Treasure Tuesday Spezialkritik: Timecrimes

2. März 2021, Christian Westhus

Spanien kann Genrefilme. Auch im kleinen Maßstab und mit Zeitreise, wie Nacho Vigalondos „Timecrimes“ (2007) beweist, unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Koch Media

Timecrimes: Mord ist nur eine Frage der Zeit
(Originaltitel: Los cronocrímenes | Spanien 2007)
Regie: Nacho Vigalondo
Darsteller: Karra Elejalde, Candela Fernández, Bárbara Goenaga, Nacho Vigalondo
Veröffentlichung Deutschland: März 2008

Was ist das für ein Film?
Bei dem Titel keine Überraschung: Nacho Vigalondos Mini-Kultfilm ist ein Zeitreisethriller, allerdings einer der besonderen Sorte. So besonders, dass man am besten vorab exakt gar nichts über den Film wissen und idealerweise auch den Titel direkt wieder aus dem Gedächtnis streichen sollte. Héctor (Karre Elejalde) und seine Frau Clara (Candela Fernández) beziehen gerade ihr neues Landhaus, bauen noch ein paar Möbel auf und richten den Garten her. Um auszuspannen, versinkt Héctor in der Gartenliege und überblickt mit dem Fernglas die Gegend, bis er im Wald etwas entdeckt. Eine junge Frau ist dort zu sehen, aber auch kurz darauf wieder auf mysteriöse Weise verschwunden. Von seiner Ehefrau unbeobachtet erkundet Héctor den Wald, findet die Fremde, stößt aber auch auf einen gewalttätigen Unbekannten mit eigentümlicher Gesichtsmaske und versucht schließlich, in einem Forschungsinstitut Schuss zu suchen. Héctor ahnt noch nicht, dass er schon längst Teil einer wild verknoteten Geschichte geworden ist.

Warum sollte mich das interessieren?
Nicht erst durch die Unterstützung der großen Streamingdienste schafft Spanien regelmäßig das, wonach sich so manch deutscher Filmfan in der eigenen Heimat sehnt: regelmäßige Genrestoffe, wahlweise originell, ungewöhnlich oder qualitativ hochwertig. Einen „[Rec]“ oder „Das Waisenhaus“ sucht man in Deutschland leider noch immer vergebens, von einem „Timecrimes“ ganz zu schweigen. Dabei macht Nacho Vigalondos Zeitreisethriller eigentlich perfekt vor, wie man in einem nicht-englischsprachigen Land Genrefilme drehen kann, die international erfolgreich sind. Der Film funktioniert nach dem Motto: kleines Budget, große Ideen. Auch ohne genaue Zahlen zu recherchieren fällt die technische Einfachheit des Films sofort auf. Das Personal ist begrenzt, die Schauplätze gewöhnlich und die Bildqualität bescheiden. Doch diese visuelle und (auf den ersten Blick) erzählerische Einfachheit wird zum größten Trumpf.

Natürlich muss man dem Film ein wenig entgegenkommen, wenn Héctor doch recht stumpf und nur halbherzig motiviert seinen Rundgang startet, unüberlegt ein Haus betritt und auch im weiteren Verlauf der ersten Hälfte so wirkt, als habe er noch nie auch nur vom Konzept einer Zeitreise gehört, geschweige denn mal einen Film gesehen oder eine Geschichte gelesen. Doch das Script – in erstaunlich saubere Abschnitte unterteilt – weiß den Zuschauer dadurch zu führen, überträgt Héctors Orientierungslosigkeit, bis irgendwann der Eindruck entsteht, alles folge einem großen Plan. Das erklärt vermutlich nicht den etwas eigentümlichen Umgang mit der Frau im Wald, doch es ist fraglos spannend und auch oftmals verblüffend, wie faszinierend und überraschend eine Geschichte sein kann, die vorgefertigten Puzzlestücken folgt.

Dieses Spiel mit Erwartungen und der vermeintlichen „Durchschaubarkeit“ der Prämisse ist ein großes Hindernis für jeden Zeitreisefilm, insbesondere für solche, die einer Chronologie bzw. Logik wie hier folgen. Doch immer wenn man glaubt, den sprichwörtlichen Braten zu riechen, kommt es anders, schlägt in eine neue Richtung aus oder verblüfft mit geschickten Variation des Erwarteten und Angedeuteten. Der erzählerische „Stunt“ von „Timecrimes“ funktioniert auch, da nicht zuletzt Héctor eine zunächst eigenartige, dann aber konsequent und spannend weitergedachte Figur ist. Egal ob durchschaubar oder nicht, das Ende hat Wirkung – im doppelten Sinne.

„Timecrimes“ ist aktuell (03/2021) bei Prime Video im Abo verfügbar, ansonsten auf BD und VOD erhältlich.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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