Ich bin da immer extremst vorsichtig mit Prognosen, und bin über die vielen starken Meinungen anderer immer ein wenig überrascht.
Ein bisschen wie beim Fussball, jede:r scheint Expert:in zu sein.
Trotzdem zur Zeit halte ich es immer noch für recht unwahrscheinlich, dass plötzlich Nato-Truppen in den Kampf gegen russische Truppen geschickt werden. Halte es eher für wahrscheinlich, dass ab einem gewissen Punkt verstärkt auf die Ukraine Druck gemacht werden wird,
einen Deal in irgendeiner Form von Frieden oder zumindest Waffenstillstand zu schliessen. Truppenpräsenz, als irgendeine Form von Unterstützung oder für die Sicherung des Waffenstillstands kann ich mir schon vorstellen, aber nicht im Kampfeinsatz.
Ähnlich sehe ich es bei der Frage von Atomwaffen. Da tendiere ich zur Einschätzung, dass Putin doch zu sehr am eigenen Wohlergehen hängt, als dass er so eine Eskalation heraufbeschwören würde. Er scheint ja, was die eigene Gesundheit angeht, fast schon paranoide Züge an den Tag zu legen, wenn man etwa an die Berichte rund um Covid denkt, wie er sich da abgekapselt habe.
Wenn Putin wirklich nicht auf Trump im Weissen Haus hofft, wäre ich arg überrascht. Letztens soll ja Orban ausgeplaudert haben - keine Ahnung, wie sehr man ihm glauben kann - Trump habe ihm versichert, wenn er wieder an die Macht käme, werde der Geldhahn für die Ukraine sofort abgedreht (gut, zur Zeit ist das ja auch schon der Fall). Natürlich kann man Biden und sein Tun besser abschätzen, was auch für die Russen gut ist, aber bei Trump stehen halt schon alle Zeichen darauf, dass er Null Unterstützung geben wird. Allein, wie er die Republikaner dazu gebracht hat, komplett dicht zu machen, ist schon ne krasse Nummer. Dass gerade die dem Gedanken vom erzwungenen Regime Change anhängenden Reps Russland sozusagen zur Hilfe eilen, hätte vor ein paar Jahren wohl auch noch fast niemand glauben mögen.
Klar, es gibt immer den "Black Swan", der mitfliegt. Der Wagner-Aufstand war so einer. Aber lässt man das mal außen vor, ist die Entwicklung mir ein wenig Grundkenntnissen ziemlich absehbar:
Die Ukraine hat ziemlich viele Soldaten verloren, umsonst hätten sie nicht eine weitere notwendige Mobilisierung von 500.000 (!) Mann angekündigt. Die Russen wiederum haben sich am Anfang verschätzt. Eine Eroberung war mir der Initialen Armeestärke nie das Ziel gewesen. Man wollte gewaltsam sie Regierung auswechsln, was bekanntlich gescheitert ist, dann kam der partielle Gebietsverlust.
Daraufhin kam die Teilmobilisierung inkl. Konsolidierung der Front. Und das Abwerben von "Freiwilligen" in den russischen Gefängnissen, was wiederum zur Eroberung von Bakhmut gelangt hat. Daraufhin wurden weitere Truppen geworbenen, mittlerweile haben die Russen wohl bis zu 700k Mann aktiv im Krieg eingebunden. Und die Produktion an Waffen wurde massiv hochgefahren bzw. von extern zugekauft.
Nach gescheiterter Sommeroffensive (Verluste möchte ich gar nicht wissen) ist Avdiivka gefallen, was extrem kritisch für die Ukrainer ist, weil es eine der Hauptverteidigungsanlagen war. Die Russen sind gerade dabei, die zweite Verteidigungslinie zu brechen, die dritte ist schon wesentlich weniger ausgebaut. Und wenn sie die dann auch überwunden haben, kann man wieder in den Bewegungskrieg übergehen und der Weg zum Dnipr und nach Odessa wäre offen. Die Russen sind er Ukrainer in Munition, Material und vermutlich auch Soldaten zahlenmäßig überlegen.
Zählt man 1&1 zusammen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die ukrainische Front an irgendeiner Stelle kollabiert.
Die Preisfrage ist, warum die Ukraine für die Europäer so wichtig ist. Also um Menschenrechte und Werte wie Freiheit und Demokratie geht es hier nicht (ging es noch nie).
Es geht IMO insbesondere um die Einbindung der Ukraine in die europäische Wirtschaft. Sowohl als Lieferant von Lebensmitteln (Klimakrise lässt grüßen) als auch für den Umbau und Ausbau der europäischen Energiewirtschaft. Wer die Zeit hat, kann mal das folgende Paper überfliegen:
https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2023-3006/html?lang=de
Die Ukraine verfügt über enorme Vorräte an Seltenen Erden und Rohstoffe (die Schätzungen gehen bis hin zu 12 Billionen Dollar). Außerdem könnten über 400GW (!) Windkraft aufgebaut werden und die Ukraine damit zu einem Hauptlieferanten und physisch nahen Lieferanten von grünem Wasserstoff machen.
Putin will das natürlich unterbinden, um die europäische Wirtschaf zu schwächen und in Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu halten. Außerdem kann er sich keine freiheitliche Demokratie vor der eigenen Haustür leisten, gerade nicht beim "Brudervolk" der Ukrainer. Letztlich würde jede freiheitlich-Demokratische Bewegung seinen Autorität und Regierung in Frage stellen.
Es geht also um viel, um sehr viel. Deswegen Intervenieren die Europäer hier auch mit aller Macht. Andere Konflikte (Bergkarbach, Jemen) gefährden den eigenen Wohlstand nicht, entsprehd werden sie auch behandelt.
Das lässt sich an der aktuellen Eskalation im Roten Meer auch schön nachvollziehen:
Das Rote Meer ist ein Nadelöhr für den Handel mit Europa. Längere Handelswege sind teuer und würden sich bei uns wiederum als Weitere Preissteigerungen mm niederschlagen.
Natürlich spielen auch Ideolgien (Freiheit vs Autokratie usw) eine wichtige Rolle. In letzter Instanz geht es aber immer um Wohlstandssicherung aka Profit.