BG Kritik: „Midsommar“
Nach einem traumatischen Erlebnis kann Dani (Florence Pugh) ihren Freund Christian (Jack Raynor) nicht einfach für ein paar Wochen nach Schweden fahren lassen. Sie schließt sich ihm und seinen Studienkollegen an, wie sie einem Kommilitonen bei dessen traditionellem Midsommar-Fest beiwohnen. Die kleine Kommune feiert äußerst abgelegen ein ganz besonderes Fest voller uralter und seltsamer Riten, die zunehmend bizarr und gefährlich werden.
Midsommar (USA, Schweden, Ungarn 2019)
Regie: Ari Aster
Darsteller: Florence Pugh, Jack Raynor, Vilhelm Blomgren u.a.
Kinostart Deutschland: 26. September 2019
Wie so oft entpuppt sich Horror als das schwierigste Genre. Es gibt nahezu unendliche Facetten und Möglichkeiten, einen Film irgendwie Horror zu nennen, was zu nahezu unendlichen Erwartungen führt. So gesehen ist Horror auch gleichermaßen eines der spannendsten Genres, gerade weil man so viele Dinge machen kann, weil kein anderes Genre so gut darin ist, andere bzw. fremde Genreelemente aufzugreifen und umzuwandeln. Selbst wer „Hereditary – Das Vermächtnis“, den Aufsehen erregenden Erstling von Regisseur und Autor Ari Aster gesehen hat, kann sich nur bedingt darauf einstellen, was nun bei „Midsommar“ bevorsteht. Und das, wo es zwischen beiden Filmen einige überaus markante Ähnlichkeiten in Inszenierung, Handlung und thematischem Unterbau gibt. Wer sich vor wenigen Wochen noch mit Pennywise durch Derry gegruselt hat oder nun einen schwedischen „Annabelle“ erwartet, könnte vor Probleme gestellt werden. Man könnte sich „Midsommar“ nähern, indem man den Film als Schnittmenge aus „Rosemary’s Baby“ und „Kill List“ beschreibt, doch auch das schürt nur mitunter falsche Erwartungen. Manchmal muss man sich einfach auf Dinge einlassen. So, wie sich die junge Dani (Florence Pugh, bekannt durch den starken „Lady Macbeth“) darauf einlässt, ihrem Freund Christian für ein paar Wochen nach Schweden zu einem traditionellem Festritus einer Kommune zu folgen.
Ah, Schweden. Ein Land, aus deutscher Sicht, so nah und doch so fern. Reichhaltige Natur, ein durch gefährliches Halbwissen geprägtes Verständnis der nationalen Geschichte und darin mythologisch durchwuchert bis in den letzten Grashalm. Der europäische Norden bietet sich einfach als Hintergrund an, um darauf die wildesten Kunstwerke zu erschaffen. So hält es auch Ari Aster. Nach einem finsteren und unangenehmen Einstieg in den USA geht es nach Schweden, genauer in den kleinen Ort Hårga, der praktisch eine endlose Sommerwiese unter ewigblauem Himmel ist (und übrigens größtenteils in Ungarn gedreht wurde). Wir und die Clique um Dani und Christian treffen auf weiße Trachten, alte Runen, viele Blumen und stoßen uns am dauerhaften Tageslicht der Sommersonnenwende. Pelle, der Student, der die Freunde hierher brachte, stellt die Gäste seiner schwedischen „Familie“ vor, erklärt vage die Abläufe und gibt gelegentlich Kontext zu manch bizarren Dingen und Vorkommnissen und … hat man auf den zahlreichen Wand- und Tuchgemälden des Ortes wirklich das gesehen, wonach es aussah?!
Die Schwierigkeit in der Genrezuschreibung von „Midsommar“ liegt auch darin, dass wir unzureichende Begrifflichkeiten haben, um Filme (oder Geschichten im Allgemeinen) zu beschreiben und zu kategorisieren. Und wir müssen kategorisieren, um einen Anker zu haben, um unsere Perspektive zu festigen und dann in den Details auf eine potentiell endlose Suche zu gehen. Denn darin liegt der Reiz, sich mit Gesehenem (oder Gelesenem) auseinanderzusetzen. So oder so ähnlich geht auch Josh (William Jackson Harper aus „The Good Place“) vor, der als Anthropologiestudent kurz vor der Diplomarbeit die Reise nach Schweden und nach Hårga als Vor-Ort Recherche sieht, der beobachtet, hinterfragt, erforscht und vergleicht. Auch der Zuschauer lässt sich von der akademischen Kulturneugierde anstecken und akzeptiert, kommt dem Argument der Wertungsneutralität lange Zeit ein Stück entgegen, obwohl man – da man ein Kinoticket für einen „Horrorfilm“ gelöst hat – weiß bzw. ahnt, dass die Dinge nicht gut ausgehen werden. Aber ist es nicht idyllisch? Sind sie nicht alle freundlich, diese Schweden? Sollte man wirklich über Traditionen urteilen, nur weil sie anders sind? Wären da nicht besagte Malereien und wäre da nicht die Musik von Bobby Krlic; man könnte fast Fernweh bekommen. Doch die Musik – flirrend intensive Streicher, teuflische Percussions und dröhnende Spitzen aus hohen Bläsern. Es ist eine wahnsinnige Klangkulisse, die der aus „Hereditary“ in nichts nachsteht. Ari Aster inszeniert vermeintlich wild und hysterisch, ungehemmt und doch mit einer Geduld und Präzision, die man im Genre (oder im Kino generell) selten sieht.
