HurriMcDurr
Well-Known Member
Das unsterbliche Remis
Zwei Männer.
Der Eine schien müde. Er hatte eingefallene Wangen, bezogen von alter pergamentartiger Haut. Mit seinen langen, dünnen Finger zog er sich immer wieder über seinen Handrücken, als ob er testen wolle, dass dieser noch existent war. Er fuhr in regelmäßigen Abständen vorchoreographierte Strecken auf dem Handrücken ab. Manchmal umkreiste er mehrmals einen Knöchel, manchmal knetete er gedankenversunken den Daumenballen. Es war als tanzten seine beiden Hände miteinander und wäre seine Haut nicht so filigran gewesen, das sie aussäh, als ob sie jeden Moment zu Staub zerfallen würde, hätte der Tanz sicherlich eine beruhigende Wirkung gehabt.
Seiner Filigranität stand seiner restlichen körperlichen Erscheinung konträr gegenüber. Er war groß, hager zwar, aber in sich ruhend, sodass sein Körper trotzdem eine gewisse Standhaftigkeit ausmachte. Daneben strahlte seine Gestik und Mimik, sein ganzes Wesen, eine wohlwollende Aura aus. Er hatte etwas Liebevolles, Weises und Zusprechendes.
Der Andere dagegen verkörperte eine gewisse Skepsis. Er schien schwer einzuschätzen, unruhig, vielleicht etwas hibbelig. Nervös zwinkerte er immer wieder mit den Augen, das Zwinkern war fester und entschlossener, als ein alltägliches Zwinkern. Er kniff die Augen regelrecht zusammen, immer wieder, als ob er sich versichern wolle, dass diese auch wirklich fest geschlossen seien. Dieses Ritual hatte wenig von dem Tanz der Hände des ersten Mannes. Es wirkte fahrig, unüberlegt und zwanghaft. Gestützt wurde dieser Eindruck von seiner geduckten Erscheinung, der blassen Haut und den restlichen Bewegungsmustern: ein Kratzen im Nacken und im Gesicht, danach ein Schnippen mit den Fingernägeln und wiederholt auch ein Rollen des Nackenwirbels, verbunden mit einem leicht krachenden Geräusch.
Vor den beiden Männern: ein Schachbrett.
"Beginnen Sie, mein lieber Leidensgenosse. Vielleicht haben wir so die Chance, nicht in einem Remis zu enden" begann der erste Mann und drehte das Schachspiel einmal um 180 Grad.
Der zweite Mann griff zum mittleren Bauern. Der weiße Bauer schien in seiner weißen Hand fast zu verschwinden. Der zweite Mann folgte dem Beispiel des ersten, beendete den Tanz seiner Hände und setze einen mittleren Bauern zwei Felder nach vorn. Wie die beiden Bauern jetzt sich so auf offenem Felde gegenüber standen, getrennt von einem einzigen weißen Quadrat, so schauten sich auch die beiden Männer das erste Mal in die Augen. Weiß zieht, schwarz zieht.
"Die 'Wiener Partie' also."
"Wieso nicht?"
"Ich schätze Wien nicht!"
"Weil sie nie aus London herausgekommen sind?" Wieder hält er eine weiße Figur in seiner Hand.
"Ich denke nicht, dass ich aus London heraustreten muss, um beurteilen zu können, was ich persönlich nicht schätze, mein lieber Doktor" Er umfährt seinen Knöchel.
"Achja? Vielleicht ist genau das ihr Problem, Doktor" seine Stimme nimmt einen scharfen Unterton an, während er die weiße Figur in seiner Hand betrachtet, sie schnell umschließt und nervös blinzelt. "Sie verbleiben immer nur in ihrer Welt, streben nach nichts Heherem. Das einzige, das sie in der Vergangenheit erreicht haben, war eine Auseinandersetzung mit ihnen selbst. Wissenschaftliche Betrachtung hin oder her." Langsam und präzise setzt er das elfenbeinfarbene Pferd auf ein weißes Feld. Die Perfektion dieser Bewegung ist beinahe chirurgischer Art und sorgt für einige Minuten der Stille in dem großen, leeren Raum.
"Lassen Sie uns diesen Punkt aufgreifen" sagt der Mann mit den schwarzen Figuren. Er ist leicht zurückgelehnt in seinem Sessel und schafft es mit einer einzigen Muskelbewegung um seine Mundpartie den Raum mit Güte zu erfüllen. "Es ist durchaus legitim von Ihnen oder anderen anzunehmen, dass meine Studien egozentrischer waren als andere. Ein Forschungsfeld, welches sowohl das Ziel, den Grund und das Experimentiergebiet bei einem selbst ansetzt wird wohl schnell diesen Vorwurf standhalten müssen. Es mag auch sein, dass das Ergebnis mir nachher gezeigt hat, dass die Wirkung vollkommen Ich-bezogen war, trotzdem verwehre ich mich dem Vorwurf, kein Ikarus der Wissenschaft zu sein. Wir alle sreben nach etwas Höherem, auch ich.
Hätten meine wissenschaftlichen Errungenschaften problemfreie Ergebnisse erzielt, so hätte ich die Möglichkeit gefunden, den Mensch zu seiner wahren Größe zu vereinen."
