BG Kritik: „Bajocero: Unter Null“

4. Februar 2021, Christian Westhus

Kleiner feiner Netflix-Thriller aus Spanien. Bei einem Gefangenentransport kommt es zum Angriff durch einen Unbekannten. Polizist Martín versucht zu überleben und eine Antwort auf die Frage zu finden, worauf (oder auf wen) es der Angreifer abgesehen hat.

Bajocero: Unter Null
(Originaltitel: Bajocero | Spanien 2021)
Regie: Lluís Quílez
Darsteller: Javier Gutiérrez, Karra Elejalde, Luis Callejo, u.a.
Veröffentlichung Deutschland: 29. Januar 2021 (Netflix)

Die spanische Filmindustrie scheint besonders gut mit Netflix zu harmonisieren oder ist zumindest regelmäßig gewillt, aus der Konkurrenznot eine Tugend zu machen. Aus nicht-spanischer Sicht fühlt es sich jedenfalls so an, als käme einmal im Quartal ein kleiner feiner Genrethriller herüber. Egal ob „Auge um Auge“, oder „Der Schacht“, in Kooperation mit Netflix gelingt dem spanischen Film das, was man eigentlich auch von Deutschland erwarten könnte, bisher aber außerhalb von „Dark“ noch recht zaghaft verläuft: Genre Vielseitigkeit.

So viel vorweg: „Bajocero“ erfindet das Rad nicht neu, ist keineswegs ein neuer Genre-Meilenstein und wird Ende des Jahres vermutlich nur noch fragmentarisch in der Erinnerung herumgeistern. Doch es ist ein Film, der aus wenig viel macht und damit für die längste Zeit ziemlich gut fährt. Zwei kleine Szenen bekommen wir, ehe es zum Hauptschauplatz übergeht. Wir lernen einerseits unsere Hauptfigur kennen, Martín, einen Familienvater und Polizisten, der an ein neues Revier versetzt wird und an seinem ersten Arbeitstag gleich einen nächtlichen Gefangenentransport vor sich hat. Andererseits wohnen wir auch einer grausigen Gewalttat bei, wenn ein Unbekannter einen jungen Mann jagt, schnappt und fachmännisch, nun, verscharrt. Es ist klar, dass sich die Wege dieser beiden Männer kreuzen werden.

© Netflix

Es ist eine Art „Con Air“ Szenario, nur ein wenig realistischer: sechs Gefangene werden aus den Zellen geholt, gefilzt und abreisefertig gemacht, ehe es in den gepanzerten Bus mit den abgeriegelten Einzelsitzen geht. Eigentlich alles Routine. Eine Streife fährt voraus, Martín steuert den Polizeibus, der Kollege überwacht den Gang und die Zellen im Fahrzeug, während in bitterkalter Nacht bald dichter Nebel aufzieht, als es über eine Land- und Waldstraße geht. Es dürfte keine Überraschung sein, dass der Unbekannte vom Anfang hier zuschlägt. Jedenfalls nicht für den Zuschauer. Die Konfusion und Panik des plötzlichen Angriffs lässt Martín und seinen Kollegen bald schon unruhig herumirren, ehe man sich in immer kleinere Schutzräume zurückzieht. Das Prinzip aus unbekannten Angreifern mit Tötungsabsicht auf Polizisten in der Defensive erinnert an den John Carpenter Klassiker „Assault: Anschlag bei Nacht“ und wird für „Bajocero“ zum gelungenen Mittelteil. Es ist ein packender Survivalthriller, durch die begrenzten Räumlichkeiten effektiv konkretisiert, aber auch mit der unterschwelligen Frage: wer ist der Angreifer und was will er? Will er einen der Gefangenen befreien? Vielleicht den schmierigen Ramis, der schon zuvor seinen eigenen Ausbruch versuchte anzugehen? Vielleicht den stillen Rumänen, der angeblich die passenden Connections hat. Oder vielleicht den jungen Nano, der still und ängstlich wirkt.

Die Antwort – zumindest eine vage – auf diese Frage kommt relativ früh und hält den Spannungsgrat noch ziemlich hoch. Ein paar wohlplatzierte Gewaltakte unterstreichen die Ernsthaftigkeit der Situation, die beklemmenden Räumlichkeiten verschieben die Perspektive und zumindest manche der Gefangenen sind zwar nicht unbedingt sympathisch, aber doch menschlich und wiedererkennbar. Doch je länger die Belagerung andauert, je länger der Unbekannte mit seiner Forderung abblitzt, je stärker das Morgengrauen durch diese bitterkalte Nacht dringt, desto mehr überspannt der Film seinen Bogen. Das zunächst gut ausbalancierte Spannungskino wird grobschlächtiger, Logik und Realismus werden dehnbarer und dann verfolgt der Film natürlich eine konkrete Idee. Man kann im Jahre 2020/21 keinen Film über einen Polizisten drehen, der mehrfach betont, an einen funktionierenden Rechtsstaat zu glauben, ohne zumindest graduell politisch vorbelastetes Gewässer zu betreten. Hier findet „Bajocero“ ein eigentlich deutliches und potentiell kontroverses Statement, gibt aber auch vagen Grund zur Relativierung. So wird aus einem netten kleinen Genrestück nicht zuletzt auch ein Film, über den man streiten kann. Oder zumindest könnte.

Fazit:
Auch wenn „Bajocero“ im letzten Drittel die bodenständige Effektivität des Hauptteils vermissen lässt und sich zu einem diskutierbaren Finale quält, ist der Weg dorthin ein spannendes und im besten Sinne kleines Genrewerk. Kein Film für die Ewigkeit, aber ein netter kleiner Reißer.

6/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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