BG Kritik: „Tausendschönchen – Kein Märchen“ (Treasure Monday)

4. August 2020, Christian Westhus

Avantgarde-Anarchie aus der Tschechoslowakei: Als Reaktion auf eine chaotische Welt beschließen zwei Frauen, ihre spöttisch-zerstörerischen Ideen auszuleben.

Tausendschönchen – kein Märchen
(Originaltitel: Sedmikrásky | Tschechoslowakei 1966)
Regie: Věra Chytilová
Darsteller: Jitka Cerhová, Ivana Karbanová
Kinostart Deutschland: Juli 1969 (Westdeutschland)

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im August 2014.)

Einer der berühmtesten Filme der tschechischen „Neuen Welle“ war in der restlichen Welt lange Zeit kaum erhältlich, geschweige denn bekannt. Vereinzelte Aufführungen, Restaurationen und Neuveröffentlichungen gab es, ehe der Film nun weltweit seine kunterbunt-zerstörerische Wonne präsentieren kann.

Es beginnt mit ratternden Maschinen, mit militärischer Musik und Kriegsszenen von Bombenabwürfen, Explosionen und Raketenbeschuss. Dass hinter der bunten und anarchischen Dada-Fassade auch ein politisches Herz schlägt, wird schnell klar. Es schlägt so sehr, dass der Film 1968, nach dem Scheitern des „Prager Frühlings“ in der Tschechoslowakei verboten wurde. Dabei gibt sich der Film als episodenhaft-freier Schabernack, als Filmexperimentiert mit kindischer Freude an Albernheit. Zwei Frauen, Marie I und Marie II, beschließen, als Reaktion auf eine schlechte und böse Welt, selbst böse zu sein. „Niemand versteht uns, niemand versteht irgendwas“, sagen sie, also ohrfeigt die Eine die Andere aus dem tristen Bild der quietschenden, behäbigen S/W Welt in ein buntes Blumenbeet hinein.

Es ist eine Pippi Langstrumpf Welt. Die Frauen albern rum, stellen die Welt auf den Kopf und machen sie sich so, wie sie ihnen gefällt. Höhere politische Ziele äußern sie nicht. Es entsteht mehr aus einer Langeweile heraus, aus einem Gefühl, dass nichts wichtig ist, dass niemand irgendetwas wichtig nimmt – wenn überhaupt, wird sich über Kleinigkeiten echauffiert. Die Frauen bereichern sich an anderen Leuten. Bei Dates im Restaurant leiern sie diversen älteren Kerlen, die sich wohl sonst was erhoffen, teure Zusatzbestellungen heraus. In einer Bar veräppeln sie die Bedienung, werden betrunken und ruinieren den Show-Act. Und sie verdrehen einem jungen Schmetterlingsammler den Kopf, der sich vermeintlich unsterblich in eine von ihnen verliebt. Während er sich am Telefon das Herz ausschüttet, fackeln die Frauen fast ihre Wohnung ab, spielen mit Essen herum und zerschneiden eingemachte Gurken und Bananen (!) mit Scheren. Sie dürfen, so ihre neue „böse“ Logik, die Liebe nicht erwidern, denn das wäre ja nett, schön und etwas Positives. Ihre Maxime lautet, dass ihnen alles egal sein muss. Außer ihr eigener kindlicher Spaß zusammen.

© Bildstörung

Generell fällt ein radikaler Umgang mit Lebensmitteln auf, der das alberne, von schallendem Spott-Lachen begleitete Treiben der Frauen beherrscht. Im Restaurant schlagen sie sich den Bauch voll, übertrinken sich im Restaurant und dann mündet es im großen, grotesken und irrwitzigen Finale, bei dem Zerstörung, Exzess (und das in einem sozialistischen System) und eine vermeintliche Läuterung einen neuen Kontext bekommen. Regisseurin Věra Chytilová entlässt mit einer patzig anklagenden Widmung aus ihrem Film, die einen ganz bewussten Rahmen um die Haupthandlung setzt.

Eine wirkliche Handlung kann ein solch anarchisch-herablassendes Treiben zweier regelmäßig gelangweilter junger Frauen, die aus Launen und Stimmungen heraus ihren Schabernack veranstalten, um sich einer schlechten Welt anzupassen, ihr den Spiegel vorzuhalten, kaum haben. Chytilová inszeniert ähnlich frei, absurd und albern wie ihre Heldinnen. Sprunghafte Szenenanschlüsse schubsen uns durch die Handlung, eigenwillige Symbole, wie der „jungfräuliche“ Blumenkranz, begleiten das spielhafte Treiben, ohne dass wir sicher sein können, wie wichtig dieser Gegenstand wirklich gemeint ist. Mal ist der Film schwarz-weiß, dann kräftig koloriert, dann monochrom viragiert, ehe die Frauen sich gegenseitig hakelig und blutfrei zerschneiden, wie die Bilder aus Zeitschriften, die sie an ihre Wand pappen. Niemals behauptet Chytilová „Tausendschönchen“ wäre etwas anderes als ein Film, bricht die vermeintlichen „Regeln“ des Mediums, wie die Frauen die Regeln der Gesellschaft brechen.

Fazit:
Kunterbunte Missetaten ständig gackernder „Heldinnen“. Anarchischer Dada-Schabernack mit einerseits deutlichem, die längste Zeit aber explizit hintergründlichem politischen Hintergrund.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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