BG Kritik: „El Top“ + „Der heilige Berg“

19. August 2020, Christian Westhus

Die beiden berühmtesten Filme des einzigartigen Kino-Exzentrikers Alejandro Jodorowsky: In „El Topo“ reitet ein schwarz gekleideter Pistolenheld mit seinem nackten Sohn durch eine öde Westernlandschaft, sucht die Verantwortlichen eines Massakers zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Nach seiner Begegnung mit dem „Colonel“ begibt sich El Topo auf eine bizarre Reise, die sein Bewusstsein erweitern wird. In „Der heilige Berg“ schließen sich der Dieb und andere Suchende dem Alchemisten zu einer Pilgerreise zum heiligen Berg an, um der korrupten und spirituell toten Welt zu entkommen.

El Topo
(Mexiko 1970)
Der heilige Berg – The Holy Mountain
(Originaltitel: La montaña sagrada | Mexiko, USA 1973)
Regie: Alejandro Jodorowsky
Darsteller: Alejandro Jodorowsky, Brontis Jodorowsky uvm.
Kinostart Deutschland: 21. August 1974 (Der heilige Berg) und 28. Februar 1975 (El Topo)

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im Mai 2015.)

Die zwei berühmtesten und wohl auch besten Filme des genial-verrückten chilenischen Avantgarde-Surrealisten Alejandro Jodorowsky. Die Beschreibung klingt dick aufgetragen? Untertrieben scheint passender. Seit in den letzten Jahren das Interesse an der nie realisierten, aber so einflussreichen wie ambitionierten „Dune“ Verfilmung Alejandro Jodorowskys gestiegen ist, aufgearbeitet in der sehenswerten Dokumentation „Jodorowsky’s Dune“, stieg auch das generelle Interesse an diesem so einzigartigen Filmkünstler, der in den Jahren zuvor überwiegend im Comic Bereich (u.a. „Incal“) tätig war. Inzwischen dreht Jodorowsky wieder fleißig Filme und sogar das behäbige Deutschland veröffentlichte seine frühen Meisterwerke auf stattlichen Blu-rays. Zeit also, auf zwei Filme zu blicken, die Jodorowskys Ruf als Enfant Terrible, als Avantgardist, als Surrealist und „Drogen-Irrer“ maßgeblich beeinflussten und formten.

„El Topo“ gehörte zu den ersten „Midnight Movies“ der 1970er, zu außergewöhnlichen Filmen abseits der gewohnten Sehgewohnheiten, die schnell einen Kultstatus entwickelten, wahlweise mit der Hippie-, der Drogen-Kultur oder der „Freie Liebe“ Welle verschmolzen. John Lennon höchstpersönlich war (kaum wirklich verwunderlich) ein großer Bewunderer des Films und unterstützte Jodorowsky bei dessen nächstem Projekt. „El Topo“ kommt in der Gestalt eines Westerns daher und fühlt sich mit kleineren und größeren Anpassungen bis zu Hälfte auch noch so an. In der so befremdlichen wie faszinierenden Eröffnungssequenz beobachten wir ein Familienritual, wenn Pistolero El Topo seinen jungen und unbekleideten Sohn zum Mann erklärt und von der Mutter lossagt, die als Foto im Wüstensand zurückbleibt.

© Bildstörung

El Topos blutiger Rachefeldzug, mit einem wunderbar knallrot spritzenden Lebenssaft, erstaunt in seiner Brutalität und der ungewöhnlichen Handhabung von Action. Doch für uns und für El Topo ist dieser Akt der Rache nur der Auftakt. Was folgt ist eine metaphysische, abstrakte Selbstfindungsreise, wenn El Topo einer mysteriösen Frau folgt und – in Manier heutiger Fantasy-Abenteuer – vier spirituelle Revolverhelden treffen und ausschalten soll. Wer El Topo für einen durch verschiedenste Einflüsse kritisch, metaphysisch und satirisch entstellten Jesus hält, der trifft genau ins Schwarze. Und Jodorowsky lässt daran kaum Zweifel, auch wenn dieser Jesus unzählige Menschen tötet und für das unbeschreibliche Massensterben von Kaninchen mitverantwortlich ist. Doch es ist die zweite Hälfte, wenn sich El Topo nach einer körperlichen Zerstümmelungserfahrung in einer Höhle wiederfindet, die mit Aussätzigen, mit Krüppeln, Kranken und Verstoßenen bevölkert ist, dass „El Topo“ sein Gewand als vermeintlicher Drogen-Western ablegt und zu mehr wird, zu einer wild allegorischen, anspielungsreichen und bis ins Mark kompromisslos-radikal inszenierten Befreiungs- und Errettungsfantasie, die bei Jodorowsky nur auf eine Weise enden kann.

