Treasure Tuesday Spezialkritik: Im Reich der Sinne (1976)

14. April 2020, Christian Westhus

Zu Hause bleiben. Filme gucken. Zum Beispiel einen der ausgewählten Schätze, die wir wöchentlich beim Treasure Tuesday vorstellen. Vergessene Filme, unterschätzte Filme, alte Filme, fremdsprachige Filme. Filme, die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht. Auch in diesem einstigen Skandalfilm ziehen sich zwei Menschen ins Private zurück. Heute besprechen wir Nagisa Ōshimas „Im Reich der Sinne“ von 1976.

© Argos Film, Oshima Productions, Arthaus

Im Reich der Sinne
(Originaltitel: L’empire des sens / Ai no korīda, 愛のコリーダ | Frankreich, Japan 1976)
Regie: Nagisa Ōshima
Darsteller: Tatsuya Fuji, Eiko Matsuda

Was ist das für ein Film?
Einer der größten Skandalfilme überhaupt. Regisseur Nagisa Ōshima nahm sich der realen historischen und noch immer berüchtigten Geschichte um Abe Sada an, verlegte Produktion und Schnitt des Films schon extra nach Frankreich, um der japanischen Zensur zu entgehen. Dann die große Premiere auf der Berlinale 1976, wo der Film als Pornographie verschrien und von der deutschen Staatsanwaltschaft direkt nach der Uraufführung beschlagnahmt wurde. Es sollte zwei weitere Jahre dauern, bis der Film wieder freigegeben wurde. Warum das alles?

„Im Reich der Sinne“ ist die Geschichte der Prostituierten Abe Sada, die in den 1930er Jahren ins Geisha-Haus von Kichizō Ishida kommt. Ishida ist ein Schürzenjäger und Lustmolch, umgarnt Sada sofort. Beide beginnen eine Affäre, in der zunächst erwartungsgemäß Ishida das zunehmend auch gewaltvoll-lüsterne Treiben kontrolliert. Doch im Laufe der Zeit positioniert sich Sada als die eigentliche Machtperson, insbesondere dann, als Ishida sein voriges Privat- und Familienleben aufgibt, sich mit seiner Geliebten isoliert zurückzieht und abschottet, um in immer wildere und ungehemmtere sinnliche Begehren einzudringen. Nur auf einander fokussiert erforschen sie Grenzen aus Lust, Schmerz und die Welt jenseits aller Tabus.

© Argos Film, Oshima Productions, Arthaus

Warum sollte mich das interessieren?
Das Image als Skandalfilm ist für den geneigten Zuschauer immer gleichermaßen spannend wie kompliziert. Viele Skandale sind den Tabus und gesellschaftlichen Standards der Entstehungszeit des Films geschuldet. Jahre oder gar Jahrzehnte später kann das schon wieder anders aussehen. Man kann nicht erwarten, von einem fast 50 Jahre alten Film genauso geschockt oder empört zu sein, wie es die Zuschauer (auch da ja nun auch nicht alle) damals waren. Allein als Selbstexperiment und als kleiner filmhistorischer Ausflug ist so eine Konfrontation aber immer auch reizvoll und interessant. Und „Im Reich der Sinne“ hat darüber hinaus gar nicht so viel von seiner Exzentrik und Provokation eingebüßt. Es ist gar nicht mal der angeblich pornographische Inhalt, sondern die ungezügelte Direktheit und unvermittelte Präsentation, die man noch heute vergebens in regulären „Mainstreamfilmen“ sucht.

Davon ab ist die Geschichte der radikalen Isolation von Ishida/Sada und ihrer lüstern instinktgesteuerten Triebhaftigkeit enorm spannend, denn die Verschiebung charakterlicher Details kann sich so genauer vollziehen. Ein wirklich psychologisch dichter Film ist „Im Reich der Sinne“ dennoch nicht. Stattdessen ergründet Ōshima die ungezähmte Körperlichkeit und die unkontrollierbare Natur menschlicher Lust. Sobald sich Ishida und Sada gefunden und zurückgezogen haben, tritt ein eigentlicher Plot in den Hintergrund. Nur vage erfahren wir von kleineren und größeren Vorgängen außerhalb des Hauses, außerhalb der vier Wände, die die Liebenden als Zentrum ihrer Lustexistenz ausgemacht haben. Diese vagen Vorgänge sind keineswegs der springende Punkt, wohl aber eine treffende Ergänzung, wie weit sich Ishida und Sada in sich selbst und ineinander zurückgezogen haben.

Zudem ist „Im Reich der Sinne“ eine sehenswerte und eine der bekannteren Möglichkeiten, Regisseur Ōshima zu begegnen, dessen „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ (1983) mit David Bowie als britischer Soldat in japanischer Kriegsgefangenschaft ein kleiner Klassiker ist. Ōshima war in seiner Karriere immer schon jemand, der provozierte und Tabus zu überschreiten versuchte, wie im Brecht’schen Samuraidrama „Tod durch Erhängen“ (1968), seinem letzten Film „Tabu“ (1999), der von einem schwulen Samurai erzählt, und in der französischen Gesellschaftssatire „Max, mon amour“ (1986), in der Charlotte Rampling eine möglicherweise sexuelle Beziehung mit einem Schimpansen hat.

Dieser Film ist kauf- und leihbar bei folgenden Anbietern.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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