"Sie sprechen also immernoch von einem zwiegeteilten Charakter des Menschen?"
"Sie denn nicht? Überlegen Sie doch mal, was sie getan haben!"
"Ich habe einen neuen, besseren Menschen schaffen wollen!"
"Na und? Ich auch. Ich habe mich nur im Gegensatz zu Ihnen an den vorhanden Gütern bedient und versucht konkret am Objekt zu helfen, anstatt etwas Neues, Abgespaltenes zu erschaffen. Verstehen Sie denn nicht? Sie haben versucht Gott zu spielen und ich habe versucht Gottes Plan eine neue bessere Richtung zu geben. Sie haben sich maßlos überschätzt!" wie zur Kontrakarierung seiner letzten Aussage nimmt der Mann mit den schwarzen Händen seinen König und zieht ihn auf die Mitte des Feldes hinter die gegnerischen Reihen. Dieser Zug verfehlt nicht seine Wirkung, wieder hängt ein angestrengtes Schweigen über dem Raum.
Mit scharfen, wachen Augen schaut der Mann auf den anderen herab. "Außerdem, mein lieber Kollege, unterstelle ich Ihnen eine eigene Egozentrie ihrer Wissenschaft."
"Was für ein Unsinn." Seine Augen zucken in einem wilden Staccato.
"Achja? Ich stelle folgende These auf, der Sie gerne reinen Herzens wiedersprechen mögen: Sie sind krank. Ich rede nicht von ihrem Narzissmus und ihrer Hybris ein solches Werk zu beginnen, deren kann ich mich selbst nicht freisprechen. Nein. Ich spreche von ihrer Shizophrenie..."
Hektisch wendet der zwinkernde Mann seinen Kopf in Richtung des Bodens.
"Ist es nicht so, dass sie sich Wochen und Monate vor ihrem Experiment zurückgezogen haben, nicht mehr fähig soziale Kontakte aufzubauen? Nicht mehr fähig sich um ihren hygienischen Zustand zu kümmern? Nicht mehr fähig ein gesellschaftlich akzeptiertes Leben zu führen oder Gefühle für ihre engsten Freunde und Mitmenschen zu hegen? Und dann, als Ergebnis ihrer Studien, ist da ein neuer Mensch." Die Stimme des schwarzen Spielers wird lauter und lauter, drohender und grollender. Langsam verliert er den Charme, den er anfangs besaß. Auch seine Haltung verändert sich und seine Fragilität schwindet von Minute zu Minute. "Ist es nicht so, dass sie versucht haben ihre shizoiden Störungen in diesen neuen Menschen zu projektieren? Gehofft haben, dass sie die Paranoia, die schlechten Gefühle alle auf einen Schlag loswerden könnten? Dass die Erschaffung eines neuen Menschen sie über die Inperfektion ihrer selbst hinwegtäuscht? Ja? Ist es nicht so?"
Ein dumpfer Laut unterbrach das Kreuzverhör des Langen, jetzt Geduckten. Die Faust der blassen Gestalt lag geballt auf dem Tisch, auf den sie gerade geschlagen hatte.
"Ich lasse mir das nicht bieten. Jahrelang habe ich dafür gebüßt, was in jener Nacht geschah. Den 'modernen Prometheus' schimpfen sie mich und genau wie bei Prometheus pickte mir jeden Abend mein Gewissen große Stücke aus meiner Seele. Ich bin mir der Konsequenzen bewusst und ich bin nicht verlegen darum es zu gestehen, aber ich lasse mir das nicht von Ihnen bieten! Sie verlogener, kleiner Junkie! Sie sind es doch, der die psychische Störung hat! Fragen Sie doch mal Freud, was der zu ihrer Situation sagen würde! Ich denke er fänd es mehr als interessant zu hören, dass sie glauben ihrer 'schlechten' von ihrem 'guten' Wesen abspalten zu können, so ein Mumpitz. Wissen Sie, wo ihr Problem liegt? Sie kriegen ihren Mittelpunkt nicht. Sie haben eine Charakterstörung und sind schwach. Jeder Mensch hier muss mit seinen Sünden leben, aber nein, Sie brauen sich ein Mittelchen dagegen? Wahnsinnig komisch. Und mir unterstellen Sie ich komme mit meinem Alltag nicht klar? So eine bodenlose Selbstgefälligkeit. Was ist denn mit Ihnen los, verdammt!"
Wieder unterbrach ein lautes Poltern den Redefluss der Beiden. Die Tür wurde aufgestoßen, darin stand ein kleiner, untersetzter Mann. Er schreit:
"Es reicht mir jetzt! Ich habe euch beiden schon x-mal gesagt, dass ihr den Raum nicht bekommt, wenn ihr am Ende wieder rumkrakeelt! Es ist mir total egal, dass ihr euch für die Stunden eingetragen habt. Jedesmal wenn ich 'Dr. Jekyll und Dr. Frankenstein' auf der Liste sehe, kriege ich Pickel! Das nächste Mal vermiete ich nur noch an Rabbi Löw und seinen Golem, die halten wenigstens brav die Klappe. Das ist eure letzte Verwarnung, habt ihr mich verstanden?"