Jesse ist leer, ist vom Charakter her nicht viel mehr als eine vage menschliche Präsenz in einer äußerlich schönen Hülle. Das ist keine Interpretation, das wird im Film mehr oder weniger so bestätigt. Sie ist außerdem formbar, weil ein Mensch ohne Persönlichkeit eben jede Form annimmt, in die man ihn presst. Man vergleiche ihr schüchternes Vorsprechen in der Agentur und ihr Gespräch mit ihrem Freund, als sie aufs nächtliche LA hinunterblicken ("Ich habe keine Talente"), mit ihrer mechanischen Kälte des letzten Drittels.
Und sie ändert sich, weil es, na ja, ganz wortwörtlich den (metaphorischen) Neon Dämon gibt, der von ihr Besitz ergreift. In dieser viel zu langen und viel zu verspielten Sequenz, als sie der Hauptakt bei einer komischen Modenschau ist, schaut sie doch in und küsst einen Spiegel und findet eine andere, härtere, bösere Version von ihr selbst. Das Gespräch im Restaurant über Schönheit und leere Hüllen beeinflusst sie und sie reagiert, weist ihren Freund ja ab. Und dann ist da Ruby. Als Keanu in ihr Zimmer eindringen will ruft sie ja schwach und in ehrlicher Sorge bei Ruby an und hofft, dass auf deren Freundschaftsversprechen Verlass ist. Doch Ruby will nicht einfach eine gute Freundin und Schulter zum ausheulen und anlehnen sein, Ruby - wie jede Figur in diesem Film(*) - will Jesse besitzen, mit ihr schlafen, eins mit ihr werden. Es ist im Anschluss daran, dass Jesse klar formuliert wie sie sich, ihre Außenwirkung und den Neid anderer Leute wahrnimmt, dass andere Models maximal "eine zweitklassige Kopie" von ihr sein können. Wenn sie ein Niemand ist, ein leeres Objekt, nach dem jeder giert, dann kann sie sich auch selbst als Maximum, als Essenz von Schönheit sehen, ein Selbstbewusstsein aufbauen, so dass sie unabhängig sein kann, niemanden an ihrer Seite braucht. Und dann geht sie bekanntlich baden.
(*)Was zur viel wichtigeren Frage führt: Was - nicht wer! - ist Jesse? Ihre Anziehungskraft, die sie auf andere Menschen ausübt, ist ja wirklich außergewöhnlich. Sie verdreht ja sogar dem eiskalten Superfotografen den Kopf, dass er plötzlich Dinge tut (Neulinge im gesonderten Einzel-Shooting u.a.), die er sonst nicht tut. Der Mode-Typ (Alessandro Nivola) ist erst gelangweilt und kann dann seinen Blick nicht von Jesse nehmen. Und als die drei Mädels am Ende Jesse, ähm, konsumieren, nehmen sie ja tatsächlich etwas von Jesses Magie und Strahlkraft auf. Was also ist Jesse? Was repräsentiert sie (in der überwiegend halbgaren NWR-Logik)? Dass sie "gefährlich" ist, muss ja nicht auf "böse" oder "mörderisch" hinweisen, sondern vielleicht ist Jesse wie eine Droge, die Menschen süchtig macht.