BG Kritik: „127 Hours“

25. Februar 2020, Christian Westhus

Basierend auf der wahren Geschichte von Extremsportler und Kletterer Aron Ralston, der bei einer Klettertour in Colorado abstürzt und seinen Arm einklemmt. 127 Stunden sitzt er in der Felsspalte fest, versucht zu entkommen und erinnert sich an das was war und was sein könnte.

127 Hours
(USA, UK, Frankreich 2010)
Regie: Danny Boyle
Darsteller: James Franco, Amber Tamblyn, Kate Mara
Kinostart Deutschland: 17. Februar 2011

(Diese Kritik erschien ursprünglich zum Kinostart im Februar 2011.)

Der Mann, der aus dem Felsen kam. Wie war das noch mit Geschichten nach wahren Begebenheiten und Spoilern? Und ist ein zentrales Spannungselement dieser Filme nicht immer ein wenig beeinträchtigt? Der durchschnittliche Zuschauer weiß bei „127 Hours“ eigentlich schon im Vorfeld Bescheid. Selbst ein, sagen wir mal, „Titanic“ hatte da mehr Vorteile, da man einfach fiktive Figuren durch die reale Katastrophe rennen lassen konnte. Die Geschichte von Aron Ralston ist ein personell, räumlich und zeitlich extrem beschränktes Stück Authentizitätskino, welches Regisseur Danny Boyle bemüht abstrakt angeht. So liegt es aber auch an ihm und am Drehbuch, welches Boyle mit seinem Kollegen Simon Beaufoy verfasste, der Geschichte Leben und Herz zu verpassen, um den Zuschauer nach Möglichkeit mit Ralston an den Fels zu fesseln.

Boyle war noch nie der Mann für Understatement, für Ultrarealismus oder pure, karge Emotionalität. Inklusive Vor- und Nachlauf knallt Boyle die 127 Stunden im Canyon brachial in 90 Minuten auf den Tisch und zeigt im Eifer der Geschwindigkeit oftmals mehrere Szenen gleichzeitig. Split-Screen, assoziatives Vermengen von Eindrücken, die zu Beginn nur eines zeigen, nämlich Menschenmassen in Bewegung. Aus diesem globalen Zusammenlauf wechseln wir auf das Individuum, auf unseren Protagonisten Aron Ralston in Gestalt von James Franco. Der unabhängige und egoistische, stets unbeschwert wirkende Ralston macht sich zu einem kleinen Abenteuer auf, ehe er seinen Antagonisten trifft, die zweite Hauptfigur: Der Fels. Und Boyle kurbelt und kurbelt, springt zwischen Split-Screen, Arons eigener Kamera und wildem Schnitt-Stakkato hin und her, experimentiert mit zwei Hauptkameramännern, die Aron in Überzahl belauern und verfolgen.

© 20th Century Studios

Im Canyon ist Aron schließlich auf sich allein gestellt, der Split-Screen kommt kaum noch zum Einsatz, was aber nicht heißt, dass Boyle seinen Inszenierungseifer drosselt. Er montiert sich vielmehr nen Ast, setzt mit geschicktem Sound- und Musikeinsatz die verschiedenen Bilder ein, ergeht sich in grellen Farben, starken Kontrasten und greift immer wieder auf die vielen Makro-Aufnahmen zurück, die er an den verrücktesten Orten ansetzt. Boyle versucht alles, um die subjektive und einsame Situation Arons lebhaft und mitreißend zu machen, um den Zuschauer mit klar filmischen Mechanismen – anstelle eines direkten Realismus – im Canyon und bei Aron zu halten.

Trotz der einseitigen Fokussierungen ist es tatsächlich ein spannender, dynamischer und wahrlich mitreißender Film, doch mit all den Stilideen schießt Boyle natürlich auch ein wenig übers Ziel hinaus, wirkt zu verspielt, zu wild und ungestüm und ist damit etwas kontraproduktiv zu dem, was da im Felsen eigentlich vor sich geht. Zumindest erscheint Aron Ralstons Zeit in der Felsspalte recht kurzweilig und abwechslungsreich. Nachfühlbar kann man diese 127 Stunden wohl ohnehin nicht machen, umso mehr liegt es an der Hauptfigur, Emotionen zu tragen und zu vermitteln. Boyle nimmt seinem Hauptdarsteller mitunter ein wenig die Luft zum Atmen, doch eigentlich schlägt sich James Franco in dieser innerlich und äußerlich eingeschränkten Rolle sehr gut. Je länger er dehydriert, zwischen Hitze und nächtlicher Kälte schwankend auf sich gestellt ist, desto mehr geht Aron mit seinem Geist spazieren. Franco findet gelungene Wege, versprüht in einem fiktiven Selbstgespräch eines vermeintlichen Interviews launischen Witz, gleichwohl wie Verbitterung und Einsicht, warum er hier alleine im Felsen festhängt.

Dem eigenen Ende entgegen blickend, jedem verlorenen Tropfen Wasser nachtrauernd, während Witterung, Schmerz und Einsamkeit auf ihn wirken, stellt sich Aron im Felsen die entscheidenden Fragen. Existentialismus pur. Die eigene Handkamera wird zum Gesprächspartner, zu Dokument und Hinterlassenschaft an das Leben nach seinem Tod. In Arons Kopf spuken bald die Geister von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was war, was ist und was sein könnte verschwimmt. Die Menschen, die er kannte, denen er begegnet war, treten mit ihm in seinem einsamsten Moment in Kontakt. Es ist ein verspielter und keineswegs subtiler Versuch, diese so eingeschränkte Geschichte zu erweitern, sie aufzubrechen, um über ein großes menschliches Miteinander zu sprechen. Ein Versuch, der größtenteils geglückt ist. Ein Film über die Macht des Geistes und die Belastbarkeit des Körpers. Gleichzeitig ein Film, der Stilisierung als zentrale Methode der Empathie erwählt.

Fazit:
Danny Boyles Stil-Exzess mit zwei Kameramännern, wilden Schnitten, Makro-Aufnahmen und viel Musik macht die subjektive und begrenzte Geschichte mitreißend und lebhaft, verhindert jedoch auch eine höhere Intensität, die durch James Francos gutes Spiel so effektiv (und effektvoll) aufgebaut wurde. Durchaus ein gewisses Erlebnis, trotz Macken und bekannter Handlungsabläufe.

7/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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