BG Kritik: „Haus der Sünde“

15. August 2020, Christian Westhus

Die Handlung: Der Alltag in einem Edelbordell in Frankreich ca. 1900. In der Obhut der Madame, die auch die Finanzen der häufig verschuldeten jungen Frauen verwaltet, leben die Frauen zwischen Dienstleistung am Kunden, schwesterlichem Zusammenhalt und Angst vor Schwangerschaften, Krankheiten und gewalttätigen Übergriffen.

Haus der Sünde
(Originaltitel: L’Apollonide: Souvenirs de la maison close | Frankreich 2011)
Regie: Bertrand Bonello
Darsteller: Noemi Lvovsky, Hafsia Herzi, Alice Barnole, Celine Sallette, Adèle Haenel uvm.
Kinostart Deutschland: 19. April 2012

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im Juli 2014.)

Das Leben von Prostituierten; fern ab von romantisierter Hollywood Unterhaltung der Marke „Das Mädchen Irma la Douce“ oder „Pretty Woman“, aber auch ein gutes Stück von semi-dokumentarischen Schock-Dramen zum Thema Sexarbeiterinnen entfernt. Bertrand Bonellos Film entwickelt seine ganz eigene Version von „Romantisierung“ und „Realismus“.

Trotz regelmäßiger Nacktheit ist „Haus der Sünde“ keine simple „Tittenparade“ für Leute, denen Pornos zu schmutzig sind. Es geht nichts ums Zeigen; Sex sehen wir praktisch gar nicht. Bonellos Interesse und Faszination für die Dirnen, für ihre Schicksale, ihre Wünsche und Kollegialität ist authentisch. Junge Frauen, die auf unterschiedliche Arten und Weisen im Edelbordell der Madame gelandet sind, die für Unterkunft, Kleidung und Körperpflege schnell in die Schuldenfalle treten und bald schon nichts mehr haben, außer einander und den Wunsch, irgendwann etwas Besseres zu finden, notfalls mit einem reichen Ehemann als Investor. Einige der Frauen sind freiwillig hier, ließen elendige Fabrikjobs zurück, kommen sogar mit Empfehlungsschreiben der Eltern, um im angesehenen Etablissement der Madame anzufangen. Doch das Etablissement ist ein Knast ohne Gitter, mit einer Aufseherin – der Madame – die zwar streng, aber doch mütterlich beschützend zu ihren Mädchen ist.

Das Haus zu verlassen, ob für Einkäufe oder ein Privatleben, ist ohne die Madame praktisch nicht möglich, würde eine „herrenlose“ Dirne in der Öffentlichkeit doch als Hausieren und öffentliche Unzucht gewertet werden. So lernen wir den Alltag der Frauen kennen, die tagsüber schlafen, sich reinigen, über Kunden quatschen und miteinander austauschen, während sie nachts bis zum letzten Gast anwesend sein müssen. Gut betuchte ältere Herren, vermeintliche Gentlemen, die im Haus der Madame alle Stammkunden sind, die häufig mehr an Geselligkeit, Zigarren und gutem Champagner interessiert sind, als an Sex. Die Frauen liefern diese Geselligkeit, flanieren in einem Hauch von Reizwäsche herum, erfüllen Wünsche und setzen für die Kunden ein ständig gut gelauntes Gesicht auf, in der steten Hoffnung, einer von ihnen möge sie freikaufen.

© EuroVideo

Bonellos Film scheut nicht davor zurück, die Abende im Haus der Madame auch mal in ein edles, faszinierendes, ja positives Licht zu setzen. Die Kamera klebt an den stuckbesetzten Wänden, an den gediegenen Tapeten, den Kerzenständern, Champagnergläsern und den Kleidern der aufwändig gepuderten Damen. Man schwelgt in der schläfrig-berauschten Atmosphäre des Gemeinschaftszimmers, zeigt den Alltag am Tag als authentische Zwischenwelt für Schwestern und Freundinnen. Wir sehen mehr Zärtlichkeiten zwischen den Frauen, die sich unterstützend in den Arm nehmen, trösten oder kollegial in ihrer Mitte akzeptieren, als dass wir den körperlichen Einfluss der Männer sehen. Manche Männer lassen passiv verwöhnen, andere lassen ihr Mädchen des Abends in Champagner baden, bis Bonello urplötzlich, heftig und radikal den einen zentralen Gewaltpunkt setzt.

Ein knappes halbes Dutzend der Frauen stehen besonders im Vordergrund, doch das Schicksal der „Frau die lächelt“ ragt dabei heraus. Die überwiegend unbekannten Darstellerinnen machen ihre Sache gut, haben aber auch nicht immer übermäßig viel zu tun. Die großartige Alice Barnole als Opfer eines Mannes mit ganz besonderen Vorlieben nimmt bald darauf eine Sonderstellung ein. Allein dieses Schicksal ist interessant genug, um sich diesen Film anzusehen. Es ist ein Film durchzogen von Melancholie und Wehmut, die ihren Höhepunkt bei einer Art Abschiedsabend findet, unterlegt mit The Moody Blues fantastischem (und anachronistischem) „Nights in White Satin“. Ein Film der nicht einseitig verurteilt oder beschönigt, in dem Bonello seine stilisierte Romantisierung manchmal aber auch zu weit treibt und die Grenze zur unfreiwilligen Komik touchiert. Ein Mädchen beschreibt ihrem Kunden einen Traum, wie sie ihn und seine Lust so sehr in sich aufnahm, dass sie ganz besondere Tränen weinte. Es wirkt albern, doch das macht „Haus der Sünde“ kaum schlechter, auch nicht der gleichzeitig plumpe und wirkungsvolle Schlussakkord, wenn Bonello die Chronologie so richtig aufsprengt. Er zeigt uns ein Maskenspiel, zeigt uns Vergangenheit, Gegenwart, Träume und einen Blick in die Zukunft, aber auch das eigenwillige Bild der Tränen in visueller Umsetzung.

Fazit
Unvoreingenommenes Porträt eines historischen Edelbordells, das mehr an den Frauen, ihren Leben und Innenleben interessiert ist, als an voyeuristischer Zuschauerbefriedigung. Dennoch visuell außergewöhnlich inszeniert und gekonnt anachronistisch mit Musik unterlegt.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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