt und dreifach überprüft und auch die Berechnungen mehrfach kontrolliert - aber trotzdem wollte er auf eine Fehlfunktion vorbereitet sein.
Dann war es soweit. Stefan wurde an die Maschine angeschlossen und gab Jochen das Signal, den Schalter umzulegen, der die Maschine aktivierte. Ein tiefes lautes Brummen manifestierte sich in Stefans Kopf, was langsam in höhere Tonlagen wechselte und schließlich zu einem schrillen Schreien wurde. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor das Bewusstsein.
30 Jahre vorher: Stefan schlug die Augen auf. Das Summen in seinem Kopf wurde vom Brummen seines alten Weckers abgelöst. Er stieß ihn vom Nachttisch und stand schließlich fluchend auf, weil das Ding auch am Boden weiter seinen brummenden Alarm ausstieß. Stefan erinnerte sich an diesen Tag und erlebte mit, wie sein jüngeres Ich den Wecker auflas, den Alarm ausschaltete und schließlich wieder auf dem Nachttisch platzierte. Es war Zeit, sich für die Uni fertig zu machen. Aber halt, das war doch überhaupt nicht mehr nötig. Er wusste bereits, was in den Vorlesungen drankommen würde. Er kannte bereits die Aufgaben, die ihm am Semesterende in den Klausuren bevor standen. Er könnte heute einfach sein gelungenes Experiment genießen und sich eine verdiente Auszeit nehmen.
Aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Alle Abläufe, die sein jüngeres Ich damals vollzogen hatte, wiederholten sich Schritt für Schritt. Er ging in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und erleichterte sich anschließend im Bad. Zurück in der Küche, schaufelte sich Stefan lustlos sein Müsli rein, trank dabei einen Kaffee und ging anschließend wieder ins Bad, wo er sich wusch und die Zähne putzte. Stefan strengte sich an, diese Abläufe zu verändern. Er konnte dabei die Gedanken seines jüngeren Ichs wahrnehmen, aber die eigene Stimme (gedanklich oder physisch) blieb ihm verwehrt. Den ganzen Tag lang versuchte er, diesen Tag aus seiner Vergangenheit abzuändern - aber ohne Erfolg. Vielleicht brauchte es etwas Zeit, bis sein jüngeres Gehirn sein altes Bewusstsein akzeptiert hatte und Veränderungen zuließ?
Nein. Erst vergingen Tage, dann Wochen, dann Monate, schließlich Jahre. Stefan war zwar in seinen jüngeren Körper zurück, aber Veränderungen waren nicht möglich. Sollte er sich geirrt haben? War die Zeit doch eine lineare Größe, die sich - einmal so abgespielt - nicht mehr verändern ließ? Diese Möglichkeit hatte er nicht berücksichtigt. Aber nun war sie logisch: Wenn sich die Vergangenheit zwar besuchen, aber nicht verändern ließ, konnten auch keine Paradoxa entstehen. Verdammt dazu, immer wieder die letzten 30 Jahre seines Lebens zu erleben, blieb Stefan nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu ergeben.
Epilog
Jochen starrte auf das EEG. Laut der Anzeige war Stefan hirntot. Stefan hatte ihm erklärt, dass diese Anzeige auf den Erfolg des Experiments hinweisen könnte. Aber er hatte auch gesagt, dass dieser Zustand aus Jochens Sicht nicht lange anhalten würde. Während Stefan seine letzten Jahrzehnte wiederholte, würde Jochen wahrscheinlich sogar gar nicht bemerken, dass Stefans Bewusstsein verschwindet. Er hatte erklärt, dass Jochen quasi augenblicklich veränderte Hirnströme beobachten würde - verändert durch eine neue Entwicklung von gut drei Jahrzehnten in Stefans Gehirn. Aber das EEG zeigte weiterhin den Hirntod an. Als die Rettungssanitäter ankamen, war es bereits zu spät. Ohne Bewusstsein hatte Stefans Körper alle lebensnotwendigen Funktionen wie Atmung und Herzschlag eingestellt.