Einige der hier genannten anderen Filmbeispiele (z.B. "Dressed to Kill" oder "Schweigen der Lämmer") werden definitiv teils sehr kritisch und oftmals auch sehr negativ bezüglich dieser Aspekte besprochen. Und wären sie aktueller, wäre es gravierender. Aber diese Filme sind eben ein paar Jahrzehnte alt, was man über das kommende Buch nicht sagen kann. Sogar die vor ein paar Tagen von Jay genannten vermeintlich "positiven" Beispiele wie "The Danish Girl", "Boys don't Cry" oder "Eine fantastische Frau" sind in der Trans-Szene und auch darüber hinaus definitiv nicht die glorreichen Leuchtfeuer auf dem Weg zu Besserung und Normalisierung, sondern werden oftmals eher als negative Verfestigung von falschen Vorstellungen, Vorurteilen und Geschäftsmachinismen aufgefasst. Die Intention dieser drei zuletzt genannten Filme mag positiv gewesen sein, aber Intention schützt bzw. bewahrt nicht vor Reaktionen und Kritik. (Ich würde dennoch entschieden widersprechen, "Lämmer" als Beispiel für Rowlings Buch heranzuziehen, denn Buffalo Bill - bei aller Problematik dieser Figur - gaukelt seinen Opfern kein "anderes" Geschlecht vor, um sich ihnen zu nähern. Er täuscht eine Verletzung vor. Die (innerhalb des Films ja psychologisch in Frage gestellt Transness seiner Figur lebt er in seiner Behausung aus.)
U.a. deshalb wird doch so oft und immer wieder gefordert, dass Kunst/Geschichten über manche Themen und Bereiche in ihrer Entstehung echte Mitglieder dieser Themen und Bereiche engagieren sollten, um so was zu vermeiden. Auch das ist natürlich kein Freifahrtsschein, denn keine gesellschaftliche Szene dieser Welt ist komplett geschlossen mit deckungsgleichen Ansichten und Vorstellungen, aber so könnte man gewisse Fehler und negative Fettnäpfchen vermeiden. Solche Fettnäppchen findet man ja auch hier im Thread, wenn z.B. von "Mann mit weiblicher Identität" gesprochen wird, was ziemlich verkehrt ist, oder wenn Trans-Personen zu Erklärungszwecken ge-deadname-t werden, was nicht sonderlich gut aussieht.
Zu Rowling:
Sicherlich, im Internet-Strudel aus Social Media und Co. werden hier und da schnell mal Grenzen übertreben bzw. es geht das Maß verloren. Aber ebenso schnell nehmen Leute beschwichtigend den Deckel vom Topf, weil es ja "größere Probleme" oder "schlimmere Vergehen" gibt. Das ist ein gar nicht mal verkehrter Impuls, der aber manchmal - für mich - eher negative Konsequenzen mit sich zieht, weil er Dringlichkeit und den Diskurs ausbremst - ob gewollt oder nicht. Es wird zweckantfremdet, wie u.a. Revolvermann ja auch andeutet.
Denn ich habe die Rowling-Sache einigermaßen verfolgt und würde sagen, dass in Zeitungen, Culture Blogs und z.B. in der YT-Szene eigentlch ziemlich differenziert, engagiert und konkret mit der Sache umgegangen wurde und wird. Twitter mit seinem 140-Zeichen Schnellschussverfahren führt sicherlich manchmal zu Spott und Antagonismus, aber die gleichen Leute haben sich oftmals (nicht immer) auch schon ausführlicher und besser geäußert.
Dazu muss man eben auch sagen, dass Rowling nun seit einem gefühlten halben Jahr (welcher Monat ist es? welches Jahr?
) mehrfach und immer wieder Gelegenheit hatte, sich zu äußern, eventuelle Missverständnisse zu klären oder um mal rhetorisch auf die "Gegenseite" zuzugehen. Oder auf die Gruppe, die sie selbst aktiv zu ihren Gegnern stilisiert. Und diese drölfzig Möglichkeiten, sich zu erklären, hat Rowling eigentlich nur dazu genutzt, um ihre Standpunkte zu unterstreichen und zu verhärten. Und ihre Punkte griffen eben medizinisch längst widerlegte Vorurteile, generell veraltete Fehldeutungen und die Idee einer unmissverständlichen Abgrenzung auf.
Wir erinnern uns.
