BG Kritik: „Gravity“

28. September 2019, Christian Westhus

Sandra Bullock geht im Weltall verloren: Als ihr Shuttle bei einer Außenmission im All von Trümmerteilen zerstört wird, müssen die zwei überlebenden Astronauten zusammenarbeiten, um im Weltraum zu überleben und einen Weg zurück auf die Erde zu finden.

Gravity
(USA, UK 2013)
Regie: Alfonso Cuarón
Darsteller: Sandra Bullock, George Clooney
Kinostart Deutschland: 03. Oktober 2013

(Diese Kritik erschien ursprünglich zum Kinostart des Films im Oktober 2013.)

Im Weltraum hört dich niemand schreien. Das wusste schon Sigourney Weaver und das muss nun auch Sandra Bullock lernen, die als Dr. Ryan Stone auf ihrer ersten Weltraummission ist und prompt in eine folgenschwere Katastrophe gerät. Für eine längere Zeit ist sie abgeschnitten von jeglichem Kontakt zu ihren Crewmitgliedern oder zur Bodenkontrolle in Houston. Stone trudelt hilflos durchs All, ohne Möglichkeit, ihre konstante Bewegung weiter weg von der Erde aufzuhalten oder abzubremsen. Eine beunruhigende Horrorvision und doch nur der Auftakt für Alfonso Cuaróns meisterhafte Adrenalin-Achterbahnfahrt durchs All. Mehr als vier Jahre lang arbeitete der Filmemacher an „Gravity“. Das Drehbuch entwickelte er mit seinem Sohn Jonás und nach einem langwierigen Castingprozess konnte man mit George Clooney und Sandra Bullock zwei der größten Namen Hollywoods verpflichten. Doch die größere Herausforderung war die Technik.

Cuarón ist kein Regisseur, der Herausforderungen scheut. Seit Beginn seiner Karriere probiert sich der Mexikaner immer wieder neu aus, lässt auf einen Kinderfilm („Die Traumprinzessin“) eine Literaturklassikeradaption („Große Erwartungen“) folgen, ehe auf das sexuell freizügige Roadmovie „Und mit deiner Mutter auch“ der dritte „Harry Potter“ folgte, bei dem Cuarón im rigiden Studio-/Franchise-System vermochte, dem Film seinen Stempel aufzudrücken. Sein bisher letzter Film, der Dystopie-Thriller „Children of Men“, war eine weitere Neuerfindung als Regisseur, die mit ungewöhnlichen und wagemutigen Kameratechniken für Furore sorgte. Das alles war nichts im Vergleich zur unfassbaren Ambition von „Gravity“. Ein Film, wie er bisher noch nicht gedreht wurde, der zum größten Teil im Computer entstand, mit Motion Capture Effekten, Kameras an Industrierobotern, Dreharbeiten in Wassertanks und ganz neu erfundenen Isolationskapseln, in denen Schwerelosigkeit simuliert werden sollte.

© Warner Bros

Das größte Kompliment für „Gravity“ ist, dass man dem Film zu keiner Zeit anmerkt, was für ein zeitintensiver Kraftakt, was für ein wagemutiger Schritt ins Ungewisse die Produktion war. Man spürt nur, dass man etwas Besonderes sieht. Kameramann Emmanuel Lubezki ist ein langjähriger Kollaborateur und Freund Cuaróns, der mittlerweile zu den gefragtesten Kameramännern der Welt gehört. Im Weltraum, wo es kein Oben und Unten gibt und im Prinzip (~) keine Gravitation, kann sich Lubezki austoben. Nie zuvor wurde der Weltraum derart wirkungsvoll und nachvollziehbar eingefangen. Der Film beginnt mit einer fast fünzehnminütigen Sequenz ohne Schnitt. In einem Rutsch sehen wir die Erde „unter“ uns, die Astronauten am Shuttle, die Arbeiten am Hubble Teleskop und geraten in die zerstörerische Welle der unkontrolliert kreisenden Trümmerteile. In halsbrecherischer Art und Weise kreist Lubezkis Kamera ums Shuttle, zwischen Astronauten, Haltestangen und technischem Gerät hindurch, kopfüber, hin und her, ehe die brachiale Zerstörung des Shuttles den ersten Akt abschließt. Ein mitreißendes Chaos das weiche Knie macht, präsentiert in unaufdringlich effektivem 3D, das nicht nur hervorragend aussieht, sondern endlich auch mal die Handlung bzw. den Schauplatz der Handlung unterstützt und sinnvoll erweitert.

Die weitere Odyssee von Dr. Stone und ihrem Kollegen Kowalski (Clooney) vollzieht sich in Wellen. Anspannung – Chaos – Verschnaufpause. Wieder und wieder. „Gravity“ ist ein Survival-Actionthriller der ungewöhnlichen Sorte. Die Musik von Steven Price dröhnt und scheppert, lässt die Anspannung steigen und ersetzt die konsequente Stille im All. Dialoge und Soundeffekte hören wir wenn überhaupt nur über die Mikrofone und Lautsprecher in den Raumanzügen, über Funk, während das Weltall stumm und unerbittlich bleibt. Der Film verschreibt sich einem suggerierten Realismus, der ungemein effektiv ist. Ob die weiteren Stationen des Überlebenskampfes, der sich insbesondere um Dr. Stone alleine dreht, wirklich realistisch sind, ist kaum relevant. Das ist eine Frage, die sich erst später stellt und selbst dann ist sie unwichtig. „Gravity“ zieht uns in seinen knapp 90 Minuten gnadenlos in seinen Bann und lässt uns mitfiebern – nur das zählt. Dass Dr. Stone als Figur und Bullocks Leistung als Schauspielerin bei all der inszenatorischen Finesse, bei einem so technischen Film dennoch spannend sind, dass Stones Motivation und ihre Hintergründe als Person faszinieren, ist ein weiteres Beispiel für die Leistung von Cuarón, Lubezki, Bullock und den Kollegen. Denn egal wie atemberaubend der Überlebenskampf im All auch inszeniert sein mag, die wirkliche Kraft der Bilder entwickelt sich nur richtig, wenn wir einer interessanten und lebendigen Figur folgen können. Und das können wir erstaunlich gut, mit wenigen geschickten Details und Bullocks wunderbarer Schauspielleistung.

Fazit:
Ein einzigartiger Adrenalinrausch im All. Mitreißend, spannend, endlos faszinierend und ganz nebenbei eine kleine technische Revolution.

8,5/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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