Aster veröffentlichte jüngst in ausgewählten US-Kinos einen rund dreistündigen Director’s Cut. (Das heißt nicht, dass „Midsommar“ gekürzt oder zensiert ist; es heißt, dass es ergänzendes Material gibt, wie z.B. bei „Der Herr der Ringe“.) Lang fühlt sich der rund 145 Minuten laufende Filme ohnehin schon an, doch man spürt auch hier und da die Aussicht auf Erweiterungen und Ergänzungen. Zu komplex und detailverliebt wirkt das Ambiente in Hårga, mit seiner wunderbaren Bildersprache. Zu viel Ungesagtes scheint sich zwischen Dani und Christian angestaut zu haben. Nebenfiguren, allen voran Will Poulters Mark, trifft es am stärksten. Mark ist das eingebildete Arschloch der Gruppe, der den Schwedenurlaub in erster Linie wegen der Aussicht auf hübsche schwedische Frauen gutheißt und entsprechend wenig begeistert ist, als sich Dani anschließt. Mark ist es, der zu Beginn brachial und plump in kulturelle Fettnäpfchen tritt, doch sein Charakter bleibt hintergründig und dabei auch irgendwo Stückwerk. Die Festtage vor Ort zielen auf einen ganz bestimmten rituellen Höhepunkt ab und bringen dadurch gewisse Dinge in Bewegung, die nicht alle ausreichend Zeit und Raum erhalten, um sich zu entfalten, um zu erblühen wie eine der wahnsinnig bunten Sommerblumen. Doch auch diese kleineren Verfehlung sind nur Ausdruck dafür, dass „Midsommar“ so viel richtig macht, dass der Film auf so vielfältige Art und Weise Reize schafft, stimuliert und in seinen absolut wahnsinnigen Bann zieht.
Das Wissen um die Bedrohung in Hårga und die räumliche Unausweichlichkeit drohen der Geschichte nach gelungenem Kontinentwechsel für einen Augenblick die Luft zum Atmen zu nehmen. Doch dann wird „Midsommars“ Genrevielseitigkeit bzw. das reichhaltige Interessenspektrum des Scripts zum großen Trumpf. Wir beobachten einerseits mit Spannung und Grauen eine fremde Kultur mit eigenen Regeln und Gesetzen, nähern uns einem vermutet finsteren Festhöhepunkt, verfolgen aber gleichermaßen interessiert Dani und Christian, sehen eine junge traumatisierte Frau, die sich nach einem erlittenen Verlust an die letzte Vertrauensfigur klammert, die ihr geblieben ist. Wir verfolgen einen jungen Mann, der sich seiner Absichten nicht sicher ist, der lange Zeit nicht die stützende Schulter für seine Freundin ist, die er sein sollte, der sogar einen engen Kumpel provoziert und vergrault. Wir sehen, wie diese kleineren und größeren sozialen Beziehungen, das Liebespaar, die Freunde, die Clique, im Hårga-Kontext gespiegelt und aufgebrochen werden. So beschwört der Film, ähnlich wie „Hereditary“, Sichtweisen und Theorien zum Konzept Familie herauf, durchleuchtet verschiedenste Formen menschlicher Bindung. Das macht „Midsommar“ am Ende unabhängig einer Genrezuordnung zum perfekten Film für ein erstes Date. Vielleicht auch zum allerschlechtesten Film für ein erstes Date. Doch immerhin sollte am Ende klar sein, ob dieses Date überhaupt Zukunftspotential hatte oder nicht.
Fazit:
Horrorpsychodrama für ein spezielles mutiges Publikum. Grell und ausdrucksstark inszeniert, mit einer geduldigen Sogwirkung in psychisches Chaos hinein, statt in nackte Angst beim Zuschauer. Ein im besten Sinne seltsamer und irrer Film.
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