Die ganze Sache ging so richtig los, als Rowling sich hinter eine Frau stellte, die wegen Gender-Diskriminierung angeblich* entlassen wurde. Damit ging es los, gefolgt von dem seltsamen "Smartphone Tippfehler", als sich frustrierte Anti-LGBT-Community Äußerungen inkl. F-Wort in einen Tweet an einen jungen Buch-Fan gemischt hatten. Und seitdem hat Rowling mehrfach bewiesen wo sie steht - nämlich nicht an der Seite der Trans-Community. Und nicht nur das, ihre Begründungen für ihre Ansichten sind auch oft konservativ an der Grenze zur Frauenfeindlichkeit, sind an ein wahlweise veraltetes oder unvollständiges Frauenbild gekoppelt. U.a. setzte sie die Periode als Zeichen von Weiblichkeit/Frau-sein gleich, was so lückenhaft und anmaßend und sexistisch ist, dass es man eigentlich kaum erklären muss. (Aber kurz: es gibt mehrere Gründe - Krankheiten, Alter, Hormone, Psyche, Trauma - warum auch Cis-Frauen keine Periode mehr - oder eben noch nicht - bekommen. In Rowlings Logik sind all diese Personen keine Frauen.)
Mal ganz davon ab, dass es auch Transmänner gibt, die diesen Sachverhalt anders aussehen lassen, über die aber fast nie gesprochen wird - auch beim Toilettensachverhalt fast nie. Kooomisch. Gründe dafür gibt es vermutlich viele, aber das wären gleich mehrere Fässer, die ich jetzt gerade lieber ungeöffnet lassen würde.
[
*Maya Forstater wurde nicht entlassen. Sie hatte einen befristeten Vertrag und dieser wurde nach einer Serie Trans-feindlicher Tweets (u.a. in direktem Bezug auf Kollegen) nicht verlängert. Forstater klagte, scheiterte jedoch. Schon diesen Sachverhalt stellte Rowling damals falsch dar, offenbar um sich und andere Gender-Critical Denker mal wieder als eigentliche Opfer und tapfere Truth-Speaker zu positionieren. Weil getreu des konservativen Mottos ist CancelCulture nur schlecht, wenn mich jemand für meine diskriminierenden Äußerungen kritisiert.]
Sie spricht von angeblichen Trans-Freunden/-Bekannten, kann aber kein glaubwürdiges Verständnis der Sachverhalte darlegen, nicht einmal die Basics. Und das, wie gesagt, nach mehreren Versuchen und neuen Statements. Und als wäre das alles nicht genug, nutzt sie für ihre Bücher schon länger ein
Pseudonym, einen männlichen Namen. Welch Ironie! Der Clou ist aber, dass ihr Kunstname „Robert Galbraith“ ein unmissverständlicher Verweis auf
diesen Robert Galbraith sein muss. (Klar, es könnte ein Zufall sein, wie viele sagen, da der Name bis vor kurzem ziemlich unbekannt war, aber es ist ein #BadLook, den man auch hätte ändern/kommentieren können.) Dieser Galbraith war ein Psychiater, der mentale Krankheiten körperlich behandeln wollte und damit ein früher Vorreiter für Konversionstherapie war, also der pseudowissenschaftlichen Praxis, Menschen von der „Krankheit“ Homosexualität zu heilen, sie zu therapieren. Warum das fürchterlich schlecht ist, muss man nicht erklären, oder?
Und nun eben dieses Buch, welches das vielleicht plumpste, dümmste und größte Anti-Trans Vorurteil zum springenden Punkt macht. Sie sprach ja im Laufe dieser Vorfälle davon, dass sie gerade zu diesem Thema recherchiere, was sie als Legitimation aufzubringen versuchte. Und es mag Optimisten geben, die das Buch erst selbst lesen wollen würden, ehe sie ein Urteil fällen. Für mich ist es ein finales Ausrufezeichen hinter einem unmissverständlichen Statement, welches Rowling in den letzten Wochen und Monaten verfasst hat. Da noch von Missverständnissen oder schwammiger Artikulation zu sprechen, geht für meine Begriffe inzwischen viel zu weit. Rowlings Intention und ihr Standpunkt sind klar. Wie man damit umgeht... nun ja...
