Vorweg ein paar generelle Bemerkungen, die deutlich machen sollen aus welcher Perspektive heraus ich Filme betrachte:
Ich bin ein Filmliebhaber und kein bloßer Konsument, der Filme einfach hintereinander "wegschaut" und sich danach keine weitere Gedanken mehr über sie macht. Mich interessiert das Kunstwerk und die Eigendynamik, die es zu entfalten vermag.
Es interessiert mich nicht das Geringste, was ökonomisch sinnvoll oder sinnlos ist. Es interessiert mich auch nicht, ob Szene X nur deswegen so umgesetzt wurde, weil der Produktion plötzlich das Geld ausging. Es interessiert mich ebenfalls nicht, ob Regisseur Y sein Ende auf eine bestimmte Weise verstanden wissen will.
Ich bin kein Intentionalist.
D. h. das nach meiner Auffassung der Regisseur, nachdem er sein Werk veröffentlichte, jegliche (!) Deutungshoheit über sein eigenes Werk verliert. Ab dem Punkt der Veröffentlichung steht sein Werk für sich selbst und entfaltet - wie bereits betont - eine Eigendynamik.
Was der Regisseur wollte, wie die Produktionsbedingungen waren und zu welche Konsequenzen diese u. U. führten ist aus filmhistorischer Sicht von großem Wert. Natürlich! Aber ich bin kein Filmhistoriker. Ich betrachte ein Werk nicht aus filmhistorischer und erst recht nicht aus einer ökonomischen Perspektive.
Ich überantworte mich einem Kunstwerk. Im besten Fall schafft es das Kunstwerk mich zu verführen und in seinen Bann zu ziehen, indem es mich mit neuen Fühl- oder Denkformen konfrontiert und/oder bereichert.
Kunst ist per definitionem etwas in das man Bedeutung hineinlegt. Aus diesem Grunde ist es auch völlig abwegig und an der Sache vorbei, wenn die in der heutigen Filmkultur öfter gebrauchte Floskel
„Dies ist doch völlig überinterpretiert“ als Totschlag“argument“ ins Feld geführt wird. Eine "Überinterpretation" gibt es nicht. Was freilich nicht heißt, dass alle Interpretationen gleichwertig sind. Solange sich eine Interpretation aber am Werk selbst belegen lässt, ist sie von Relevanz. Ob sie einem nun "komisch" vorkommt oder nicht.
MATRIX IV - sofern er denn kommen sollte - kann aus künstlerischen Gesichtspunkten ausschließlich mit den Wachowski-Schwestern realisiert werden. Warum dies so ist, will ich versuchen zu begründen:
MATRIX (und dies gilt freilich für die ganze Trilogie) ist eine der wenigen Großproduktionen in der Filmgeschichte, hinter der mehr als der für einen Filmliebhaber nur als abstoßend zu bezeichnende Anspruch steht, möglichst viel Geld zu erwirtschaften.
Nicht falsch verstehen: Ein solcher Anspruch ist nicht per se zu kritisieren. Er ist aber dann zu kritisieren, wenn dieser Anspruch entweder Vorrang vor allen anderen hat oder gar - im schlimmsten Falle - der einzige Anspruch hinter einem Werk ist.
Bei MATRIX hatte die Vision der Macherinnen Vorrang vor allen anderen Dingen. Sie hatten schlichtweg etwas zu erzählen. Und dasjenige, was sie zu erzählen hatten, sollte nicht auf das Offensichtliche reduziert werden. Oft werden an dieser Stelle Dinge wie Philosophie (Erkenntnistheorie, Platon und Höhlengleichnis, Solipsismus, Descartes et cetera), Buddhismus oder die Weltreligionen genannt. Geschenkt. Dergleichen findet sich in der Trilogie wider. Richtig.
Interessant wird es aber m. E. erst, wenn man sich ansieht auf welche Weise die beiden Schwestern diese Elemente komponiert haben.
Ausgangspunkt des Films ist ein Gefühl. Ein Gefühl, welches manchen Menschen sagt, dass etwas nicht stimmt. Nicht richtig zu sein scheint. Es ist ein Gefühl der Unsicherheit, welches mit Beunruhigung einhergeht und aus dem tiefsten Innern rührt. Eine Sehnsucht durchdringt einen, dessen konkretes Objekt zu fehlen scheint. Das (temporäre) Nichtwissen, die Unklarheit darüber, worauf sich diese innere Sehnsucht denn konkret richtet, führt zu diesem Zustand des Beunruhigtseins. Nur eines scheint klar zu sein: Man fühlt sich nicht zugehörig.
