Treasure Tuesday Spezialkritik: „Wild“ (2016)

5. Januar 2021, Christian Westhus

Ungewöhnliches, mutiges und – ja – wildes deutsches Kino. Eine junge Frau versucht, sich einen echten Wolf in die Wohnung zu holen. Nicolette Krebitz‘ „Wild“ (2016), unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© EuroVideo

Wild
(Deutschland 2016)
Regie: Nicolette Krebitz
Darsteller: Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Saskia Rosendahl
Kinostart Deutschland: 14. April 2016

Was ist das für ein Film?
Die dritte Regiearbeit der deutschen Schauspielerin Nicolette Krebitz („Bandits“, „Der blinde Fleck“). „Wild“ – nicht zu verwechseln mit dem Reese Witherspoon Aussteiger-/Wanderfilm gleichen Namens – handelt von der jungen Ania (Lilith Stangenberg). Diese lebt alleine und überwiegend kontaktlos in einem anonym-kargen Plattenbau irgendwo in Halle an der Saale. Ihr Job als IT-Technikerin in einem banalen Büro ist geprägt von unbedeutenden Aufgaben und von Sonderwünschen ihres herrischen Chefs Boris (Georg Friedrich), der sich an sie heranzumachen versucht. Dann bemerkt Ania auf dem Heimweg im angrenzenden Waldgebiet einen Wolf. Sie fühlt sich von dem Tier angezogen, sucht immer wieder den Kontakt, heult ihm nach, versucht ihn sogar mit Fleisch anzulocken. Bis die Kontaktaufnahme irgendwann gelingt und Ania plötzlich beschließt, das wilde Tier in ihre kleine Wohnung zu bringen.

Warum sollte mich das interessieren?
Man sagt deutschen Filmen ja nicht selten nach, es mangele an Mut und Abwechslung, an echten Neuerungen und Wagnissen. Dieses Argument fällt bei „Wild“ flach. Will man unbedingt etwas Negatives finden, sortiert man „Wild“ vielleicht in die Ecke vertrackter Arthouse-Filme ein; Berliner Schule und all das. Doch nicht nur sind Filme dieser Sparte sehr häufig sehr sehenswert (aber wie in jeder Sparte natürlich nicht über einen Kamm zu scheren), auch ist „Wild“ selbst in dieser Gruppierung irgendwie anders. Nicolette Krebitz‘ Film ist vielleicht kein außer Kontrolle geratener Rausch aus Bildern und Tönen, doch der Titel ist ein passender Vorgeschmack auf Stil und Stimmung des Films. Mit einem bescheidenen Budget und überschaubarem Personal ausgestattet, agiert Krebitz dennoch am inszenatorischen Maximum. Das erinnert auf eine ganz eigene Art irgendwie an David Wnendts „Feuchtgebiete“ (2013), der bunter, greller, stärker stilisiert war, aber wie eben „Wild“ zu den wenigen wirklich inszenatorisch wagemutigen deutschen Filmen der 2010er Jahre gehört.

Die zentrale Handlungsprämisse schlägt wie eine Abrissbirne in den vermeintlich trostlosen Plattenbauschick der Anfangsminuten. Es ist eine Idee – in Konzept und Umsetzung – mit der man sich anfreunden muss, denn es führt kein Weg dran vorbei. Die junge Ania holt sich einen Wolf in die kleine schmucklose Wohnung. Dies ist erst ein logistisch spannendes Unterfangen und öffnet dann die Tür zum eigentlichen Kern des Films. Überhaupt haben Türen eine besondere Bedeutung in diesem Film; das Konzept von Ein- und Durchgängen, vom sprichwörtlichen Übergang in einen anderen (Lebens-)Raum, erstreckt sich auf gleich mehrere starke Motive. Anias zunehmend innige Beziehung zum Tier löst eine Veränderung in ihr aus. Plötzlich gibt sie sich härter, selbstbewusster, aggressiver, aber auch weniger gepflegt, weniger zivilisiert. Diese Veränderungen haben Auswirkungen auf ihren Berufsalltag und auf die Interaktion mit Ekel-Boss Boris, doch Regisseurin Krebitz ist damit noch lange nicht am Ziel. Es ist die selten gesehene Darstellung einer Verwahrlosung und Verwilderung nicht als Absturz, sondern als befreiender Ausbruch aus den Zivilisationszwängen des 21. Jahrhunderts. Und damit ein solcher konzeptioneller Spagat gelingt, braucht es insbesondere eine Hauptdarstellerin, die sich mit Haut und Haar dieser sonderbaren Rolle hingibt. Lilith Stangenberg gelingt es vorzüglich, die ungewöhnlichen Entscheidungen und Verhaltensweisen ihrer Figur glaubwürdig (statt nachvollziehbar) zu halten.

Als DVD/BD/VOD erhältlich.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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