Zu Harry Potter:
Wie hier schon mehrere Leute gesagt haben, liegt es zunächst mal bei jedem Einzelnen, wie man mit Rowling und mit ihrem Werk umgeht. Grundsätzlich stimme ich dem zu. Andere Beispiele - vom bereits genannten Lovecraft, zu Polanski und Allen - gibt es in der Kultur zur Genüge. Wir treffen in sämtlichen Bereichen mal mehr mal weniger bewusst Entscheidungen, wie wir mit problematischen oder potentiell negativen Dingen umgehen. Wir essen Fleisch (oder eben nicht) generell oder aus fragwürdiger Herkunft, wir unterstützen Marken und Firmen, die bewiesenermaßen die eigene Gewinnmaximierung (z.B. Tech-Riesen, aber auch die Kleidungsindustrie) über das Wohlergehen ihrer Mitarbeiter oder der Mitarbeiter von Subunternehmen stellen. Es ist schwer, sich komplett davon zu lösen.
Und ja, man mag sagen, dass Rowling "nur" ein veraltet-konservatives Weltbild präsentiert, dass sie nichts Illegales tut und man das am besten ignorieren sollte. Kann man sagen. Und es ist definitiv möglich, Rowlings Werk und insbesondere Potter zu genießen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. (Dass schon die Potter-Bücher einige Ungereimtheiten und "unglückliche" Darstellungen besaßen, wie die Kobolde oder die Unveränderlichkeit des Haus-Systems, wird aber nicht erst seit gestern diskutiert.) Potter ist einfach vom Himmel gefallen, ohne Autor. Ein Geschenk Gottes, wenn man so will. Ist nicht mein Ding, aber kann man machen.
Aber wenn man selbst ein Anliegen hat, die von der Person JK Rowling aktiv antagonisierte, ausgegrenzte und falsch dargestellte Gruppe nicht nur nicht selbst zu diskriminieren, wenn man diese Gruppe sogar unterstützen will, dann ist es gerade aktuell ausgesprochen schwierig, wie ich finde, Rowlings Werk finanziell zu entlohnen. Ich persönlich sehe erst einmal keine Problematik darin, die vor Ewigkeiten erworbenen Bücher aus dem Schrank zu holen und noch einmal zu lesen. Ich selbst habe einer Freundin eine Zauberstab-Replika gebastelt und geschenkt - kürzlich erst. Damit unterstütze ich zwar die kulturelle Lebendigkeit der von Rowling geschaffenen Welt, aber eben nicht finanziell und nicht multimedial herausposaunt. Streng genommen wurden sogar Merchandise-Ketten umgangen.
Aber Rowling ist nicht irgendwer. Sie hat die größte Popkulturwelt seit Star Wars praktisch alleine erschaffen und hat quasi komplette Kontrolle darüber. Sie hat Abermillionen Follower über ihre Social Media Kanäle. Und ihre Anhänger sind nicht selten jung und eben formbar. Wer will, kann das als Teil des Diskurs sehen, aber wer online durch millionenfach verstärktes Social Media Megaphon brüllt, hat einfach mehr Macht als ein paar womöglich übereifrige Kritiker. Und diese Macht bleibt bestehen bzw. wächst, je mehr die "Marke" JK Rowling wächst. Und damit einhergehend ist eben auch die Marke Harry Potter.
Dieses Recht auf freie Meinungsäußerung gilt nicht nur in beide Richtungen, es erhält auch eine ganz besonders schwierige Note, wenn mehreren Millionen Jugendlichen schädliche, falsche und widerlegte Vorurteile über eine ohnehin schon marginalisierte Gruppe wieder und wieder vorgebetet werden. Man müsste an Rowling appellieren, dass sie ihre Macht und Vorbildfunktion bedächtiger, vernünftiger und offener einsetzt. Doch da es eben in Bezug zu diesem Thema keine Zweifel mehr gibt, auf welcher Seite sie wirklich steht, greift das nicht mehr. Und dann wird es schwierig, diese amplifizierte Diskriminierung abzufangen oder zu bekämpfen. Da ist X zu viel und Y zu wenig, da spielt die eine Sache Rowling (und denen, die ähnlich denken) in die Karten, da es sie anpeitscht und in ihrer Sicht verstärkt. Und die andere Sache ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Es ist eine schwierige Sache, Ausgrenzung, Stigmatisierung und Hass in unserem modernen Verständnis von Medien, digitaler Kommunikation und Star-Kult richtig einzuschätzen und sich dem entgegen zu stellen. Der Umgang mit dem Werk eines Stars gehört dazu. Aber vielleicht gehört dazu auch, andere und positivere Stimmen zu verstärken, zum Megaphon für positiven Gegenwind zu werden. Z.B. so...