„El Topo“ ist ein endlos faszinierendes, kaum zu beschreibendes Meisterwerk. Ein Film, der so lange zu den verrücktesten, ungewöhnlichsten, surrealistischsten Filmen die man je gesehen hat gehört, bis man „Der heilige Berg“ sieht. Ein wildes, rauschhaftes, schier unbeschreiblich Panoptikum pan-spiritueller Einflüsse, lässt „Der heilige Berg“ „El Topo“ im Vergleich wie einen gewöhnlichen Sergio Leone Western wirken. In seiner bildhaft allegorischen Rauschhaftigkeit und Abstraktheit wirkt „Der heilige Berg“ als hätten Salvador Dalí und Hieronymus Bosch—Nein, eigentlich sprengt „Der heilige Berg“ jede mögliche Vergleichsgrundlage. Mit einem bescheidenem Budget, vielen Drogen im Koffer, mit denen er Besetzung und Crew angeblich ganz bewusst versorgte, und einem ans Arrogante mahnenden Selbstbewusstsein dachte sich „Jodorowsky“ nach dem kleinen Kult-Erfolg von „El Topo“ wohl einfach „Jetzt erst recht“, lachte sich ins Fäustchen und warf jegliche erzählerische und thematische Klarheit mit einem wahnsinnigen Lachen über Bord.

Wir folgen dem Dieb, der auch hier wieder eine durch den allegorischen Fleischwolf gedrehte Jesus-Figur ist, die massenhaft vermarktet wird, inklusive seines Exkrements, welches wortwörtlich zu Gold gemacht wird. Unzufrieden mit der Ungerechtigkeit der Welt gerät der Dieb an den Alchemisten (Jodorowsky selbst), der ihn spirituell leitet und beeinflusst. Was folgt, muss man wahrlich selbst gesehen haben um es zu glauben, um zu glauben, dass diese Bilder tatsächlich auf Film gebannt wurden. Wir sehen die Eroberung Mexikos, nachgestellt mit Fröschen und Eidechsen, sehen Planetenwesen als Gottheiten, die in überbordend bildgewaltigen Zwischensequenzen vorgestellt werden, sehen erneut Krüppel und Deformierte, sehen einen Mann, dessen Brüste sich in Milch speiende Leopardenköpfe verwandeln, und wohnen der Transformation des Diebs, des Alchemisten und seinen übrigen Gefolgsleuten auf dem Weg zum Berg bei. „Der heilige Berg“ ist ein irrer Rausch. Es besteht kein Zweifel, dass Jodorowsky mehr im Sinn hatte als nur irre Bilder, religiöse Referenzen und philosophisch-provokante Weisheiten aneinander zu reihen. Jodorowsky hat ein Ziel, hat ein glaubwürdiges Anliegen einer positiven Bewusstseinserweiterung. Was er genau bezweckt beziehungsweise erreicht bleibt jedem Zuschauer auf dem Weg hinauf zum heiligen Berg selbst überlassen. Anreize liefert Jodorowsky genug.

Fazit:
Surrealistisches Avantgarde Kino, wie es in der Filmgeschichte kein zweites Mal vorkommt. Zwei bewusstseinserweiternde Wunderwerke des Kunstkinos, die jeder Beschreibung und jeder Bewertung spotten. „El Topo“, als verhältnismäßig zugängliches Werk, ist für aufgeschlossene, neugierige Zuschauer auf jeden Fall einen Blick wert.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

Um an dieser Diskussion teilzunehmen, registriere dich bitte im Forum:
Zur Registrierung