Diese Gedanken, dies wird aus Interviews mit den beiden Schwestern deutlich, trugen die Wachowskis mit sich herum. In ihrem Falle war einer der Gründe dafür, dass Larry und Andy Wachowski die Erkenntnis machten, im falschen Körper geboren worden zu sein. Beide bezeichnen sich heutzutage als Transgender. Die hinter diesem Lebensweg stehenden Gedanken sind freilich - ob bewusst oder unbewusst ist nicht von Belang - eine Rolle für den Subtext der Trilogie.
Zitate aus MATRIX lassen Deutungen in die Richtung zu, dass die Filme im Kern untrennbar mit den beiden Schwestern verbunden sind.
So beispielsweise als Agent Smith Neo im Verhörzimmer sagt:
„It seems that you’ve been living two lives… One of these lives has a future and one of them does not.“
Des Weiteren kann auch das in MATRIX oft genutzte Spiegel-Motiv eine vielschichtigere Bedeutung erhalten, wenn man weiß, dass Lana Wachoswki einst erzählte, wie „brutal“ der Blick in den Spiegel, insbesondere für Transgender, manchmal sein kann.
Lana Wachoswki sagte einmal:
„The enduring power of the Cinderella-Myth is this catharsis, this fitting of a slipper, representing this intersection of who we see in the looking-glass with who we want to be.“
Und Lilly Wachowski sagte dies über ihre Kunst:
„It’s an excellent reminder that art is never static and and while the ideas of identity and transformation are critical components in our work the bedrock that all ideas rest upon is love.“
Und diese ganz spezielle, in höchstem Maße persönliche und deswegen untrennbar mit den beiden Künstlerinnen verbundene Kunstauffassung spiegelt sich in ihrer Filmographie - am eindeutigsten in der MATRIX-Trilogie - wider.
Dieses Verständnis für und der Umgang mit Indentitätsproblemata ohne die eine Komposition wie MATRIX gar nicht gedacht, geschweige denn gemacht werden könnte, setzt geradezu zwingend ihre Beteiligung voraus, wenn denn schon unbedingt eine weitere Fortsetzung kommen muss.
Die Voraussetzung für diese Auffassung ist natürlich, dass man in der Trilogie mehr sieht als Zeitlupen-Action garniert mit ein wenig Platon und sich nicht damit zufrieden geben möchte einen Film serviert zu bekommen, der nur oberflächlich etwas mit MATRIX zu hätte. Letzteres wäre aber der Fall, wenn MATRIX so gedeutet würde, als wenn es nur darum ginge, den Film handwerklich fortzusetzen. Ganz so als hätte die Trilogie keine Seele und intrinsische Notwendigkeit.
Für mich jedenfalls ist die Trilogie ein zutiefst persönliches Werk, welchem die für bedeutende Kunst so wichtige „Notwendigkeit“ jederzeit angesehen werden kann. Die beiden Künstlerinnen „mussten“ dieses Werk machen. Es ging nicht in erster Linie um Geld oder die bloße Unterhaltung der Zuschauer. Es ging vorrangig um sie selbst. Nur um sie selbst. Die Künstlerinnen. Sie hatten etwas zu erzählen und mussten es in die Welt schreien.
Übrigens verhielt es sich sogar so, dass der Charakter „Switch“ (Belinda McClory) so angelegt war, dass er in der Wirklichkeit von einem männlichen Darsteller und nur in der Matrix von McClory, also einer weiblichen Schauspielerin gespielt werden sollte. Daher auch der Rollenname.
MATRIX ist nur, was es ist auf Grund der beiden Künstlerinnen. Sie komponierten und dirigierten das Werk und gaben ihm ihren ganz persönlichen Schwerpunkt. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen bloßem Handwerk und Kunst, die ersterem überlegen ist, weil sie noch eine weitere Ebene vorweisen kann.
Ein Werk wie DIE TRIBUTE VON PANEM kann von jedem fortgesetzt werden, weil es eben nicht mit seinem Macher verknüpft ist und dessen Seele atmet.
Aber MATRIX von den Schwestern loszulösen wäre ein genau so großer künstlerischer Irrsinn wie ein KILL BILL III ohne Tarantino oder ein THE KILLER II ohne John Woo.
Abschließend sei noch auf dieses fabelhafte Video-Essay verwiesen, welches mich dazu inspirierte diese Zeilen zu verfassen und welchem ich auch so manchen Kerngedanken meines Geschriebenem entnommen habe. Ehre wem Ehre gebührt:
https://www.youtube.com/watch?v=ORHB9c8e7ok